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Die Nachricht von Tims Freilassung geistert durch die ganze Schule.

Schon als ich durch das Tor gehe, spüre ich, wie mich alle anstarren, und als ich das Gebäude erreiche, habe ich so viel Aufmerksamkeit auf mich gezogen, dass ich rasch nachsehe, ob ich nicht vielleicht vergessen habe, meine Jeans anzuziehen.

»Alice!« Cara drängt sich durch den überfüllten Gang und umarmt mich. Ich winde mich los, obwohl ich mich an ihrer Seite weniger beobachtet fühle. »Ich habe das mit Tim gehört. Du brauchst doch jetzt sicher einen Kaffee.«

»Ich bin aber jetzt schon spät dran.«

»Ach, scheiß drauf, heute lassen dir die Lehrer sowieso alles durchgehen. Das solltest du ausnutzen, Süße.«

Bevor ich protestieren kann, schleift sie mich mit in den Aufenthaltsraum, der leer ist, weil alle, die so früh auf sind, Unterricht haben. Cara macht mir einen Kaffee. Als ich einen Schluck davon trinke, schmeckt er nach Schnaps.

»Igitt!«

»Rein medizinisch«, erklärt sie. Caras Mutter besitzt eine dieser Hausbars, in der die Drinks nie ausgehen. »Und außerdem haben wir gleich Geschichte. Um das zu überstehen, brauche ich schon an einem normalen Tag was zur Stärkung.«

Ich trinke noch einen Schluck. »Ich weiß die Unterstützung wirklich zu schätzen, aber das schmeckt einfach nur widerlich.«

Cara schnuppert an ihrer Tasse, probiert und zieht eine Grimasse. »Mist, hast recht. Tja, dann sind wir wohl doch noch nicht komplett dem Alkohol verfallen, was?« Sie schnappt sich die Tassen, marschiert zur Spüle und kippt den Inhalt in den Ausguss.

Dann setzt sie sich wieder hin und kramt eine Schachtel Schokokekse aus ihrer Tasche. »Plan B.« Sie stapelt den Inhalt zu einem großen Haufen vor mir auf dem Tisch auf. »Der schiefe Turm von Schokosa. Wir dürfen erst zu Geschichte, wenn wir alle aufgegessen haben, okay?«

Ich nicke.

»Meinst du immer noch, Tim ist unschuldig?«, fragt sie.

Ich drehe den Spieß um. »Und du?«

Sie zuckt mit den Schultern. »Er ist mir jedenfalls nie wie ein Mörder vorgekommen, aber ich bin zugegebenermaßen auch nicht die weltgrößte Expertin, was den Charakter von Männern angeht. Eigentlich fand ich ihn eher langweilig. Vielleicht ist er ja insgeheim furchtbar jähzornig und keiner von uns hat es mitgekriegt. Immerhin hat er ja mehr oder weniger rote Haare, oder? Es heißt ja immer, das sind die Schlimmsten. Vielleicht hat er es getan, ohne es zu wollen.«

Nein. Nicht Tim. »Vielleicht.«

»Du klingst ja nicht gerade überzeugt. Hast du etwa jemand anderen im Verdacht?«

»Nur, weil ich ihre Schwester bin, heißt das noch lange nicht, dass ich weiß, wer sie getötet hat, Cara. Ich hab keinen sechsten Sinn oder so was.«

Sie seufzt. »’tschuldige.«

»Es ist nur … Alle denken bloß daran, wenn sie mich sehen. ›Ach, guck mal, da ist Alice. Oh, ist das nicht schrecklich, was da passiert ist? Die arme Meggie, sie war ja so talentiert.‹ Als wäre das nicht schon schlimm genug gewesen, als sie noch am Leben war – ›Komm, sing uns was vor, Meggie. Alice, du kannst ja dazu tanzen‹ –, aber jetzt ist es einfach unerträglich.« Und dann wird mir klar, wie das klingen muss. »Oh Gott. Bin ich ein Biest.«

Cara nickt und isst einen halben Keks, bevor sie etwas sagt. »Ich hab nur gefragt, weil du letztens im Pub noch gesagt hast, wie sehr es dich wurmt, dass niemand mehr über Meggie redet.«

»Oh.« Da hat sie recht. »Tut mir leid.«

»Nein, mir tut’s leid. Das heute ist eine Ausnahme, Alice. Klar, es wird immer solche Gelegenheiten geben, bei denen die Leute an nichts anderes denken können. Aber wenn Tim es wirklich war, dann werden sie ihn früher oder später kriegen. Und dann kommt er ins Gefängnis und du kannst wieder ein ganz normales Leben führen. Dabei fällt mir ein, hast du dich jetzt schon an irgendeiner Uni beworben?«

Ich nehme mir auch einen Keks. Ich habe nicht gefrühstückt und so langsam wird mir etwas flau im Magen. Aber der Keks schmeckt wie Pappe. »Nein. Vielleicht sollte ich einfach nach Greenwich gehen, wie Meggie.«

»Damit du noch mehr Paranoia schieben kannst, weil du meinst, die Leute denken dauernd an deine Schwester?« Cara schüttelt den Kopf und steht dann auf. »Manchmal stehst du dir echt selbst im Weg. Ich komme damit klar, ich bin deine beste Freundin. Aber das ist nicht bei jedem so …«

»Hat irgendwer was zu dir gesagt?« Ich frage mich, ob sie wohl Robbie meint. »Etwa Robbie?«

»Nein. Dafür ist er dir viel zu treu ergeben. Aber das bedeutet nicht, dass er nicht manchmal angepisst ist, Alice. Und glaub ja keine Sekunde lang, dass die Sache mit Megan andere Mädchen davon abhält, ihre Krallen in ihn zu schlagen. Ich hab so was gehört von wegen, die Jagd auf ihn sei wieder eröffnet, weil du ihn ja so mies behandelst.«

Sie wartet meine Reaktion ab. Ich fühle rein gar nichts. »Danke für die Warnung, Cara.« Ich stehe auf. »Wenn wir jetzt nicht zu Geschichte gehen, können wir’s auch gleich ganz sein lassen.«

Sie greift nach meiner Hand. »Verlass mich nicht, Alice. Bitte. Ich habe das Gefühl, als würdest du mir entgleiten.«

Ich starre sie an. »Sei nicht bescheuert, Cara. Ich hab schon genug am Hals, auch ohne dass du so einen theatralischen Quatsch von dir gibst.« Dann stürme ich aus dem Aufenthaltsraum, seltsam aufgedreht durch den Zucker. Sie hat recht, das weiß ich. Dass ich Robbie an irgend so eine aufdringliche Tussi aus der Stufe unter uns verlieren werde. Aber ich glaube, es macht mir nicht mehr genug aus, um es zu verhindern.

Irgendwie schaffe ich es, die Schule zu überstehen, das Getuschel zu ignorieren, und dann gehe ich nach Hause.

Der Himmel ist heute so grau, dass er direkt ins Straßenpflaster überzugehen scheint, und die feuchte Luft pappt mir das Haar in den Nacken. Ich sehne mich nach Farben, nach dem Blau und Gold von Soul Beach, nach Sonne und salzigen Meeresbrisen, die alles Ekelhafte, Klebrige davonwehen. Wenn das nicht tatsächlich der Himmel ist, dann ist es zumindest verdammt nah dran. Plötzlich bin ich genervt von Meggie. Was ist bitte schön so schlimm an ewiger Glückseligkeit?

Okay, allzu viel Gutes wird einem vielleicht auch irgendwann langweilig, aber wenn man die Wahl zwischen dem Fegefeuer und einem tropischen Paradies hätte, würden die meisten von uns wohl nicht lange überlegen. Typisch Meggie, immer was zu meckern.

Da, jetzt ist es heraus. Meggie konnte manchmal eine ziemliche Nörglerin sein.

Der Tod bügelt die Charakterschwächen der Leute aus. Meggie war schön und talentiert, großzügig und witzig. Niemand konnte ihrem Charme widerstehen. Das ist der Teil, über den wir reden dürfen. Aber sie konnte auch launisch sein. Und selbstsüchtig. Und herablassend. Manchmal sogar richtig lieblos. Sie war eben auch nur ein Mensch, aber jetzt, da sie tot ist, wird sie zur Heiligen hochstilisiert.

Mum hat sich nicht mit mir hingesetzt und gesagt: Über Tote soll man nicht schlecht reden. Das passierte ganz von allein. Erst jetzt, da ich sie wiederhabe, kann ich zugeben, wie nervtötend sie manchmal sein konnte, wenn sie ausnahmsweise mal nicht im Mittelpunkt stand.

Fühlt sie sich deswegen so unwohl am Soul Beach? Hier auf der Erde haben ihre Stimme und ihre Schönheit sie zu etwas Besonderem gemacht. Das war schon vor Sing for Your Supper so. Aber jetzt ist sie bloß ein hübsches Gesicht in einem Ozean von vielen. Und ich habe die anderen Kids am Strand jammern hören – am Soul Beach singt niemand schief.

Jetzt merkt sie mal, wie es ist, ich zu sein.

Nein, das ist nicht fair. Ich habe eine Zukunft und sie nicht. Ich kann überhaupt nicht nachvollziehen, wie sie sich fühlt. Aber ist es dann nicht die schiere Folter für sie, wenn ich zum Soul Beach komme? Meine Anwesenheit erinnert sie doch nur an ihr altes Leben. Vielleicht fragt sie sich sogar manchmal, warum es sie treffen musste und nicht mich. Gott weiß, ich habe mich das am Anfang oft genug selbst gefragt.

Vielleicht ist das ja der Grund, warum die Besucher irgendwann nicht mehr zum Soul Beach kommen. Nicht, weil es den Lebenden langweilig würde, mit den Toten rumzuhängen. Sondern weil ihnen irgendwann klar wird, dass die Toten nicht ständig an das erinnert werden wollen, was sie verloren haben.