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Die Vorstellung, dass der Himmel von amerikanischen Softwareentwickler-Nerds verwaltet wird, bringt mich zum Lächeln, trotz der Furcht, die mich erfüllt, während ich gebannt auf den Bildschirm starre. Die Furcht, dass das alles tatsächlich echt sein könnte. Oder, schlimmer noch, dass es das nicht ist.

Ich klicke auf Ja, obwohl ich weiß, dass ich damit wem oder was auch immer die komplette Kontrolle über meinen Laptop, wie auch über meine Gefühle, überlasse. Dann halte ich den Atem an.

Stück für Stück erscheint der Strand vor mir, so als würde ich durch frühmorgendlichen Nebel wandern, der sich bei jedem Schritt ein bisschen mehr auflöst.

Bevor ich den Ort auch nur sehe, kann ich ihn spüren, wie elektrische Spannung, die durch meinen Körper fließt. Einen Moment lang ist das Gefühl beinahe beängstigend greifbar, fast lähmend, dann aber wird mir ganz warm und kribbelig zumute, als wäre mein Blut gegen Champagner ausgetauscht worden.

Ich blinzele und der Nebel ist verschwunden und dann sehe ich ihn – den Strand. Den Strand von meinem Desktop. Die Farben sind jetzt noch überwältigender: Jedes einzelne Sandkorn strahlt in einer ganz leicht unterschiedlichen Schattierung von Gold, so realistisch, dass sie beim Gehen unter meinen Füßen nachzugeben scheinen. Und das türkise Leuchten des Meeres, gekrönt von weißem Schaum, ist wie kühler Balsam für meine Augen. Die Wellen rollen an den Strand und klingen ganz anders als das künstliche Rauschen von Mums Entspannungs-CDs. Diese Wellen hier sind zu echt, um entspannend zu wirken, mächtig und wild, als wüssten sie ganz genau, wie viel Kraft in ihnen steckt.

Und jetzt begreife ich. Das hier sind die Geräusche, die ich für meine eigene Wut gehalten hatte, für Blut, das in meinen Ohren rauscht. Wieso ist mir das bloß nicht eher aufgefallen?

Mithilfe meiner Maus gehe ich den Strand entlang. Die Bewegungen sind so flüssig wie in einem Traum. Ich suche den Horizont nach Menschen ab, aber die Postkartenidylle wird durch nichts unterbrochen, nur hin und wieder ein paar kleine Bambushütten auf Pfählen und in der Ferne etwas, das aussieht wie eine verlassene Strandbar mit Palmblätterdach. Die Bucht wird von schroffen, mit grünem Strauchwerk bewachsenen Felsen begrenzt, die steil aufragen und die Landschaft vor allem schützen, was sie zerstören könnte.

Noch nie bin ich an einem so atemberaubenden Ort gewesen. Ich könnte mich einfach hinlegen und spüren, wie sich der warme Sand an meinen Körper schmiegt, wie die beruhigenden Strahlen der Sonne mein Gesicht streicheln …

Dann fällt mir wieder ein, dass ich ja nach Meggie suche.

Ärger verdrängt den Taumel aus Freude und Zufriedenheit. Das war seit Mai das erste Mal, dass ich ihren Tod vergessen habe. Bisher habe ich, glaube ich, selbst im Schlaf unablässig daran gedacht.

Wie konnte ich es also jetzt vergessen?

Ich bin wütend auf mich selbst, weil ich so oberflächlich bin, und auf diesen Ort, dass er mich überhaupt so weit gebracht hat.

»Was soll das? Was soll ich hier auf dieser verdammten einsamen Insel? Ich will Meggie sehen«, platzt es aus mir heraus.

Ich schaue mich um. Mein Gott, ich sitze in meinem Zimmer und schreie meinen Computer an. Jetzt habe ich wohl wirklich nicht mehr alle Tassen im Schrank. Oder vielleicht war das schon von dem Moment an so, als ich anfing zu glauben, meine Schwester wäre gar nicht tot.

Die Enttäuschung bricht in Wellen über mich herein, jäher und stürmischer als die auf dem Bildschirm. Ich bin am Boden zerstört. Ich wollte so sehr an das hier glauben, weil ich an nichts anderes mehr glauben kann. Aber das Ganze ist nichts als ein schlechter Scherz mit Tropenkulisse.

Ich versuche, die Seite zu schließen, aber egal, wohin ich die Maus bewege, ich finde das kleine x in der rechten oberen Ecke nicht und noch nicht mal ein Menü, um auf diese Weise hier wegzukommen. Je aufgeregter ich werde, desto weniger Einfluss scheine ich auf die Bilder vor mir ausüben zu können. Die Wellen plätschern noch immer an den Strand, die Sonne glitzert auf dem Wasser, der Sand fühlt sich warm an zwischen meinen Zehen.

Warm?

Ich sehe hinunter zu meinen Füßen. Sie stehen auf meinem IKEA-Teppich.

Jetzt ist der Bildschirm wie eingefroren. Ich sehe nur noch Hellbraun. Ist die Seite abgestürzt?

Als ich die Maus bewege, kehrt das Blau zurück.

Aha. Wie es aussieht, war ich in den Sand gefallen, mit dem Gesicht voran.

Als ich mich wieder aufrappele, erscheint am Rand meines Blickfelds eine Staubwolke. Schnell presse ich die Lippen aufeinander, damit ich nichts davon in den Mund bekomme.

Äh, klar. Weil man sich über virtuellen Sand auch ernsthafte Sorgen machen muss, ganz im Gegensatz zu galoppierendem Irrsinn.

Ich laufe weiter und suche nach einem Ausweg. Mit einem Mal fühle ich mich wie erstickt von all dieser Perfektion. Das hier ist nicht der Himmel. Vielleicht ist es die Hölle. Oder ein Virus, der meinen Computer infiziert hat: der Club-Tropicana-Virus. Dad flippt aus, wenn dieses Ding meine Festplatte schrottet. Den Laptop habe ich ja gerade erst zum Geburtstag bekommen.

Mein Geburtstag. Meggies Todestag.

»Das kann ich jetzt echt nicht gebrauchen, absolut nicht«, sage ich und merke, dass ich weine. »Nicht noch zusätzlich zu all dem anderen Mist.«

Das Rauschen der Wellen verändert sich.

Nein.

Das kann nicht sein.

Ich halte mein Ohr an den miesen Lautsprecher meines Laptops und dann höre ich es richtig. Irgendwo unter den Wellen ist eine Stimme. Leise. Ängstlich. Kaum wahrnehmbar. Aber sie ist da.

»Florrie? Bist du das endlich? Oh bitte, du musst es einfach sein …«