25

Ich zähle bis drei. Dann winde ich mich aus den Armen meiner Mutter.

»Ich bin echt müde, Mum.«

»Natürlich bist du das«, sagt sie, bemerkt schließlich doch den Brandy, den mein Vater mir eingegossen hat, und wirft ihm einen vorwurfsvollen Blick zu. »Schlaf gut, mein Schatz. Morgen sieht sicher schon alles besser aus.«

Daran glaubt sie kein bisschen mehr als ich.

Mein Vater umarmt mich flüchtig und schweigend.

Auf dem Weg nach oben wird mir klar, dass ich mich nur dann besser fühlen werde, wenn ich Meggie noch einmal sehe, auch wenn das letzte Mal erst zwanzig Minuten her ist.

Kurz vor meinem Zimmer jedoch überkommt mich plötzlich eine Welle von Übelkeit und ich schaffe es gerade noch rechtzeitig ins Bad.

Danach spritze ich mir Wasser ins Gesicht und trinke ein paar Schlucke direkt aus dem Hahn, um den ekelhaften Geschmack loszuwerden. Bin ich wahnsinnig zu glauben, dass Tim tatsächlich mit mir reden würde? Dass er mir vertraut, nur weil wir mal Freunde waren?

Ich reibe mir das Gesicht mit dem Waschlappen ab. Das ist doch lächerlich. Das hier ist schließlich keine Folge von Buffy oder Scooby Do. Wahrscheinlich habe ich wirklich nicht mehr alle Tassen im Schrank, wenn ich denke, dass er mir alles gestehen würde, nur weil ich ihn lieb genug frage.

Was mich allerdings von allen anderen unterscheidet, ist, dass ich so ziemlich der einzige Mensch bin, der glauben will, dass er unschuldig ist. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, wie Tim meine Schwester erstickt, sich nicht darum kümmert, dass sie sich zur Wehr setzt, und dann in aller Ruhe ihre Wohnung verlässt, um sich in der Studentenkneipe volllaufen zu lassen und so dafür zu sorgen, dass ihm die Überwachungskameras dort ein Alibi verschaffen.

Das ist nicht der Tim, den ich kenne. Wir alle dachten, er wäre nur eine ihrer Phasen, damals, als sie ihn nach ein paar Wochen an der Uni mit nach Hause brachte. Jeder ihrer Freunde vor ihm war furchtbar protzig und selbstverliebt gewesen, Tim dagegen war absolut bodenständig, bis hin zu seinem Namen. Nach Jahren voller Rafes und Joshuas und sogar einem Merlin verliebte sich Meggie in Tim, der Partys hasste und stattdessen lieber zu Hause kochte und der sich bei einer Demo wohler fühlte als in der großzügig mit Alkohol ausgestatteten Künstlergarderobe im Backstagebereich von Sing for your Supper. Unglaublich.

Nach und nach aber ergab es immer mehr Sinn. Die anderen Männer sahen in Meggie nur eine Trophäe, Tim sah in ihr einen Menschen. Er hielt ihr die Tür auf, ließ sie den besten Platz im Restaurant auswählen, trug ihr den Koffer. Manche Leute empfänden so viel Aufmerksamkeit vielleicht als erdrückend, aber Meggie konnte gar nicht genug davon bekommen. Er betete sie an und sie ihn ebenfalls. Sie waren genau die Art von Uni-Pärchen, das sich im ersten Semester kennenlernt, nach dem Abschluss heiratet und dann für immer zusammenbleibt. Sie trennten sich nicht, als sie berühmt wurde, noch nicht mal dann, als eins der Klatschmagazine ein Foto der beiden veröffentlichte, zu dem die Schlagzeile lautete: Nachtigall, du hast was Besseres verdient!

Ich kannte die Wahrheit, die die grausamen Pressefutzis nicht begriffen, oder zumindest dachte ich das: Tim war eine Million Mal besser als die arroganten Poser und Mitläufer, die sich plötzlich in Meggies Leben zu drängen versuchten. Er war liebenswürdig und sanft und beurteilte Menschen nur danach, wer sie wirklich waren, und nicht danach, was sie für ihn tun konnten. Warum hätte er sich sonst mit mir abgegeben?

Es sei denn natürlich, ich war einfach nur ein vertrauensseliges kleines Mädchen, das er mit ein paar beiläufigen Fragen über die Schule und seine Lieblingsfilme hereinlegen konnte. Wenn er mich damals schon so leicht hat manipulieren können, was passiert dann erst, wenn ich plötzlich vor seiner Tür stehe?

Ich kann nicht zu ihm gehen. Das ist eine verrückte Idee.

Aber ich muss wissen, wer meine Schwester getötet hat, und warum. Das ist doch das Risiko wert.

Auf Zehenspitzen schleiche ich zurück in mein Zimmer; mein Kopf dröhnt immer noch von dem Brandy. Ich muss mich einloggen, bevor ich noch total durchdrehe. Schnell schnappe ich mir den Laptop und nehme ihn mit ins Bett.

Ich muss an den Strand.

Ich warte auf das Kribbeln, auf die seltsamen, teils angenehmen und teils beängstigenden Gefühle, die Soul Beach in mir weckt. Ich kann mir keinen Ort in dieser beschissen echten Welt vorstellen, an dem es mir je wieder so gut gehen könnte. Ich stelle mir Meggie vor, wie sie in die Sonne blinzelt, und hinter ihr Danny, der mit seinen grünen Augen direkt in meine Seele blickt …

Aber ich stehe nicht im Sand, sondern in der Strandbar. Es ist dunkel, nur der Mond scheint durch die offenen Seiten des Gebäudes herein.

»Sam?«, rufe ich.

Sie taucht hinter der Bar auf. In diesem Licht wirkt sie noch elfenhafter und fremdartiger als sowieso schon. Sie hält einen Joint in der Hand und guckt etwas ertappt.

»Kleine Pause?«

Sam nickt. »Nur kurz zum Verschnaufen. Die letzten paar Stunden waren, entschuldige den Witz, einfach die Hölle. Keine Ahnung, ob die Geschäftsleitung am Thermostat rumspielt, aber es ist schweineheiß hier.«

Ich lächele, obwohl mir die Temperatur mehr als egal sein kann. »Hast du Meggie gesehen?«

»Sie ist ungefähr vor zwanzig Minuten hier weg, wollte mit ein paar Leuten ein nächtliches Picknick machen. Wo brennt’s denn?«

»Es … es geht um Tim, ihren Exfreund. Na ja, als sie gestorben ist, war er noch ihr Freund. Die Polizei hat ihn verhört und jetzt wieder freigelassen.«

»Ah, darum bist du wahrscheinlich erst mal hier gelandet. Damit ich dich daran erinnern kann, dass du darüber nichts zu ihr sagen darfst.«

»Ist das wieder eine von diesen sinnlosen Regeln?«

»Die hier ist nicht sinnlos. Was bringt es ihr denn, zu erfahren, was passiert ist, wenn sie sich noch nicht mal daran erinnert, wie sie gestorben ist? Wird sie davon vielleicht glücklicher?«

Ich denke über ihre Worte nach. »Aber die Polizei glaubt, er hat sie getötet. Das tut jeder.«

Sam nimmt einen Zug von ihrem Joint. Dabei verändert sich ihr Gesicht, bis es geradezu grausam wirkt. »Du nicht. Klingt zumindest nicht so.«

Ich starre sie an. »Wie kommst du darauf?«

»Nur so ’ne Ahnung. Waren immer meine Spezialität, Ahnungen. Aber egal, erzähl weiter.«

»Du hast doch beim letzten Mal gesagt, die Leute kommen hierher, wenn sie unter ungeklärten Umständen gestorben sind. Wenn ihr Tod also aufgeklärt wird, können sie dann hier weg?«

»Wer hat dir denn erzählt, dass überhaupt irgendwer wegkann?«

»Danny, den Nachnamen weiß ich nicht. Amerikaner.«

»Oh, Danny Cross. Hmm. Hätte ich auch gleich drauf kommen können, dass es einer von den großen Denkern war. Das sind immer diejenigen, die die Probleme machen.«

Danny Cross. Ich schreibe mir den Namen auf. Wenn ich herausfinden kann, warum er am Soul Beach ist, hilft mir das vielleicht zu verstehen, was Meggie hier macht. »Dann irrt er sich?«

Sam wandert zu einer Seite der Bar und ich folge ihr. Der Strand sieht jetzt wieder echt aus, das komische Gefühl, das ich hatte, nachdem Meggie mir erzählte, es gäbe keine Tiere dort, ist verflogen. Die Wellen scheinen mir zuzurufen: Hüpf rein, das Wasser ist herrlich. Ich habe noch nie nackt gebadet, aber ich kann jeden total verstehen, der hier auf diese Idee kommt.

»Hör mal, Schätzchen, ich hab dir doch schon vorher gesagt, das ist hier alles streng geheim. Alles, was ich mache, ist, das Ganze so nett wie möglich zu gestalten, damit die Kids gar nicht erst wegwollen

»Aber manche gehen trotzdem.«

Sie seufzt. »Manche wollen uns verlassen, ja. Und sehr, sehr wenige finden auch einen Weg. Aber für die meisten ist das hier die Ewigkeit und diejenigen, die damit am besten klarkommen, sind die, die lernen, den Moment zu genießen. All die Kids, die versuchen, den Überblick zu behalten, wie lange sie schon hier sind, verzählen sich nach ein paar Jahren und hassen sich dann dafür. Das bringt nichts.«

»Und diejenigen, die den Notausgang finden? Sind das die, die nie aufgegeben haben?«

»Nein. So einfach ist das nicht. Es gibt Gäste, die hier unbedingt wegwollen, aber es nie schaffen, und dann gab es welche, die fanden es toll hier, sind aber eines Morgens einfach nicht mehr aufgetaucht.«

»Dann ist es also doch irgendwas, das in der wirklichen Welt passiert.«

Sie pustet mir einen scharf riechenden Rauchring entgegen. »Wirklichkeit ist etwas Relatives, Alice.«

»Na gut, dann eben in meiner Welt, wenn dir das besser gefällt.«

Sam wendet sich ab. »Vermutlich habe ich schon zu viel gesagt.«

»Also, wenn ich irgendwas tue, das aufzuklären hilft, was mit Meggie passiert ist. Zum Beispiel, ich weiß auch nicht, rausfinden, wer sie getötet hat. Würde sie dann verschwinden?«

»Tu nichts, was du normalerweise nicht auch tun würdest. Das könnte gefährlich werden. Manchmal haben die Dinge Auswirkungen, die man nie hätte voraussagen können.«

»Aber …«

Sie scheint über irgendetwas nachzudenken. »Alles, was ich sagen kann, ist, ich denke, du könntest recht damit haben, dass eine Art Auflösung der Schlüssel ist. Aber Auflösung bedeutet nicht immer das, was du denkst. Wie Konfuzius dir sicher auch hätte sagen können.«

»Konfuzius?«

Sie winkt ab. »Ach, so ein alter Chinese. Weißt du, was dein Problem ist, Alice? Du interpretierst immer viel zu viel in die Dinge hinein. Die Hälfte von dem, was ich hier verzapfe, ist ungefähr so blödsinnig, wie man es von einem Mädel erwarten kann, das die ganze Nacht auf war.«

»Und die andere Hälfte?«

Sie schnalzt missbilligend mit der Zunge. »Jetzt lass aber mal gut sein. Ich sag dir was: Es ist ein Glück, dass du nur zu Besuch bist. Du würdest hier wahnsinnig werden.«

»Ich gehe sie suchen«, sage ich leise.

Sam stellt sich neben mich und der Gestank nach Cannabis überwältigt mich beinahe. »Tu das, Alice. Und wenn du sie gefunden hast, erzähl ihr Witze und nette Geschichtchen, genieß die Zeit mit ihr. Wenn es eins gibt, was ich an diesem verdammten Ort gelernt habe, dann, dass man nicht weiß, was man hat, bis man es verliert.«