Vera Hartmann starb Anfang Mai. An einem Abend, als Katharina ihr Suppe bringen wollte, saß sie tot auf ihrem Stuhl. Sie wurde begraben, wo die Toten des Dorfes lagen, auch Carmens Mann Carlos, nur ihr Vicente nicht. Katharina und Benito ließen dennoch ein Kreuz mit ihrer beider Namen zimmern. Für den Tod des jungen Mannes würde niemand zur Rechenschaft gezogen werden. Alle Schuldigen waren zugleich auch Opfer, und jetzt war nur noch Raum für Trauer.
Am Morgen des 19. Juni, einem leuchtend blauen, wolkenlosen Tag, starb Maximilian von Habsburg, der sich drei Jahre lang Kaiser von Mexiko genannt hatte, auf dem Cerro de Campanas, über der Stadt Santiago de Querétaro. Sechs Soldaten eines Erschießungskommandos töteten ihn mit der ersten Salve und vollstreckten damit das Todesurteil, das Präsident Juárez im Namen des Volkes von Mexiko bestätigt hatte. Mit dem Kaiser starben zwei seiner Generäle, nicht aber Marquez, der Tiger von Tacubaya, der zwei Tage später, als Porfirio Diaz in Mexiko-Stadt einmarschierte, nach Veracruz und von dort nach Kuba entfloh.
Kaum war das Urteil vollstreckt, begannen Gerüchte zu kreisen, Maximilian habe als letzten Wunsch im Augenblick seines Todes sein Lieblingslied La Paloma gehört. Dass sie vermutlich nicht einmal im Kern der Wahrheit entsprachen, spielte keine Rolle – sie sollten nie mehr verschwinden.
Der einstige Kaiser war in der Nacht des 14. Mai verhaftet worden, als ein Ulanenoberst der republikanischen Armee einen Zugang in die Stadt geöffnet hatte. Der Oberst hatte verlangt, Maximilian müsse unauffällig die Flucht ermöglicht werden, doch dazu war Maximilian nicht bereit. Nachdem man ihn überzeugt hatte, dass die Lage aussichtslos war, übergab er General Escobado sein Schwert und lieferte sich seinen Gegnern aus.
Sofort nach der Verhaftung des Habsburgers hatte Benito sich einem gewaltigen Verteidigungsapparat angeschlossen, der versuchte das Todesurteil abzuwenden. In einem Tross von Juristen reiste er zu Juárez nach San Luis Potosí, die Monarchen Europas sandten Gnadengesuche, und die Verhandlungen zogen sich tagelang hin. Katharina wusste, wie hart es Benito traf, dass am Ende alles nichts nützte. Maximilian müsse sterben, weil das Gesetz es vorsehe, befand Juárez. Durfte ein anderes Gesetz für Hochgeborene als für Bauern gelten, die keinen Königshof in Europa scherten? Lieber wolle man ein harsches Zeichen setzen und später bei der Aburteilung von Mitläufern Milde walten lassen.
Gewiss wusste Benito, dass Juárez recht hatte, aber das Gefühl, versagt zu haben, linderte das nicht. »Ich glaube, ich habe die Gesetze satt«, sagte er zu Katharina. »Ich habe mir eingebildet, wir hätten uns das Recht erkämpft, nicht mehr zu töten.«
Zwei Tage später, nach etlichen Erkundigungen, musste er ihr die Nachricht von Valentins Tod bringen. Trotz des Befehls seines Kaisers, sich zu ergeben, hatte er sich den Gegnern in den Weg gestellt und war erschossen worden. »Es ist nicht zu begreifen«, sagte Benito. »Mit nichts als seinem Säbel ist er unseren Einheiten entgegengetreten, als hätte er sich den Tod gewünscht.«
Ja, dachte Katharina, das ist nicht zu begreifen für dich – dass ein Mensch für etwas sterben, nicht leben will. Und dann weinte sie, weil Valentin nicht für sein Kind hatte leben wollen und weil ihr Kind eines Tages von dem entsetzlich sinnlosen Tod seines Vaters erfahren musste, wie es ihr selbst geschehen war.
»Ich hätte dir das gern erspart«, sagte Benito.
»Das weiß ich«, erwiderte sie. Sie hätte ihm auch gern erspart, dass sie in seinen Armen um Valentin weinte, aber darüber, dass sie es zusammen aushielten, war sie froh. Valentin war aus ihrer beider Leben nicht wegzureden. »Ich muss ihm einen Teil von meiner Liebe lassen«, sagte sie. »Weil er gestorben ist. Und weil ich sein Kind erwarte. Kannst du damit leben?«
»Ja«, antwortete er. »Vielleicht könnte ich nicht mit dir leben, wenn du anders wärst. Und wenn ich eifersüchtig bin und Angst habe, dass du ihn lieber hast als mich – kannst du dann Nachsicht walten lassen und mir ein bisschen ins Ohr säuseln?«
Sie säuselte ihm in beide Ohren, und nicht nur dorthin. In dieser Nacht liebten sie sich, bis er am Morgen aufbrach, um in die befreite Hauptstadt zu reiten. Sie wollte nicht, dass er schon wieder fortging, sie wollte ihn Tag und Nacht lieben, um die Jahre zu heilen. »Kannst du nicht einmal selbstsüchtig sein und meine Familie vergessen?«, fragte sie. Natürlich wollte sie, dass ihre Angehörigen Bescheid wussten, aber sie hätte gern gewartet, bis das Kind da war und sie zusammen reisen konnten.
»Ich bin selbstsüchtig«, sagte er. »Ich will dich heiraten, und so blöd zu warten bin ich nicht noch einmal.«
Sie unternahm keinen weiteren Versuch, ihm zu sagen, dass er die Zustimmung ihres Vaters nicht brauchte, weil das vollkommen sinnlos war. Was immer er sich beweisen musste, er hatte verdient, dass sie es ihn tun ließ.
Das Kind würde vor Ende des Sommers geboren werden, und ihr Leib kam ihr jetzt bereits gewaltig vor. Auch sei der Schmerz, der sie ab und an durchfuhr, kein gutes Zeichen, hatte Carmen gesagt. Sie müsse sich schonen. Also saß sie die meiste Zeit über auf einem Stuhl auf der Veranda und sah dem Leben um sie zu. Die Menschen im Haus begegneten ihr mit höflicher Scheu. Sie brauchten Zeit, und das war Katharina recht, weil sie auch Zeit brauchte.
An einem glutheißen Tag Anfang Juli kam Benito zurück und brachte Felice mit. So beschwerlich das Laufen mit dem geblähten Leib ihr wurde, sprang Katharina auf, sobald sie die beiden am Hang erkannte, und rannte ihnen entgegen. Als sie Benitos Gesicht sah, das stille Leuchten in den Augen, wusste sie, dass er sein Stück Frieden hatte machen dürfen und dass die Reise jeden Augenblick wert gewesen war. Er hob Felice vom Pferd und schob sie in Katharinas Arme. »Sie war nicht zu halten«, sagte er. »Sie wollte um jeden Preis zu dir.«
Vermutlich war Benito der einzige Erwachsene in Santa María de Cleofás, der nicht bemerkte, dass Felice bis über beide Ohren in ihn verliebt war. Nichtsdestotrotz war Felice selig, Katharina wiederzuhaben, und Katharina war selig, weil sie das Vertrauen des Mädchens nicht verloren hatte. Es war der erste Abend, an dem sie nach dem Essen noch lange auf der Veranda beisammensaßen und ihrer Neugier aufeinander Raum gaben. Xavier spielte Gitarre, und Benito wiegte Katharina, die zum Tanzen zu schwerfällig war, mit dem sinnlichen Schmelz der Musik. Glück stand ihm. Sie fieberte dem Augenblick entgegen, in dem sie ihn in ihrer Schlafkammer für sich allein hatte, und doch genoss sie die verstreichenden Stunden. Wieder zu Menschen zu gehören. Wieder Teil von einem Ganzen zu sein.
Und selbst ein Ganzes zu sein. Zwei Hälften, die verschmolzen. Als sie allein waren, liebte er sie mit der Unbändigkeit und dem Übermut eines Mannes, der seiner selbst ganz sicher war, und am Morgen schickte Carmen ihn vor den Waldsaum, um Niederholz abzuhauen, wo sie ein weiteres Feld urbar machen wollten. Alle Männer sollten das ab und an tun, dachte Katharina, die zusah, wie er sich mit der Axt verausgabte und wie das Hemd über seinem Rücken spannte. Sie haben dann weniger Kraft, sich zu prügeln, und für Frauen ist es ein himmlischer Anblick.
Er erzählte ihr von der Hauptstadt, die einem einzigen gigantischen Festplatz glich, und von Martina und Felix, die sie besuchen kommen wollten. Von ihrer Familie erzählte er ihr zaghaft und nur auf ihr Drängen. Sie seien alle wohlauf und hätten die Schlacht um die Stadt mit bemerkenswerter Courage überstanden. »Nein, alle sind nicht wohlauf«, sagte er. »Und ich habe mich wieder einmal wie ein Idiot benommen. Die Frau deines Vetters trug deine Großtante auf dem Rücken herum. Ich habe sie gefragt, ob ich ihr die Tote abnehmen soll, und sie hat geschrien und sie fallen lassen. Sie hatte wohl nicht bemerkt, dass sie gestorben war.«
Katharina musste lachen, ging zu ihm und küsste seinen Nacken. »Nein, du hast dich nicht wie ein Idiot benommen. Nur wie einer, der vor dem Leben nicht so viel Angst hat wie meine Verwandten. Haben sie dich also ins Haus gelassen? Haben sie … haben sie nichts Schlimmes getan?«
Er hielt inne, legte die Axt beiseite und setzte sich auf einen Baumstumpf. »Nein«, sagte er. »Nein, gar nichts, Ichtaca. Von deinen Vettern war nur Stefan da, und deine Mutter hat sich in größtmöglichem Abstand von mir an die Wand gedrückt. Sie sahen alle ein bisschen aus, als hätte jemand einen Berglöwen in ihre Stube gelassen, aber wir haben uns höflich zugehört, uns nicht an den Haaren gezogen und uns nicht vor die Füße gespuckt. Dein Onkel Fiete hat angeboten, mir ein Lehrwerk zur Alphabetisierung zu borgen, mit dem vermutlich auch Affen lesen lernen können.«
Dass er selbst Angst gehabt hatte, konnte er vor ihr nicht verbergen, und für den Mut, den es ohne Angst nicht gab, küsste sie ihm die Augen. »Verletzt es dich wirklich nicht, dass sie so mit dir umgehen? Dass sie nicht aus ihrer Haut können?«
»Nein«, sagte er. »Wirklich nicht. Ich finde, Mexiko kann sich an uns ein Beispiel nehmen. Wir haben uns geschlagen, wir haben aufeinander geschossen, und wenn wir uns jetzt noch eine Zeitlang als Amarantfresser und Bleichgesichter beschimpfen, damit wir uns nicht ganz so grässlich voreinander fürchten, soll es mir recht sein.«
»Und? Darfst du mich jetzt heiraten?«
»Nein«, antwortete er. »Jetzt habe ich ein Problem.«
»Warum?«
»Sie wollen anreisen. Sie haben gesagt, sie verzeihen uns nie, wenn wir nicht warten. Nur ist es eben noch nicht ungefährlich zu reisen, und zu heiß für die alten Leute ist es auch.«
»Und warum hast du ihnen nicht gesagt, sie könnten sich ihr Verzeihen sonst wohin stecken?«
»Weil …«
»Aha«, sagte Katharina. »Das ist mein todesmutiger Aztekenkrieger.«
»Ich werde jetzt Bauer, Ichtaca. Oder ich vertrete Nachbarn, die sich um Taubendreck auf ihrem Fenstersims streiten.«
»Schön, mein Liebling. Und was gedenkst du wegen deiner Hochzeit zu tun?«
Er senkte den Kopf. Dann sah er sie wieder an, und seine Augen blitzten. »Willst du das wirklich wissen?«
»Das ist eine dumme Frage für einen, der mich dreißig Jahre lang kennt. Sag’s mir. Was willst du?«
»Dich heiraten«, antwortete er. »In der Kapelle von Santa María de Cleofás. Und wenn es dir nichts ausmacht zu warten, dann …«
»Was dann?«
»Dann hätte ich gern, dass dein Vater dabei ist und dich den mickrigen Gang, den sie dort haben, hinunterführt.«
»Aber mein Vater …«
»Dein Vater will seine Tochter zum Traualtar führen. Es kratzt ihn nicht, dass er nicht katholisch ist.«
Ihre Hände krampften sich umeinander. Unendlich gern hätte sie sich dem Ansturm des Glücks überlassen, aber noch war nicht alles geklärt. Das Wichtigste stand noch aus. »Hast du meinen Eltern gesagt, dass es nicht dein Kind ist, das ich bekomme?«
»Ja«, antwortete er und hob eine Braue. »Hätte ich das nicht tun sollen?«
»Doch«, rief sie, »doch. Ich dachte nur, es sei zu viel von dir verlangt. Ich will nicht fortwährend deinen Stolz kränken. Es tut mir weh, Benito. Ich habe deinen blöden Stolz so lieb.«
Er sah ihr lange schweigend ins Gesicht und legte seine Hände auf ihren Leib. »Meinem Stolz geht es bestens«, raunte er ihr verschwörerisch zu. »Er platzt gleich.«
»Du verstehst, dass ich es allen sagen muss, nicht wahr? Ich könnte nach dem, was ich erlebt habe, nicht mein Kind belügen.«
»Ich auch nicht«, erwiderte er. »Ich muss irgendwann Angela sagen, dass ihre Mutter Inez hieß und in Tula gestorben ist. Und einer von uns wird Felice etwas über ihren Vater sagen müssen, damit sie anfängt ihre Mutter zu verstehen. Wir müssen Josefa sagen, dass sie noch einen Vater hat, und ich wäre stolz, wenn sie mich trotzdem braucht. So wie du deinen Vater brauchst. Um zum Altar zu gehen, zum Beispiel. Irgendwann. Egal, ob wir katholisch sind.«
So fest, wie sie ihn liebhatte, konnte sie ihn nicht an sich drücken. Der dicke Bauch war im Weg. »Josefa?«, rief sie lachend und weinend. »Und dessen bist du dir sicher?«
»Aber ja. Ich finde, deine Base Josephine sollte Taufpatin werden. Und eine neue Josefa kann Mexiko gut brauchen.«
»Und wenn es ein Junge wird, du Alleswisser?«
»Peter«, sagte er, ohne mit der Wimper zu zucken, stand auf, nahm die Axt und half ihr in die Höhe. Der leuchtende Himmel hatte sich schwarz bezogen. In Querétaro vergaß man leicht, dass Regenzeit war. Ihr Liebster legte ihr den Arm um die Taille und führte sie nach Hause. Unterwegs erzählte sie ihm, dass sie hier glücklich war, dass sie aber nicht wusste, ob sie für immer bleiben wollte, dass sie vielleicht irgendwann die Stadt vermissen und gern wieder unterrichten würde. Er küsste sie auf den Kopf und erzählte ihr, dass Juárez ihn gern in Mexiko-Stadt hätte und dass sie das alles entscheiden könnten, wenn das Kind geboren sei. Und dann erzählte er ihr von Stefan, der für den Winter eine Europareise plante und gefragt hatte, ob sie nicht mitkommen wollten.
»Wie will Stefan denn das bezahlen?«, fragte Katharina.
»Er arbeitet jetzt wieder für Engländer«, sagte Benito.
»Und nach Europa willst du wirklich?«
»Ich würde Hamburg gern sehen«, antwortete er. »Du nicht?«
Katharina nickte und hatte ein vages Durcheinander von Bildern im Kopf – vom Eis glasierte Beeren, von denen Onkel Christoph erzählt hatte, weiße Schiffe aus Onkel Fietes Geschichten und den Fluss, den ihre Mutter »meine Alster« nannte. »Ja«, rief sie, »ja, das möchte ich.«
Sie hatten ihr Haus fast erreicht. Vor der Veranda konnte sie Carmen sehen, die Stühle wegräumte, ehe der Regen begann. »Benito«, sagte sie und hielt ihn zurück. »Was hat mein Vater mit dir gemacht?«
Er schüttelte den Kopf und beteuerte: »Nichts.« Dabei sah er so offensichtlich wie ein Lügner aus, dass sie sich das Lachen verbiss.
»Sag’s mir.«
»Nein, Ichtaca. Lass mich.«
»Ich lasse dich niemals. Sag’s mir.«
»Wirklich nichts. Er ist nur mit mir nach draußen zu meinem Pferd gegangen, und wir haben diese Dinge wegen der Reise und der Hochzeit und seiner Probleme im Geschäft besprochen.«
Von der Seite sah sie ihn ungläubig an. »Du kannst ja rot werden, Benito!« Entzückt küsste sie seine Wange. »Jetzt sag’s mir. Was hat mein Vater mit dir gemacht?«
Es geschah kaum je, dass er nicht mit ihr mitlachte, aber jetzt blieb er so verlegen wie zuvor und senkte den Blick. »Nichts«, beteuerte er ein drittes Mal. »Er hat gesagt, ich soll ihm verzeihen, und ich habe gesagt, das ist in Ordnung, und er …«
Weil er wirklich nicht mehr sprechen konnte, zog sie ihn in die Arme, wie es zweifellos ihr Vater getan hatte. Wir sind jetzt angekommen, dachte sie, einerlei, wohin wir gehen. Und dann brach der Regen los mit einer Kraft, die Krater in die Erde schlug.