21

»Und? Wie findest du sie?«, fragt Meggie, nachdem Danny in der Menge verschwunden ist.

»Sie sind … interessant«, antworte ich vorsichtig. Tatsächlich kommt mir Javier wie der absolute Egozentriker vor und Triti wirkt so nichtssagend, dass es fast scheint, als wäre sie hinter ihrer riesigen Oberweite und der ebenso riesigen Kette gar nicht vorhanden. Nur bei Danny habe ich das Gefühl, dass es interessant sein könnte, sich mit ihm zu unterhalten. Aber das erzähle ich Meggie nicht, denn ich weiß genau, meine Schwester wird selbst den winzigsten Hinweis darauf, dass ich Danny nett finde, als Zeichen dafür deuten, dass ich unsterblich – haha – in ihn verknallt bin, und mich ewig damit aufziehen. Wie sie es damals auch bei Tim gemacht hat.

Tim. Mich überläuft ein Schauder. Ich hatte ganz vergessen, was in der echten Welt los ist. Wie konnte das nur passieren?

»Sie sind total cool, wenn man sie erst ein bisschen besser kennt«, sagt Meggie. »Vielleicht hast du nicht gerade den besten Zeitpunkt erwischt. Manchmal ist es einfach hart. Wir sind wie eine Familie … eine riesige, echt kaputte Familie. Aber wir sind alles, was wir haben.« Sie flüstert: »Wie geht es Mum und Dad?«

Ich wette, die beiden streiten sich immer noch in der Küche, beschließe aber, dass es nicht richtig wäre, ihr das zu erzählen, und auch nicht den Grund dafür, so gern ich diese Last auch loswürde. Ich denke mal, Meggie hat genügend eigene Lasten zu tragen. »Ihnen geht’s … gut. Na ja, nicht direkt gut, nach allem, was passiert ist, aber sie kommen klar, jeder auf seine Weise.«

Sie wirft mir einen seltsamen Blick zu. Mit Lügen bin ich bei meiner Schwester noch nie durchgekommen, aber sie hakt nicht nach. Stattdessen faltet sie die Hände, fast, als wollte sie beten.

»Du lässt mich doch nicht im Stich, oder, Florrie? Du verlierst nicht das Interesse an mir. Nicht wie die Besucher der anderen?«

Ich lächele, weil ich mir nicht mal vorstellen kann, den Strand, oder sie, jemals verlassen zu wollen. »Nein. Außerdem bist du der unterhaltsamste Mensch, den ich kenne. Wir haben doch immer was zum Quatschen … Liebe zum Beispiel. Und Musik.« Ich zögere, als mir klar wird, dass wir nur über Songs reden können, die vor ihrem Tod erschienen sind. »Und Theaterstücke und Bücher und … na ja, lauter anderes Zeug eben.«

Sie lacht, doch es wirkt nicht ehrlich. »Die Ewigkeit kann einem verdammt lang werden, Florrie. Da müssen wir uns schon eine Menge Smalltalk einfallen lassen.«

Ich weiß nicht, wie ich darauf reagieren soll.

Sie lächelt. »Du siehst wieder ganz schön müde aus. Vielleicht solltest du jetzt gehen, ich will nicht, dass du meinetwegen irgendwelche Klausuren verhaust. Aber morgen kommst du wieder, ja? Dann kannst du mir von der Schule erzählen und was im Fernsehen läuft und, was weiß ich, über die Klamotten, die du dir in letzter Zeit gekauft hast, und auf welche Uni du gehen willst und … das hätte ich beinahe vergessen. Erzähl mir vom Garten.«

»Vom Garten? Von unserem Garten zu Hause? Wenn du so einen Ausblick vor der Nase hast?« Ich gestikuliere in Richtung des wunderschönen Strandes.

»Es ist dir noch nicht aufgefallen, oder? Spitz mal die Ohren.«

Ich lausche. Wie zuvor höre ich die Wellen und das Geplauder der Leute. »Was genau soll ich denn hören, Meggie?«

»Gar nichts. Das ist es ja. Außer den künstlichen Wellen und den künstlichen Bäumen gibt es hier nichts außer uns. Kein anderes Lebewesen. Keine Fische, keine Insekten, keine Vögel. Es ist, als wäre demjenigen, der das Ganze entworfen hat, am Ende die Zeit ausgegangen.«

»Das ist es also, deswegen kam mir das alles so komisch vor.« Mit einem Mal wirkt dieser wunderschöne Ort ein klein wenig düsterer.

Meggie nickt und ich merke, dass sie kurz davor ist, in Tränen auszubrechen. »Ach, Florrie«, murmelt sie ganz leise. »Ich hätte nie gedacht, dass mir das verdammte Gekreische von Möwen mal so fehlen würde.«

Was kann ich dazu sagen? Ich sehe ihr ins Gesicht, versuche mir jedes Detail einzuprägen, nur für den Fall, dass dies das letzte Mal ist. Je mehr ich über Soul Beach erfahre, desto größere Angst habe ich, dass ich mich hier auf gar nichts verlassen kann.

»Es tut mir so leid, Meggie. Ich wünschte, ich könnte irgendwas tun, damit es dir besser geht.«

»Mir geht’s schon allein dadurch besser, dass du hier bist, Florrie. Glaub mir.«

Ich nicke. »Danke, dass du das gesagt hast. Das bedeutet mir eine Menge.«

»Träum süß von sauren Gurken«, sagt sie und ich klicke schnell auf Ausloggen, damit sie mich nicht weinen sieht.

Aber dann, bevor sie verschwindet, sehe ich ihre Augen. Die Iris sind leuchtend blau, aber das Weiße ist nicht mehr weiß, sondern aggressiv blutrot. Dann breitet sich die Farbe über ihr gesamtes Gesicht aus, als ertränke sie in Blut. Es ist so grauenhaft, dass ich die Augen zumachen muss. Als ich sie wieder öffne, ist der Strand verschwunden und ich bleibe schwitzend und zitternd zurück. Ich versuche krampfhaft, mich an meine schöne Schwester zu erinnern, aber wenn ich die Augen wieder schließe, ist alles, was ich sehe, eine Meggie mit purpurroter Haut, die verzweifelt nach Luft ringt.