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Eigentlich sind wir schon längst Nachrichten von gestern. Oder, um genauer zu sein, Nachrichten von vor vier Monaten. Der tragische Fall der Familie Forster.

Seit dem Mord an Meggie gab es noch Hunderte weitere. Menschen wurden erstochen, erschossen und überfahren. Aber der Tod meiner Schwester hätte es wohl auch dann in die Schlagzeilen geschafft, wenn sie kein Fernsehstar gewesen wäre. Mr Bryant, mein Lehrer für Medienwissenschaft, hat gesagt, die Zeitungen interessieren sich vor allem für Mordopfer, die weiblich, hübsch und weiß sind, dabei sind die meisten Jugendlichen, die sterben, männlich, pickelig und schwarz.

Allerdings hat er sich mit solchen Aussagen zurückgehalten, seit Meggie gestorben ist.

Als unser Wagen abfährt, sehe ich zwei Reporter von den Lokalnachrichten vor unserem Haus. Ich habe ihnen immer auf dem Minifernseher in meinem Zimmer dabei zugesehen, wie sie direkt unter meinem Fenster standen und live berichteten. Bei ausgeschaltetem Ton konnte ich ihre Stimmen durch die Scheibe hören.

Ich mache die Augen zu, um alles auszublenden. Aber es funktioniert nicht, denn jetzt sehe ich nur noch diesen Computerbildschirm vor mir, mit diesem Datum. Das kann doch kein Zufall sein, oder?

»Ich hoffe bloß, dass niemandem deine Manschettenknöpfe auffallen, Glen.«

Mein Vater seufzt. »Wieso das denn?«

»Die sind viel zu glänzend. Zu fröhlich. Heute kommt es auf die kleinste Kleinigkeit an.«

Mums eigenes Outfit, ein brandneues graues Seidenkleid, ist natürlich genau richtig. Bevor Meggie gestorben ist, wäre sie über die Tatsache, Größe 40 tragen zu müssen, am Boden zerstört gewesen. Die alte Mum hat Yoga und Pilates und Body-Combat gemacht. Die neue Mum geht nur noch zur Trauerhilfe. Ihr Körper mag schwabbeliger sein, aber ihre Seele ist top gepflegt. Montagabends ist Gruppensitzung, mittwochnachmittags hat sie Einzelgespräche mit ihrem Therapeuten Olav, donnerstags gibt es offene Treffen und am Wochenende ist sie die ganze Zeit online und teilt ihre Gefühle mit anderen. In den Trauerforen ist sie eine richtige Berühmtheit.

Dad hat einen komplett anderen Weg eingeschlagen. Er will partout nicht mit zur Gruppentherapie, auch wenn Mum ihn dann endlich damit in Ruhe lassen würde, und sein Beerdigungsanzug hängt so schlabbrig an ihm runter, dass er darin aussieht wie ein Stadtstreicher. Seine Ernährung beschränkt sich mehr oder weniger auf Erdnüsse und Whisky. Er ist der starke, schweigsame Typ, wie ein Cowboy aus einem alten Western. Oder, na ja, ein Cowboy im Körper eines Rechtsanwalts.

Ich bin das Schweinchen in der Mitte. Und genau so fühle ich mich heute auch, in meiner glänzenden Strumpfhose, die viel zu warm ist für die spätsommerliche Hitzewelle, einem ziemlich omamäßigen schwarzen Rock und einer cremefarbenen Bluse mit Puffärmeln, die meine Mutter für mich ausgesucht hat. Schwitzend hocke ich zwischen meinen Eltern, herausgeputzt wie eine Fünfjährige auf dem Weg zu einer Geburtstagsparty, und muss die Hände unter die Oberschenkel klemmen, um nicht die Tür aufzureißen und aus dem Auto zu springen.

Als der Wagen vor der Kirche hält, bin ich schockiert über die riesige Menschenmenge, die dort wartet.

Ob Meggies Mörder auch hier ist?

Die Erste, die mir auffällt, ist Sahara, weil sie so groß ist. Sie hebt ihren muskulösen Arm zu einem halben Winken. Sahara hatte im Studentenwohnheim das Zimmer neben Meggie und jetzt entdecke ich auch ein paar der anderen Mädchen von meinen Besuchen an der Uni. Ich mustere ihre Gesichter, suche nach einem Ausdruck von Schuld. Oder Bösartigkeit.

Hat eine von euch meine Schwester getötet?

Am liebsten würde ich ihnen die Frage entgegenschreien, um zu sehen, wie sie darauf reagieren. Aber wäre das alles leichter zu ertragen, wenn ich die Wahrheit kennen würde?

Einige der Mädchen haben offensichtlich schon geweint. Saharas Freund ist der einzige Junge in der Runde. Wie heißt er noch gleich? Andrew? Aidan? Ja, wirklich ein einprägsamer Typ.

Tim ist nicht hier, natürlich nicht. Mum wollte ihm verbieten zu kommen, aber wie Dad richtig bemerkt hat, wäre er sowieso nicht aufgetaucht. Er meinte, Tim sei der Typ Mensch, der einfach wisse, dass das nicht richtig wäre. Woraufhin Mum nur missbilligend mit der Zunge geschnalzt und etwas gemurmelt hat wie: »Und der Typ Mensch, der seine Freundin ermordet und damit davonkommt.«

Aber dass er sie getötet haben soll, glaube ich keine Sekunde lang. Und ich weiß, dass er heute an uns denken wird. An Meggie.

Links von Sahara stehen noch mehr Leute, die Studenten sein könnten, aber ich kenne keinen von ihnen. Also was zum Teufel wollen die hier? Doch ihre glasigen Augen, schlaff herunterhängenden Kiefer und die Art, wie sie mich anstarren, verraten es mir. Das sind die Leute, die ständig im Internet rumhängen und Kommentare zu Meggies YouTube-Clips und in den Sing for your Supper-Fanforen posten, rumjammern, wie sehr sie ihnen fehlt und wie sehr sie sie geliebt haben, und behaupten, sie sei ihre beste Freundin gewesen.

Nach nur einer Staffel dieser beschissenen Castingshow glauben diese Idioten, Meggie wäre ein Teil ihres Lebens gewesen und sie hätten irgendeinen Anspruch auf sie.

Aber bedeutet das, dass einer von ihnen sie getötet hat?

Dad meint, das seien nur harmlose Irre, aber woher wussten sie dann, was heute hier in der Kirche passieren würde? Vielleicht gibt es ja eine spezielle Website für Leute, denen beim Thema Tod einer abgeht.

Oder eine Website für Leute, die sich für ihre toten Idole ausgeben?

Vielleicht sehe ich gerade der Person in die Augen, die Meggies Account gehackt und mir diese Mail geschickt hat. Mir ist schlecht.

Wir steigen aus dem Wagen und Mum wird sofort von einem Knäuel Menschen verschluckt. Ihre Trauerkameraden. Fünf Frauen und ein großer blonder Mann mit dem Schmollmund eines Supermodels und einem Gesicht wie frisch retuschiert. Mir ist sofort klar, dass das Olav sein muss, der Experte für Schmerz und Verlust.

Robbie und Cara stehen am Kircheneingang. Sie sind immer für mich da. In einem Paralleluniversum, in dem das Einzige, was ich mit dem 10. 05. 12 verbinde, mein sechzehnter Geburtstag ist, würde ich Robbie noch als meinen Freund bezeichnen und Cara als meine beste Freundin und wir würden alle drei zusammen planen, an welcher Uni wir uns bewerben, und spekulieren, ob unsere Eltern uns wohl zusammen in den Urlaub fahren lassen. Aber jetzt …

Sie umarmen mich, erst Cara, dann Robbie. Cara sieht aus wie immer – sie hat gerade so eine Phase, in der sie nur Schwarz trägt, sogar am Strand –, aber Robbie, der eigentlich ein absoluter Jeans-und-T-Shirt-Typ ist, sieht in seinem Anzug so viel erwachsener und ernsthafter aus und, ja, irgendwie auch ziemlich sexy. Nur leider weiß ich nicht mehr, ob ich auf diese Weise noch für ihn empfinde.

Dad wirkt verloren. Für ihn ist niemand gekommen.

Nach dem klimatisierten Auto ist es heiß draußen und dann wird es wieder kühl, als wir die dunkle Kirche betreten. Ich fühle mich, als hätte ich Fieber.

Oh Gott.

Das kann doch nicht sie sein, dort in dem Sarg vor mir. Einer nach dem anderen nehmen wir in der ersten Reihe Platz; ich starre auf meine Hände. Alles, nur nicht hinsehen. Meggie ist bei uns, aber gleichzeitig auch wieder nicht. Und sie ist definitiv, mit hundertprozentiger Sicherheit nicht mehr dazu in der Lage, mir zu rätselhaft bedeutungsvollen Uhrzeiten leere E-Mails zu schicken.

Die dröhnende Stimme des Pfarrers füllt die ganze Kirche mit Worten über meine Schwester, ein Mädchen, das er nicht gekannt hat und niemals kennenlernen wird.

»Der heutige Tag ist ein Tag der Trauer, aber auch der Dankbarkeit für das Leben von Megan Sophie London Forster. Die lange Wartezeit, bis Megan zur Ruhe gebettet werden konnte, war schwer zu ertragen für diejenigen, die sie geliebt haben, ganz besonders für Beatrice, ihre Mutter, Glen, ihren Vater, und Alice, ihre Schwester …«

Um mich herum fangen die Leute an zu singen. Sahara schmettert drauflos, genau wie die meisten der Stalker. Aber Kirchenlieder haben Meggie nie etwas bedeutet. Selbst Amazing Grace, der Song, der ihre Fernsehkarriere ins Rollen gebracht hat, war nicht ihre eigene Wahl. Sie mochte im Grunde nur weibliche Solosängerinnen mit ähnlich kraftvollen Stimmen, wie ihre eigene es war. Das hier hätte sie schrecklich gefunden.

Ich denke an sie, wie sie dort unter dem Sargdeckel liegt. Ich weiß, sie trägt Stilettos und ihr zweitliebstes Kleid, das mit den großen handgemalten Mohnblumen drauf. Das seidene weiße Wickelkleid, fließend wie Quellwasser, das sie eigentlich am liebsten mochte, konnten sie ihr nicht anziehen, weil sie darin gefunden wurde. Es ist ein Beweisstück.

Ich dachte immer, Särge wären so massig wie Landrover, um ihre Passagiere sicher ins Jenseits zu bringen. Aber ihrer ist schmal und schnittig, mit Chromgriffen, die nicht robuster wirken als die Riemchen an ihren Stilettos.

In diesem Moment verlässt mich meine Tapferkeit. Und ich fange an zu weinen.

Ich kann das nicht. Ich kann nicht zusehen, wie sie begraben wird.

Es ist das Schlimmste, was ihr passieren konnte. Sie hat die Dunkelheit gehasst, genau wie enge Räume, und was die Erde angeht … meine Schwester hat früher noch nicht mal Sandburgen gebaut, weil sie keinen Dreck unter die Fingernägel bekommen wollte.

Also renne ich nach Hause – zwei Meilen durch die Seitengassen, um niemandem zu begegnen, den ich kenne. Die ganze Zeit versuche ich die Vorstellung aus meinen Gedanken zu verbannen, wie sie in ihrem Grab liegt, die Hände in das schwere Erdreich über sich krallt und nach Luft ringt, aber stattdessen immer mehr Dreck ihre Lunge füllt.

Hat es sich so angefühlt, als der Mörder ihr das Kissen aufs Gesicht drückte?

Meine Hand zittert dermaßen heftig, dass ich den Schlüssel kaum ins Schloss bekomme, und mein Atem geht laut und schmerzhaft.

In meinem Zimmer angelangt, schäle ich mich aus den verschwitzten Kleidern, aber meine Haut riecht noch immer nach Kirche, nach Weihrauch. Nach Tod.

Mit einem Mal kommt mir mein Computer bedrohlich vor. Ich fahre ihn hoch, halb in der Erwartung, mir diese E-Mail nur eingebildet zu haben. Und halb in der Hoffnung, dass ich eine weitere finde.

Aber als ich mich einlogge, ist alles unverändert. Die Mail ist noch da, aber sonst nichts.

Ich starre darauf, falls dort irgendwo ein Bild sein sollte, verborgen in den Pixeln, aber nichts ändert sich. Noch nicht mal die Zeit: 10 : 05 : 12.

Vier Monate und fünf Tage, seit sie uns verlassen hat.

Ich öffne eine neue Mail und beginne zu schreiben.

Von: [email protected]

An: [email protected]

Meine liebste Schwester,

Nein. Das ist der vollkommen falsche Start. So rührselig habe ich nie mit ihr gesprochen, und obwohl sie das hier niemals lesen wird, würde sie mich wahrscheinlich auslachen oder endgültig für verrückt erklären, wenn ich jetzt damit anfinge.

Ich lösche die erste Zeile und versuche es noch mal anders.

Megster!

Schon besser. Das ist einer der ungefähr tausend Spitznamen, die ich für sie hatte.

Wo warst du, Schwesterherz? Du hast alles verpasst. Deine eigene Beerdigung. Und die Musik erst, grauenhaft. Wahrscheinlich drehst du dich gerade im Grab rum, was?

Diese Redewendung habe ich noch nie zuvor benutzt.

Ich hoffe, dir geht’s gut. In deinem Grab. Mann, klingt das komisch. Tut mir echt leid, dass ich nicht dageblieben bin, um Erde reinzuschaufeln oder was man da auch immer macht. Ich konnte einfach nicht.

Erde. Allein das Wort lässt mich schon wieder ganz flach atmen.

Schätze mal, wenn du … noch hier bist, auf irgendeine Art, dann hast du mich auch in der Kirche gesehen. Das tut mir auch leid. Ich weiß ja, du kannst Heulsusen nicht leiden.

Ich habe versucht, sie davon zu überzeugen, dich nicht zu begraben. Ich fand, wir sollten deine Asche an einem Ort verstreuen, an dem du gerne warst, zum Beispiel auf Korfu am Strand, aber die Polizei meinte, du müsstest beerdigt werden, für den Fall, dass …

Ich halte inne. Interessiert sich eine Tote überhaupt für das Schicksal ihres Körpers oder lässt sie ihn einfach hinter sich, wie ein Primark-Top aus der letzten Kollektion?

Na ja, lassen wir das. Jedenfalls war das ein ganz schöner Aufmarsch vor der Kirche, Meggie. So viele Leute haben dich lieb gehabt, auch wenn ich dich noch viel lieber hatte als die alle zusammen. Das wusstest du doch, oder? Auch wenn wir es uns nicht oft genug gesagt haben.

Tja, dann sage ich es eben jetzt. Ich hab dich lieb,

deine kleine Schwester xxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxx

Ich lese mir die E-Mail noch mal durch. Vielleicht sollte ich ihr alles erzählen, was passiert ist, seit sie nicht mehr da ist: von dem Schweigen zu Hause, dem ihr gewidmeten Song, dem Besser-als-erwartet-unter-den-Umständen-Ergebnis meines Abschlusstests, meinem Rückfall beim Nägelkauen.

Aber wenn sie aus dem Himmel auf uns runtersieht, weiß sie das sowieso alles. Vielmehr muss sie erfahren, was wirklich wichtig ist, und jetzt, nachdem ich es ihr gesagt habe, fühle ich mich schon viel besser. Okay, wenn diese leere Mail tatsächlich von so einem bescheuerten, kranken Fan war, der ihren Account gehackt hat, dann habe ich ihm wohl mehr Drama geliefert, als er sich je erträumt hätte. Aber wen interessiert’s? Wenn es auch nur die geringste Chance gibt, dass Meggie mich hört – selbst wenn die Chance winziger ist als die, Außerirdische auf dem Mars oder ein Heilmittel für Krebs zu finden –, dann ist es das Risiko wert, dass irgend so ein armseliger Loser, der auf tote Mädchen steht, erfährt, was in mir vorgeht.

Ich klicke auf Senden.