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»Du bist irgendwie anders.« Cara fängt mich in der Pause vor dem Klo ab.

»Ach ja? Inwiefern?« Anders? Anders beschreibt es nicht mal annähernd. Meine ganze Welt steht kopf.

»Tja, also erstens habe ich dich im Unterricht tatsächlich mal lächeln sehen, was so ziemlich seit Jahren nicht mehr vorgekommen ist. Und außerdem summst du andauernd vor dich hin.«

»Tu ich das?« Alles kommt mir auf einmal so wunderschön vor, auch wenn Danny niemals hier bei mir sein kann. Trotz der Distanz zwischen uns dudeln in meinem Kopf Liebeslieder, weil es irgendwo einen Menschen gibt, der mich mehr braucht als alles andere, und ich ihn genauso. »Tut mir leid. Ich weiß, wie nervig das ist, Mum macht es auch immer.«

»Und da ich deine beste Freundin und Vertraute Nummer eins bin, hättest du es mir selbstverständlich erzählt, wenn du einen Typen kennengelernt hättest oder so was, richtig?«

Ich spüre, wie ich rot werde. »Ich? Wenn man dir glaubt, verbringe ich doch mein ganzes Leben damit, mich in meinem Zimmer zu verschanzen und Depri-Musik zu hören.« Ich lächle, um zu zeigen, dass ich es nicht so ernst meine.

»Ach ja, stimmt.« Cara grinst reuig. »Aber vielleicht hast du ja zufällig online den passenden Depri-Kerl gefunden?«

»Kann schon sein.«

»Na, sieh mal einer an, die kleine Miss Geheimnisvoll.« Sie mustert mich. »Soll das etwa heißen, du kommst zu uns zurück, Alice? Ich glaube nämlich, das würde ich nicht aushalten, mir erst Hoffnungen zu machen und dann zusehen zu müssen, wie dir wieder die Sicherungen durchknallen.«

Ich wünschte, ich könnte ihr sagen, was sie hören will: dass alles wieder genauso wird wie früher. Aber wie könnte ich das, nach allem, was ich gesehen und erfahren habe?

»Ein bisschen besser geht’s mir wirklich, aber erwarte lieber nicht zu viel von mir, Cara. Das Ganze hat mich verändert. Ich wäre wahrscheinlich noch viel seltsamer, wenn nicht …« Ich wende den Blick ab.

»Ja.«

Sie umarmt mich und ich drücke sie an mich, sehne mich so sehr danach, ihr wieder nahe zu sein, aber ich weiß, dass meine beste Freundin um keinen Preis von meiner verrückten, verzweifelten neuen Welt erfahren darf.

Als wir einander loslassen, erfüllt mich Trauer; genau so war es früher immer zwischen uns. »Genug jetzt von mir, Cara. Wie läuft’s mit Felipe?«

Schon legt sie los mit den neuesten Storys, in denen jede Menge Drama und Leidenschaft und Extensions eine Rolle spielen, doch ich kann die ganze Zeit nur daran denken, dass dies alles nicht so einseitig sein dürfte. Wir müssten das, was uns bewegt, miteinander teilen, wie es beste Freundinnen nun mal tun. Doch wie soll das gehen?

Als Cara zwischendurch mal Luft holt, hebe ich schnell die Hand. »Tut mir leid, ich will den Rest auf keinen Fall verpassen, aber ich muss wirklich mal dringend aufs Klo, bevor die nächste Stunde anfängt.«

»Ich komme mit«, sagt sie und rattert weiter alle Einzelheiten herunter, inklusive jeder SMS und jedes Gerüchts, das sie jemals über ihren neuen argentinischen Freund gehört hat. Und zwar mit voller Lautstärke, damit ich sie über die Toilettenspülungen und rauschenden Wasserhähne hinweg auf jeden Fall höre.

Als ich wieder rauskomme, betrachte ich mich im fleckigen Toilettenspiegel. Es ist das erste Mal seit Wochen, dass ich mich richtig ansehe.

Und in das da hat Danny sich verliebt? In diese ungezupften Augenbrauen und strubbeligen Locken und Haut, die so weiß ist, dass es scheint, als hätten die vielen Stunden vor dem Bildschirm sie förmlich ausgebleicht?

Aber er sieht ja nicht wirklich mich. Er sieht die geschönte Version von Alice, die es ohne die Hilfe von plastischer Chirurgie nie geben könnte. Unter den Augen habe ich immer noch dunkle Ringe und hier und da blühen ein paar Pickel, die sich, wenn ich nicht aufpasse, schnell wieder in eine handfeste Akne verwandeln könnten.

Einen Moment lang droht mein Liebes-Hoch ins Wanken zu geraten. Hätte der gut aussehende, stinkreiche Danny Cross sich auch dann in mich verliebt, wenn wir uns, auf welche Art auch immer, im realen Leben kennengelernt hätten? So wie das, wie meine Cousine Stacie behauptet, bei Seelenverwandten eben ist?

Meine Augen. Die sehen tatsächlich anders aus als früher. Sie leuchten. Wissend. Voller Sehnsucht.

Genau wie seine.

Ich verlasse die Toiletten. Die Schulklingel unterbricht Caras Geschichte genau an der Stelle, an der sie mir anvertraut, er könne vielleicht der Eine sein, und ich lächele, denn zum ersten Mal überhaupt kann ich nachempfinden, wie es ihr geht. Und dieser Moment des Verstehens, auch wenn ich Cara nichts davon sagen kann, baut mich auf, wenn auch nur für ein, zwei Sekunden, und sorgt dafür, dass ich mich meiner Freundin wieder nahe fühle.

Doch es gibt nur einen einzigen Menschen, dem ich alles erzählen will. Nur einen einzigen Menschen, der genau weiß, wie das Leben – oder der Tod – einen völlig unvermittelt aus der Bahn werfen kann.

Meggie wird mich verstehen.

»Heute fühle ich mich so nah an einem Kater dran wie seit Monaten nicht«, stöhnt meine Schwester und hält sich in typischer Meggie-Melodramatik den Kopf, dann setzt sie sich eine riesige Sonnenbrille auf.

»Ich dachte, ihr könnt hier gar nicht verkatert sein.«

»Dachte ich auch. Ich hoffe nur, ich bin die Einzige, der es so mies geht, sonst kommen die Verschwörungstheoretiker noch richtig in Fahrt. Die behaupten dann nur wieder, dass die da oben das veranlasst haben, um uns einen Dämpfer zu verpassen oder so.«

Wir liegen Seite an Seite in einer Bambushütte auf einer rot-weiß karierten Decke. Die Hütte hat drei Wände und ist zum Meer hin offen, sodass wir nur das Wasser und den Himmel sehen können. Das Ganze könnte auch als Poster in irgendeinem Wellnesstempel hängen, nur dass es dreidimensional und absolut atemberaubend ist.

Manchmal frage ich mich, wie ein Ort, der nur online existiert, mich so vollkommen in seinen Bann ziehen kann.

»Meggie?«

»Anwesend.«

»Ich glaube … ich glaube, ich habe jemanden kennengelernt.«

Sie schießt hoch und zieht dann eine Grimasse. »Autsch. Du glaubst? Wen? Robbie kann es nicht sein, nach all der Zeit. Ich meine, er ist ja ein lieber Junge und sieht auch supersüß aus, aber ein bisschen langweilig ist er schon … Also, kenne ich ihn?«

»Könnte man so sagen, ja.«

»Oh, sag’s mir nicht, sag’s mir nicht, lass mich raten …«

»Versuchst du hier gerade, eins der großartigsten Dinge, die mir je passiert sind, in ein Ratespiel zu verwandeln, Meggie?«

Sie wirft mir einen verunsicherten Blick zu. »Äh …«

Ich lache los, denn das ist im Moment alles, was ich will: kichern und tratschen und mich in meinem Glück sonnen, während mich jemand deswegen neckt und zum Erröten bringt. Ich will normal sein. »War nur ein Witz. Außerdem kommst du sowieso nicht drauf.«

Ihr ganzes Gesicht knautscht sich vor Konzentration zusammen. Ich weiß, dass sie gar nicht raten kann, weil sie sich außer Robbies und Caras nie die Namen meiner Freunde gemerkt hat. Es interessierte sie einfach nie besonders.

»Wer war denn noch mal dieser Junge, mit dem Cara in der Zehnten ’ne Weile zusammen war? Der für Middlesex Fußball gespielt hat? Ich hab immer gedacht, ihr zwei würdet gut zusammenpassen.« Sie legt sich wieder hin. Das Raten scheint ihr Spaß zu machen.

»Nein, der ist es nicht. Wie gesagt, du errätst es sowieso nicht.«

Mit einem Mal kann ich es gar nicht erwarten, es ihr zu sagen.

»Oder was ist mit dem Typen mit dem Afro, der aussah wie ein ganz junger Michael Jackson? Der war echt süß. Ach, wie schön, meine kleine Schwester ist verliebt. Ich dachte, das erlebe ich nicht mehr –«

»Es ist Danny.«

»Danny, Danny, an den kann ich mich gar nicht erinnern …« Dann aber stemmt Meggie sich hoch und versucht, meinen Arm zu packen, was natürlich nicht funktioniert. »Moment mal, etwa der Danny hier

Ich nicke. Wenn sie es erst mal ein bisschen verdaut hat, werde ich ihr erklären, was an ihm so wunderbar ist, warum ich nie wieder jemandem wie ihm begegnen werde. Dass wir wie die zwei Hälften einer Person sind. Dass ich mich wie etwas ganz Besonderes fühle, wenn ich bei ihm bin. Und sie wird mir erzählen, wie sie sich bei Tim gefühlt hat, und es wird sein wie früher: Meine große Schwester, die lacht, mit mir witzelt, mir erklärt, wie das Leben läuft.

Ich hätte nie gedacht, dass ich mich mal danach sehnen würde, dass sich jemand über mich lustig macht, aber im Augenblick wünsche ich mir nichts mehr, als dass sie mich ein bisschen aufzieht und dann irgendwann zugibt, wie absolut umwerfend Danny ist. Ich warte.

Meggie schüttelt den Kopf, was offenbar nicht besonders gut für ihren Kater ist, so gequält, wie sie kurz darauf die Augen zusammenkneift. »Hmm. Das ist keine so tolle Idee, Schwesterherz, ehrlich nicht.«

»Wir haben das ja nicht geplant«, meine ich und komme mir plötzlich dumm vor. »So was kann man schließlich nicht kontrollieren. Es ist einfach … passiert.«

Sie lächelt nachsichtig. »Also wirklich, Florrie, manchmal könnte ich mich über dich kaputtlachen.«

»Kaputtlachen?« Tja, schließlich wollte ich, dass sie kichert. Aber ihre Stimme klingt so eigenartig.

»Danny. Ich meine, mir ist klar, dass er unter anderen Umständen ein super Fang wäre, aber mal ehrlich, man kommt eben leider nicht an der unseligen Tatsache vorbei, dass er, na ja, ein winziges bisschen tot ist.«

»Glaubst du vielleicht, das hätte ich vergessen?«

»Sei nicht sauer, Florrie. Es ist nur …« Meggie nimmt die Sonnenbrille ab und sieht mich aus blutunterlaufenen Augen an. »Oh Gott, du meinst das wirklich ernst, stimmt’s?«

»Todernst«, sage ich.

»Wie alt bist du jetzt?«

»Sechzehn. Alt genug, um Sex zu haben. Alt genug, um von der Schule abzugehen und um Motorroller zu fahren.« Ich weiß, wie kindisch das alles klingt, aber ihr Ton gefällt mir nicht.

»Ganz offensichtlich aber nicht alt genug, um eine vernünftige Entscheidung zu treffen. War dir vorübergehend entfallen, dass er nicht mehr am Leben ist, oder was?«

»Natürlich nicht. Pass auf, Meggie, so was muss ich mir wirklich nicht anhören. Soll ich lieber gehen, bis du dich für mich freuen kannst?«

Ihr Gesicht erstarrt und ich bekomme sofort ein schlechtes Gewissen wegen dieser Drohung. Früher hatte ich nie irgendwelche Macht über meine Schwester, jetzt aber sehe ich regelrechte Panik in ihren Augen.

»Nein. Nein. Tut mir leid.« Sie seufzt. »Lass mich noch mal anders anfangen. Ich will ja nicht sagen, dass das alles total dumm ist …«

»Was bedeutet, dass du genau das denkst.«

»Hast du dir das auch wirklich gut überlegt, Alice?«

Mir wird klar, dass sie es jetzt ernst meint, denn sie benutzt meinen richtigen Namen. »Ich denke kaum noch an was anderes.«

»Also findest du es in Ordnung, dass du ihn niemals berühren oder richtig mit ihm zusammen sein kannst?«

»Nicht in Ordnung, nein, aber es gibt Wichtigeres als das.«

»Das sagst du jetzt, aber … Liebe ist mehr als Bauchkribbeln und rosa Herzchen. Manchmal kann sie auch verdammt düster und schmerzhaft und brutal sein. Und manchmal sogar tödlich.«

Ich drehe mich zu ihr um. »Hast du dich an irgendwas erinnert? Oder willst du mir nur Angst einjagen?«

»Nein. Nein, natürlich nicht. Aber die Grenze zwischen Leidenschaft und Hass kann manchmal ziemlich leicht verschwimmen.«

»War es so mit Tim?«

Meggie sieht zur Seite. »Ich erinnere mich nicht, Alice. Ich schätze, ich will einfach nur sagen, dass die Entscheidungen, die wir treffen, nicht immer so einfach sind, wie sie anfangs scheinen. Die Vorstellung von so einer bedingungslosen Liebe zu Danny ist romantisch, klar, aber das war die Geschichte von Romeo und Julia auch, und die ist nicht gut ausgegangen.«

»Ich bin ja nicht blöd.« Aber ihre Worte zeigen Wirkung; schon fühle ich mich nicht mehr so euphorisch, sondern eher ein bisschen lächerlich.

»Das habe ich ja auch nicht behauptet.« Ihre Stimme klingt jetzt beschwichtigend. »Aber wenn ich darüber nachdenke, wie kostbar das Leben ist und wie viel Schönes du noch vor dir hast, ist dieser Gedanke schwer zu ertragen. Du kannst jeden Mann haben, den du willst. Da draußen gibt es eine ganze Welt voll davon, Florrie, verschwende deine Zukunft nicht an einen von uns.«

»Ich sehe aber in der realen Welt keine Zukunft für mich. Ich glaube schon lange nicht mehr, dass es dort noch irgendetwas für mich gibt. Nicht, seit du nicht mehr da bist.«

Meine Schwester sieht mich an. »Wir sind Geister, Florrie.«

»Du hast gesagt, ich soll euch nicht so nennen.«

»Weil es zu nah an der Wahrheit ist.« Sie macht eine Geste zum Strand hin, wo die Gäste reglos in der Sonne liegen, ihre Gliedmaßen scheinen mit dem Sand verschmolzen. Sie runzelt die Stirn. »Und was meint Danny überhaupt dazu?«

»Ihm geht es genauso wie mir.« Ich denke an den Abend, als er es mir gesagt hat, und trotz der Zweifel, die Meggie in mir geweckt hat, überläuft mich ein wohliger Schauer. »Wir wollen es langsam angehen. Ich meine, okay, wir haben sowieso keine andere Wahl, schließlich können wir uns ja nicht berühren. Aber glaub nicht, dass wir nicht verstehen, was das für uns beide bedeutet.«

Meggie seufzt. »Ach, Süße. Ich bin mir sicher, dass du denkst, es zu verstehen, aber wie solltest du denn? Überleg mal, er ist einsam und verzweifelt. Er würde dir alles erzählen, was du hören willst.«

»Du liegst total falsch. Als ich ihm erzählt habe, was ich fühle, da hat er mich sogar gewarnt. Er hat gesagt, wenn ich irgendwie dafür sorge, dass ich hier lande, würde er kein Wort mehr mit mir reden und so tun, als würde ich gar nicht existieren.«

Meine Schwester schließt die Augen. »Gott. Daran darf ich gar nicht denken. Das würdest du doch nicht tun, oder?«

»Natürlich nicht.« Ich wünschte, ich wäre mir so sicher, wie ich mich anhöre.

»Mir klingeln schon die Ohren«, meldet sich eine Stimme zu Wort.

Danny.

Er sieht meine Schwester überhaupt nicht an – nur mich. Er ist noch perfekter, als ich ihn in Erinnerung hatte. Zuvor haben mich immer seine Augen angezogen – diese tiefgrünen rätselhaften Augen –, aber jetzt bin ich geradezu hypnotisiert von seinen weichen Lippen.

»Hallo, meine Schöne«, formen sie.

»Selber hallo.«

»Ach, Mann, muss ich mich denn jetzt ernsthaft einer jungen Liebe in den Weg stellen?«, flucht meine Schwester.

Danny seufzt und schließt für einen Moment die Augen.

Irgendwann, vielleicht sogar schon heute Nacht, möchte ich einmal neben ihm liegen, wenn er schläft, möchte zusehen, wie seine Lider flattern, und seine Träume erraten.

Als er die Augen wieder öffnet, wendet er sich Meggie zu. »Ich weiß, was du jetzt denkst, aber ich werde nicht zulassen, dass sie zu uns kommt. Ich könnte es nicht ertragen, dafür verantwortlich zu sein.«

Meggie schüttelt den Kopf. »Es ist zu gefährlich. Begreift ihr das denn nicht? Besonders du, Danny. Du bist der Ältere. Hättest du dich nicht für irgendeine von den Gästen entscheiden können? Hier sind doch Hunderte von hübschen Mädchen …«

Er sieht wieder mich an. »Die sind aber alle nicht Alice.«

Meine Schwester tritt wütend in den Sand. »Verdammter Mist, für so was hab ich echt keinen Nerv. Ich bin doch nicht eure Mama.« Sie hebt den Kopf. »Passt auf, ich kann euch nicht aufhalten, aber ich hoffe für euch beide, dass das bloß eine harmlose Schwärmerei ist, die ganz schnell wieder verfliegt.«

Danny und ich blicken einander an und wir wissen ganz genau, dass es alles andere als das ist.

»Tja, jetzt wollt ihr zwei wahrscheinlich allein sein, aber bevor ich gehe, versprecht mir bitte wenigstens, dass ihr vorsichtig seid, ja?« Ihre Stimme klingt resigniert, als würde ihr langsam klar, dass sie nur ihre Zeit verschwendet.

»Natürlich, Meggie«, versichert Danny.

»Versprochen, Schwesterherz«, versichere ich.

Doch in der realen Welt halte ich die Finger über Kreuz.