11
Er wich ihr aus. Er ließ sich von seiner Wirtin verleugnen und verließ die Werkhalle, in der er arbeitete, durch den Hinterausgang. Katharina aber würde sich nicht abwimmeln lassen, sondern erst Ruhe geben, wenn sie es ihm gesagt hatte.
Sie hatte so viele Wochen gebraucht, ihn zu finden. Endlose Meilen war sie gelaufen, hatte sich sehnlichst einen Wagen gewünscht und kaum fassen können, wie weit diese Stadt war, die sich für sie über Jahre auf vier Straßenzüge beschränkt hatte. Um ein Haar hätte sie aufgegeben, doch als sie dann endlich vor der Tür seiner Wohnung saß und ihn die schief getretenen Stufen hinaufeilen sah, wusste sie, dass sie das Richtige getan hatte: Sie hatte ihn finden müssen.
Er sah so verdutzt aus, dass ihr ein Lachen entschlüpfte. Mit beiden Händen fuhr er sich ins Haar, wie sie es so gut von ihm kannte – nur zu oft hatte sie es ihm glatt gestrichen, damit er wieder manierlich aussah. Er war noch ihr Ben, ihr Freund und Vertrauter. Wie sehr er ihr gefehlt hatte, bemerkte sie erst jetzt. Aber er war dazu noch etwas anderes, und das war wundervoll. Der Wunsch, ihm das Haar wie als Kind zurückzustreichen, wurde in ihr zum Sturm, und dennoch wusste sie, dass sie ihr Verlangen zähmen musste, weil er und sie keine Kinder mehr waren. Seltsam, fand Katharina, dass man es auf einen Schlag begreift, obwohl es einem niemand erklärt. Seltsam war auch, dass das alles neu für sie war und dass es zugleich völlig richtig erschien, als gäbe es auf der Welt keine andere Möglichkeit.
»Was hast du hier zu suchen?«, herrschte er sie an. Er ist mir böse, erkannte sie, und natürlich hatte er das Recht dazu, aber ebendeshalb – um ihm zu sagen, wie leid es ihr tat – war sie ja gekommen. Katharina war sicher, alles ließe sich lösen, wie ihr Vater es ihr beigebracht hatte: Wenn man jemandem Unrecht getan hat, bittet man um Verzeihung, und es ist wieder gut.
Allzu schlimm konnte es um seinen Zorn ohnehin nicht bestellt sein, denn er hatte sie Ichtaca genannt. In dem einen Wort hatte sie gehört, wie sehr auch sie ihm gefehlt hatte.
»Ben«, begann sie, er aber ließ sie nicht ausreden.
»Hier kannst du nicht bleiben«, sagte er eisig. Er war auch früher schon zornig auf sie gewesen, einmal hatte er drei Wochen lang nicht mit ihr geredet, aber dass er zu solcher Kälte fähig war, hatte sie nicht geahnt. »Ich muss dich nach Hause bringen, so lästig es ist.«
Hinter ihm tauchten die anderen auf, Miguel und die junge Frau mit dem Zopf, und einen Herzschlag lang war es beinahe wie damals. Nur seine Mutter war nicht dabei, stattdessen ein weiteres Mädchen, das mit unverhohlener Neugier an ihm vorbeilugte.
»Wenn sie nicht geht, mache ich ihr Beine«, fauchte Miguel, der eine Uniform mit rotem Brusteinsatz trug und über dessen Schulter ein Gewehrlauf aufragte. »Wie frech ist das eigentlich, hier aufzukreuzen nach allem, was du ihr verdankst?«
Ben wandte den Kopf. »Du misch dich nicht ein«, sagte er.
»Ich will es erklären«, rief Katharina in die entstandene Pause. »Ich hätte damals eingreifen müssen. Ich könnte mir die Haare ausreißen, weil ich es nicht getan habe, aber ich war …«
»Halt den Mund«, schnitt ihr Ben das Wort ab. Dann packte er mit steifen Fingern ihren Arm, wie man etwas berührt, das einem zuwider ist, und zog sie in die Höhe. »Wir gehen.«
Katharina war so verletzt, dass sie nicht einmal fähig war, sich zu widersetzen. Er ließ sie los, drehte sich um und ging. Ehe sie sich von ihrem Schrecken erholt hatte, war sie ihm die Stufen hinuntergefolgt. In ihrem Rücken hörte sie, wie Miguel ausspuckte und wie die Spucke auf den Boden platschte.
In der Loge bei der Tür saß die Wirtin und tat, als würde sie in einem Mietbuch blättern, doch in Wahrheit spähte sie über dessen Rand hinweg. Katharina hätte ihr am liebsten die Zunge herausgestreckt. Ben schob die Tür auf, sah, dass Katharina stehen blieb, und sagte auf Deutsch: »Du kommst jetzt, oder es soll mir gleichgültig sein, was mein Bruder mit dir tut.«
Gern hätte sie Ben gesagt, wohin er sich seine Drohung stecken konnte, dann aber beschloss sie, ihm für diesmal zu gehorchen. Bis in die Siedlung hatten sie weit zu gehen, sie würden allein sein, ohne den grässlichen Miguel und die beiden lästigen Frauen, und gewiss würde sie unterwegs Gelegenheit haben, ihr Anliegen vorzubringen. Er würde beschämt sein, wenn er davon erfuhr, und dieser ganze Unsinn würde sich in Luft auflösen.
Sie schoben sich hinaus ins Zirpen der Frühlingsnacht. Katharina sog den Duft ein, der ihr erfüllt von fremder, lockender Süße erschien, und am liebsten wäre sie wie als Kind gesprungen. Aber ihre Freude währte nicht lange, denn Ben weigerte sich, ihr zuzuhören. Er fuhr ihr über den Mund, sobald sie zu sprechen begann, und ging mit gefrorener Miene neben ihr her.
Ein einziges Mal, als sie die Siedlung fast erreicht hatten, gelang es ihr, ein paar Worte herauszustoßen, während er einem Trupp berittener Offiziere nachsah und abgelenkt war. »Ich muss doch mit dir sprechen!«, rief sie. »Meine Base Jette ist gestorben, ihr Bruder Felix hat mit ihr sprechen wollen, und jetzt ist es zu spät!«
In ihrer Erinnerung war das der einzige Augenblick, in dem sie zu ihm durchgedrungen war. Er hatte sich von den Soldaten abgewendet, und der Eispanzer über seinem Gesicht war aufgesprungen, während er getan hatte, was er immer tat, wenn er eine Frage stellte. Er hatte seine geschwungenen pechschwarzen Brauen gehoben, aber nein, nicht beide Brauen wie früher, sondern nur die rechte. Die linke war unbewegt geblieben, und im Licht der klaren Mondnacht hatte Katharina die Narbe gesehen, die sich am Augenwinkel in die Haut grub. »Es tut mir leid«, hatte er gesagt. »Deine Base Jette, das war die, die so gern das klebrige Gebäck aß, nicht wahr? Du musst es am Dia de los Muertos für sie essen.« Danach war er wieder in Schweigen verfallen, hatte sie bis an den Strauch vor der Siedlung begleitet und war ohne Gruß gegangen. Sie hatte ihn davonkommen lassen, doch schon am nächsten Tag hatte sie wieder nach ihm gesucht.
Damals war März gewesen, und jetzt war schon Ende Juni. Kaum zu glauben, dass es einem Mann so lange möglich war, einem hartnäckigen Mädchen auszuweichen – und dabei behauptete Jo, Katharina bekomme alles, was sie wolle.
Zu Jo zu gehen war vielleicht eine gute Idee – sie musste mit jemandem darüber sprechen. Ein wenig hoffnungsvoller lief sie zum Haus der Base, auch wenn das Gespräch nicht einfach werden würde. Jo steuerte neuerdings zu jedem erdenklichen Thema die Ansichten dieser Gerlinde bei, in die sie geradezu vernarrt war. Gerlinde Schwarzer war die Frau eines lutheranischen Pfarrers aus dem Hessischen, der sich nach Mexiko eingeschifft hatte, um seinen Glaubensgenossen in der Wildnis geistlichen Beistand zu spenden. Zumindest behauptete das Jo, die die Schwarzers in einer Gloriole aus rosigem Licht sah. Katharina vermutete, dass Gottfried Schwarzer in Wahrheit Dreck am Stecken gehabt hatte, denn von ihrer Mutter wusste sie, dass kein Mensch die Heimat aus freiem Willen verließ.
So oder so war der fromme Gottfried zur Ausführung seiner Pläne nicht gekommen, denn während der Überfahrt war er einer Typhuserkrankung erlegen. Allein und mittellos, hatte seine Witwe sich kein Zimmer in der deutschen Siedlung leisten können. Sie musste die unsägliche Schmach ertragen und unter ein Dach ziehen, das der katholischen Kirche gehörte. Diese fungierte als mächtigster Grundbesitzer der Stadt, bald zwei Drittel aller Mietshäuser gehörten ihr. Das Haus, in dem Gerlinde eine schmale Kammer mietete, lag in dem verrufenen Viertel nahe dem Hafen, in dem auch Ben und Katharinas Englischlehrerin Miss Gordon wohnten, und zu allem Unglück stand am Ende der Gasse eine Kapelle, bei deren Geläut die Pfarrerswitwe Höllenqualen litt.
Natürlich konnte sie nicht anstelle ihres Mannes das Amt eines Pfarrers ausüben, sondern hätte sich als Dienstmagd verdingen müssen, doch Gerlinde Schwarzer war erstaunlich findig. Auf irgendeine Weise war es ihr gelungen, die Bekanntschaft des sonst so menschenscheuen Doktor Messerschmidt zu machen, und mit seiner Hilfe ließ sie unter den Lutheranern von Veracruz verbreiten, sie werde demnächst in ihrer Kammer einen Bibelkreis eröffnen. Die Teilnahme sei kostenlos, nur für ihren Unterhalt bitte Gerlinde um einen winzigen Obolus, wie ja auch in der Kirche die Kollekte eingesammelt werde, um die Armen zu speisen.
Katharina wusste nicht, warum sie gegen eine Frau, die sie nicht kannte, eine solche Abneigung gefasst hatte – vermutlich, weil Jo ihr unentwegt mit ihr in den Ohren lag. Wie ein Schaf trottete die Base allwöchentlich durch die Stadt, um an diesen Bibelkreisen teilzunehmen. Ihre Eltern hätten ihr gewiss verboten, den langen Weg allein zu gehen, doch Onkel Christoph und Tante Inga schienen zu sehr in ihrer müden Traurigkeit gefangen, um darauf zu achten, was Josephine tat. »Ich habe nicht gewusst, was mir fehlte, bis ich Gerlinde traf«, beteuerte die Base. »Dass ein Mensch ohne geistliche Führung wie ein Blatt im Wind ist – Kathi, ich wünschte, auch du würdest das begreifen.«
Katharina aber wollte nichts davon begreifen, sie wollte mit Jo über Ben reden.
»Gerlinde würde sagen, es gehört sich nicht, dass ein junges Mädchen einem Mann hinterherläuft«, erklärte Jo und klang vertrockneter als Tante Traude. »Schon gar nicht, da du eine Lutheranerin bist und er ein Katholik.«
»Herrgott, ich will nicht wissen, was diese verwünschte Gerlinde sagen würde, sondern was du sagst!«, platzte Katharina heraus.
»Es tut mir weh«, erwiderte Jo. »Wenn du den Namen des Herrn unnütz im Mund führst und auch wenn du Gerlinde beschimpfst.«
»Herrgott«, entfuhr es Katharina schon wieder, doch hastig verbesserte sie sich: »Zum Teufel, Jo, das ist doch alles nicht wichtig, Katholik, junges Mädchen – Ben war mein Freund, meine ganze Kindheit hindurch. Weißt du, wie wohl es tut, einen Freund zu haben, und wie schwierig es ist, danach ohne ihn zu leben?«
Sie schlug sich auf den Mund. Wie sollte die arme Jo denn davon etwas wissen? »Nein, ich habe das nicht gewusst«, erwiderte die Base. »Ich weiß es erst, seit ich Gerlinde kenne und seit Gott, der Herr, mein Freund ist.«
Katharina stöhnte, zählte im Inneren bis fünfzehn und begann dann so ruhig wie möglich noch einmal von vorn. »Jo, kannst du nicht bitte Gerlinde und Gott, den Herrn, einen Moment lang beiseitelassen und mir sagen, was ich tun soll? Seit Monaten versuche ich mit Ben zu sprechen, aber er ist wie eine Eidechse, er gleitet mir immer wieder durch die Finger. Seine Wirtin erzählt mir, er sei ausgegangen, obwohl ich mit eigenen Augen gesehen habe, wie er im Haus verschwunden ist. Ich überlege, ob ich mich vor seine Tür setzen und die ganze Nacht warten soll. Irgendwann muss er schließlich herauskommen. Nein, Jo, fang nicht wieder mit Moral und jungen Mädchen an, denn das nützt mir nichts. Ich will nur Ben wiederhaben, ich kann Tag und Nacht an nichts denken als an Ben.«
»Das merkt man«, erwiderte Jo. »Obwohl ich nicht glaube, dass du tatsächlich Tag und Nacht an Ben denkst. In Wirklichkeit, Kathi, denkst du Tag und Nacht an dich.«
Solange Katharina denken konnte, war dies das erste Mal, dass die stille Jo sie kritisierte. Ungläubig starrte sie sie an.
»Wenn du nicht willst, brauche ich nicht weiterzusprechen«, sagte Jo. »Du bist mir lieb, daran ändert sich nichts.«
»Hör mal, falls das alles darauf abzielt, dass ich nicht mit dir zu deiner Gerlinde komme …«, fing Katharina an, brach aber ab, als sie sah, wie Josephine den Kopf schüttelte.
»Es hätte mir viel bedeutet, wenn du mitgekommen wärst«, sagte sie. »Aber dass ich dir wichtig genug dazu bin, habe ich sowieso nicht für möglich gehalten.«
»Jo!«, rief Katharina, doch Jo schüttelte noch einmal den Kopf.
»Schon gut. Ich kann damit leben.«
Katharina seufzte. »Also komm, sag’s mir. Warum meinst du, ich denke Tag und Nacht nur an mich?«
»Wir sind im Krieg«, antwortete Jo. »Die Nordamerikaner blockieren Mexikos Küste, und unsere Eltern machen sich Sorgen. Daran zum Beispiel denkst du keinen Moment lang.«
»Du meinst wohl, dein Vater macht sich Sorgen«, erwiderte Katharina. »Und der würde sich noch Sorgen machen, wenn hundert Jahre Frieden herrschte und ihm das Geld bis zum Hals stünde. Mein Vater dagegen sagt, wir haben reichlich Rücklagen, um die paar Wochen Blockade durchzustehen, und meine Mutter sagt, dieser Krieg geht uns nichts an.«
Jo hatte zu lächeln aufgehört. »Es ist nicht böse gemeint«, sagte sie, »aber ich glaube, deine Mutter denkt auch recht viel an sich. Wie kann sie sagen, der Krieg gehe uns nichts an? Leben wir nicht in diesem Land, sind die Leute, die in diesem Krieg sterben, nicht unsere Nachbarn? Bei Gerlinde beten wir für sie. Auch für die Nordamerikaner, denn viele von ihnen sind Protestanten wie wir.« Katharina wollte zu einer Entgegnung ansetzen, doch dieses eine Mal war Josephine schneller. »Du bist verwöhnt, Kathi. Deine Eltern haben dir beigebracht, dass die ganze Welt sich um dich dreht. Das ist nicht deine Schuld, und es hat auch etwas Liebenswertes, aber wenn ein Mensch es anders sieht, wirst du das hinnehmen müssen. Du sagst, du denkst an Ben. Würdest du jedoch wirklich an ihn und nicht an dich denken, dann würdest du ihm die Ruhe lassen, die er sich offensichtlich wünscht.«
Von dieser Seite hatte Katharina es nie betrachtet. »Aber ich muss ihm doch sagen, dass es mir leidtut«, verteidigte sie sich.
»Für wen musst du? Für dich oder für Ben? Wenn er das alles vergessen möchte, ist das nicht verständlich? Solltest du es nicht respektieren, da dir so viel an ihm liegt?«
Katharina überlegte. Jos Erklärung klang so schlicht und einleuchtend, dass sie sich ihr kaum entziehen konnte. Wenn Ben sie nicht mehr kennen, wenn er seine Zeit mit Miguel und den beiden Mädchen verbringen wollte – hatte er darauf nicht ein Recht? Andererseits tat der Gedanke, ihn aufzugeben, so weh, dass sie erschrak. Jäh sah sie ihn vor sich, wie er erhitzt vor Zorn die Treppe hinaufgestürmt war, das Haar wirr, die schwarzen Augen funkelnd. Das Bild weckte in ihr ein solches Verlangen, ihn wiederzuhaben, dass ihre Fäuste sich ballten. Jo hatte recht. Sie war es gewohnt zu bekommen, was sie wollte, und dass es gerade diesmal misslingen sollte, ertrug sie nicht.
»Wenn es so ist, soll er mir das ins Gesicht sagen«, erklärte sie und stand auf. »Er ist lang wie der Hermann und hat Schultern wie ein Ringkämpfer, er sollte kein Feigling sein, der sich vor Mädchen versteckt, sondern Manns genug, mich anzuhören. Will er mich dann immer noch wegschicken, mag er es meinetwegen tun.«
Falls Jo noch etwas sagte, hörte sie es nicht mehr, denn sie rannte die Treppe hinunter und aus dem Haus. Wie üblich achtete bei Onkel Christoph und Tante Inga kein Mensch darauf, was sie tat. Für gewöhnlich musste sie die Lise bestechen, wenn sie sich auf die Jagd nach Ben begab. Die Lise sagte der Mutter, sie habe Katharina zur Englischstunde begleitet, und das Geld, das die Mutter ihr für den Unterricht gab, durfte Lise behalten. Sie sparte es. Für eine Passage in die Heimat, sagte sie. Außerdem gewann sie auf diese Weise ein wenig freie Zeit, wenngleich Katharina keine Ahnung hatte, womit eine alte Jungfer wie Lise ihre Zeit verbrachte. Sie war nur froh, dass die Lise sich auf den Handel einließ – und noch froher, dass heute kein Handel nötig war.
Ihre Mutter würde glauben, sie sei bei Jo, und vor ihr dehnte sich ein Nachmittag in Freiheit. Was sollte sie tun? Noch einmal zu Bens Wohnhaus gehen, um sich mit der gehässigen Wirtin anzulegen? Nein, besser, sie wartete vor der Halle des Tuchfabrikanten darauf, dass er herauskam, diesmal jedoch am hinteren Ausgang, damit er ihr nicht wieder entwischte.
Die Halle lag wie Bens Wohnung nicht weit vom Hafen, in einer Straße, in der es durchdringend nach Fisch roch. Das niedrige steinerne Gebäude hatte ein Flachdach, auf das die Sonne knallte, und die Gasse lag verlassen in der Mittagshitze. Nur eine gelbe Katze räkelte sich träge auf dem Pflaster, und fünf uniformierte Männer lungerten um eine vertrocknete Christuspalme herum und spielten mit einem Lazo. Zigarettenrauch umnebelte ihre Gesichter, und von Zeit zu Zeit drangen Stöße von Gelächter hinüber zu Katharina, die an der angelehnten Hintertür wartete.
Das Vordach war schmal, es spendete wenig Schatten. Katharina lief der Schweiß in Strömen. Warum nur zwang ihre Mutter sie in diese viel zu dicken Kleider, die sie aus der Heimat schicken ließ und die für norddeutsche Verhältnisse gefertigt waren? Sehnsüchtig lugte Katharina durch den Türspalt in die Halle, wo an mechanischen Webstühlen Männer jene leichten, billigen Stoffe fertigten, die zu tragen ihre Mutter ihr nie gestattet hätte.
In dem winzigen Ausschnitt, den sie überblicken konnte, war Ben nicht zu entdecken. Einer der Uniformierten rief zu ihr hinüber: »He, hübsches Herzchen, wohin darf es denn gehen?«
»Dahin, wo deine Schwester geht!«, versetzte Katharina kaltschnäuzig. Sie hatte einheimische Frauen so auf die Zudringlichkeiten von Männern antworten hören und instinktiv genauso reagiert – noch dazu in dem Jargon, den ihre Mutter Straßen-Spanisch nannte und zutiefst verabscheute. Die Männer lachten, aber sie ließen sie in Ruhe. Die Antwort machte ihnen deutlich, dass Katharina so ehrbar war wie ihre eigenen Schwestern und genauso erbittert verteidigt werden würde.
In der Halle begann die Glocke zu läuten, um die Arbeiter der Schicht zu entlassen. War Ben unter ihnen? Mühsam versuchte sie ihre Hoffnung zu bezähmen, was ihr wie üblich jedoch nicht gelang. Die meisten Arbeiter würden die Halle durch den Vorderausgang verlassen, doch eine Handvoll Männer quoll aus der Hintertür. Unschwer war ihnen anzusehen, wie erschöpft sie waren. Nachdem die kleine Gruppe schlurfend um die Ecke verschwunden war, kam noch ein einzelner Mann, ein Indio, nicht älter, aber gebeugter als Ben und bekleidet mit einem vergilbten, mehrfach geflickten Hemd.
Scheinbar im selben Moment gerieten die trägen Uniformierten in Bewegung. Einer von ihnen schwang die Schlinge des Lazos über seinen Kopf, warf sie aus und ließ sie zischend durch die Luft sausen. Der Indio schrie auf und sprang zur Seite, doch die Schlinge hatte sich bereits um ihn gesenkt und schnürte ihm die Arme an den Leib. Alle fünf Uniformierten zogen jetzt am Ende des Seils und legten ihr Gewicht hinein. Mit einem dumpfen Laut stürzte der Indio aufs Pflaster. Staub wirbelte auf. Die Männer lachten, dann begannen sie den Gefesselten über den Boden zu schleifen. Der zappelte wie ein gefangenes Tier, doch es nützte ihm nichts.
Nicht schon wieder, erhob sich eine Stimme in Katharina. Steh nicht schon wieder tatenlos dabei und gaffe!
»Lasst den Mann los«, schrie sie, so laut sie konnte. Ohne nachzudenken, sprang sie mit beiden Füßen auf das Seil.
Mit enormer Kraft wurde das Seil unter ihren Sohlen gezogen. Katharina geriet ins Schwanken, streckte die Arme aus, fand aber nirgendwo Halt und stürzte. Schmerzhaft schlug sie mit der Schulter auf, und gleich darauf wurde das Seil darunter weitergezogen. Katharina hörte, wie der Stoff ihres Kleides riss, und spürte die harten Fasern des Seils, die ihr wie eine Klinge in die Haut schnitten. Ein Schrei entfuhr ihr. Der Kopf des Mannes schlug gegen ihre Füße, und einer der Uniformierten stieß einen Fluch aus. Katharina krallte die Hände um das Seil. Egal, was jetzt mit ihr geschah, zumindest hatte sie diesmal nicht zugesehen und Unrecht kampflos hingenommen.
»Verzieh dich, du Früchtchen!«
»Los, ab mit dir, wenn du nicht willst, dass wir dir Beine machen!«
Aus dem Augenwinkel sah sie den Schatten, der über sie hinwegschoss. Qualvolle Herzschläge lang war sie sicher, es müsse sich um einen der Soldaten handeln, obwohl er aus der falschen Richtung kam. Gleich würde er sich auf sie stürzen, sie an den Haaren packen, irgendetwas Unvorstellbares tun. Tatsächlich beugte die Gestalt sich dicht hinter ihrem Kopf nieder. Sie sah eine Klinge blitzen, hörte den Schnitt, dann schwang das Ende des zerschnittenen Seils zurück und traf sie an der Schläfe. Es tat nicht weh. Sie brauchte mehrere Atemzüge, ehe sie begriff, dass sie nicht länger geschleift wurde, sondern reglos am Boden lag.
Der Mann, der das Lazo durchschnitten hatte, schrie die Soldaten an: »Schert euch weg und versucht das nie wieder!« Von dem Schwall Schimpfworte verstand Katharina nicht einmal die Hälfte. Aber die Stimme erkannte sie, auch wenn sie scharf und verändert war. Es war Bens Stimme. Die Männer schimpften zwar zurück, aber anschließend trollten sie sich. Ben wandte sich dem Mann am Boden zu.
»Du bist ein Idiot«, sagte er, reichte dem Liegenden die Hand und zerrte ihn grob in die Höhe. »Wie lange weißt du schon, dass die sich hier herumtreiben und dass wir allein besser nicht das Gebäude verlassen?«
Der Mann hielt den Kopf gesenkt und klopfte sich verlegen Schmutz von den Schenkeln. »Du gehst auch allein«, murmelte er.
»Das sieht nur so aus«, erwiderte Ben. »Und was ich tue, braucht nicht deine Sorge zu sein. Sieh dich in Zukunft vor, oder bist du scharf darauf, dich in irgendeinem Norden von Granaten zerfetzen zu lassen?«
Kleinlaut schüttelte der Mann den Kopf. »Danke.«
Ben hob die Hände. »Lass gut sein. Geh nach Hause.«
Der Mann nickte ihm zu und trottete davon. Jetzt dreht er sich zu mir um, durchfuhr es Katharina. Ihr Herz klopfte bis in den Hals. Er würde sie loben, ihr sagen, dass es ungeheuer mutig von ihr gewesen war, für den Mann in die Bresche zu springen. Ihre aufgeschürfte Schulter schmerzte, aber das war die Sache hundertmal wert. Ben drehte sich zu ihr um. Eisig durchlief es sie, als sein Blick sie traf.
Er hielt ihr die Hand hin. »Steh auf. Ich werde dich nicht noch einmal fragen, was du hier zu suchen hast. Ich werde dich auch nicht noch einmal warnen, denn offensichtlich pfeifst du auf alles, was ich sage. Ich habe heute auch keine Zeit, dich nach Hause zu bringen, aber ich muss ein Stück in deine Richtung. Also los, beeil dich. Zumindest bist du dann wieder in einer Gegend, in der man Kinder zur Not allein lassen kann.«
»Ich bin kein Kind mehr«, protestierte Katharina und kam sich mehr denn je wie eines vor.
Er zog die Hand zurück. »Wenn du nicht aufstehst, gehe ich.«
Mühsam rappelte sie sich auf die Füße, wobei ihr klar wurde, dass sie zum Gotterbarmen aussehen musste. Ihr Kleid war nicht nur an der Schulter, sondern den gesamten Ärmel hinunter zerrissen und außerdem grau vom Straßenstaub. Sie griff sich ins Haar und stellte fest, dass eine der Schleifen sich gelöst hatte und der Zopf dabei war, sich aufzudröseln. Wütend riss sie sich die zweite auch noch heraus. Sollte er ihr grässliches Haar doch sehen – wenn er sie nicht mochte, wie sie war, konnte er ihr gestohlen bleiben. »Du könntest wenigstens höflich sein«, beschied sie ihn hoheitsvoll, trotz des Drecks und der gelösten Zöpfe. »Du benimmst dich wie ein Gassenjunge, weißt du das?«
Hässlich lachte er auf. »Und ob ich das weiß. Ich bin einer. Jetzt schwatz nicht und komm. Wir Gassenjungen sind auf unsere Arbeit angewiesen, wir können die, die uns Brocken hinwerfen, nicht warten lassen.« Ohne sie noch einmal anzusehen, ging er die Straße hinunter. Katharina blieb nichts übrig, als ihm zu folgen.
Sie war groß und hatte zum Leidwesen ihrer Mutter nie gelernt, wie eine Dame zu trippeln, hatte aber dennoch Mühe, mit Bens langen Beinen mitzuhalten. Stets war er ihr um einen Schritt voraus, und sie bekam seinen schnurgeraden Rücken zu sehen, über dem sich der Hemdstoff spannte. Anders als bei den anderen Arbeitern war der Stoff schneeweiß. »Ben«, rief sie laut, als sie den Anblick des abweisenden Rückens nicht länger ertrug, »willst du wohl endlich auf mich warten?«
»Will ich nicht«, sagte er, ging im selben Tempo weiter und drehte sich nicht einmal um.
Der Zorn nahm ihr den Atem. »Ich hätte nie gedacht, dass du so ein Flegel sein könntest!«, stieß sie aus.
Immerhin gönnte er ihr über die Schulter hinweg einen Blick. »Gut, dass du es jetzt weißt«, sagte er. »Vielleicht hast du dann in Zukunft ja die Güte, mich in Frieden zu lassen.«
Durch den Dunst, der über der Stadt hing, brach Sonne und fiel auf sein Gesicht. Starr, wie in Bronze gegossen, sah es aus und die Narbe am Auge wie hineingekerbt. Auf einmal glaubte sie den erhobenen Messingknauf des Schirms zu sehen, der auf Bens wehrlosen Körper niedersauste, und dazu das Gesicht des Mannes, der ihn schwang – ihres Vaters Gesicht. Das Gesicht des sanftesten Mannes, den sie kannte.
Katharina wurde schwindlig. Ob wegen des Sturzes, der plötzlichen Hitze oder der Wucht der Erinnerungen wusste sie nicht. Sie taumelte gegen die Hauswand. Das grelle Licht blendete sie, bis sie die Augen schloss und nur noch tanzende Funken sah. Einen Herzschlag lang fürchtete sie, in Ohnmacht zu sinken. Mädchen ihres Alters, die zu schnell wuchsen, geschah das häufig, hatte Tilman Roedgen gesagt, als ihre Mutter, die sich seit Jettes Tod noch mehr sorgte, sie zu ihm geschleppt hatte. Katharina wollte nicht in Ohnmacht sinken, sie hatte Ben Schwäche genug gezeigt. Sie hasste ihn und seine Überheblichkeit, wollte den Kopf aufwerfen und ihn zum Teufel wünschen, doch im nächsten Augenblick spürte sie seine Arme um sich.
»Ichtaca.«
Mit einem Schlag waren all ihre Sorgen aus der Welt. Sie ließ sich gegen ihn fallen, schlang die Arme um ihn und klammerte sich an ihm fest. Sein Duft hüllte sie ein. Sie hätte sich ruhig fühlen sollen, aber in ihr war alles andere als Ruhe. Ihr Herz schlug bis in den Hals, ihre Finger bohrten sich in die Muskeln unter seinen Schulterblättern. Ichtaca, sang seine Stimme in ihren Ohren.
»Kannst du gehen, zumindest ein paar Schritte? Ich stütze dich. Dort bei der Mauer setzt du dich nieder, und ich hole einen Arzt.«
Katharina aber ging keinen Schritt. Ihr Kopf lag an seiner Brust, ihr Ohr lauschte seinem Herzschlag, und so wollte sie stehen bleiben, während alle Zeit der Welt verstreichen mochte. Sie spürte seine Angst und gönnte sie ihm, weil er so hässlich zu ihr gewesen war. Jo fiel ihr ein, die gesagt hatte, sie denke nur an sich, und auf einmal kam ihr das Gerede lächerlich vor. Was war denn falsch daran, nur an sich zu denken, waren nicht sie und Ben das Zentrum der Welt, der Mittelpunkt, den die Sonne in ihr Licht tauchte? Jäh war sie sicher, ein jedes Mädchen hätte mit ihr tauschen wollen, nicht nur die arme Jo, sondern auch Helene, Luise und jede Frau, die lebte, selbst die reichste und schönste.
Ben gab es auf, sie in Richtung der Mauer zu ziehen. Sacht drängte er sie nieder, half ihr, sich auf das sonnenwarme Pflaster zu setzen, und ging neben ihr in die Knie. Vorsichtig faltete er die Ränder ihres zerrissenen Ärmels auseinander und untersuchte die aufgeschürfte Haut. Sie sah, wie er den Kopf neigte, sah den Streifen bloßer Haut zwischen Hemdkragen und Haaransatz und legte blitzschnell ihre Hand darauf.
Er fuhr in die Höhe, als hätte sie ihn geschlagen. Ihre Blicke trafen sich. »Ichtaca«, sagte er, »woran ist deine Base Jette gestorben? Am Fieber?«
Katharina nickte.
»Du musst zu einem Arzt«, bestimmte er und wollte aufstehen. Sie aber hängte sich an ihn und schüttelte den Kopf. Tränen quollen ihr aus den Augen, dabei war sie doch nie so glücklich gewesen und hatte nie so wenig Grund zum Weinen gehabt. Es war wegen Jette. Ihr war zumute, als würde sie etwas erleben, das Jette sich gewünscht hatte und das Katharina an ihrer Stelle bekam. Ben hatte kein Taschentuch. Mit einem Finger strich er ihr die Tränen von den Wangen.
»Geht es dir besser?«
Sie nickte.
»Bist du sicher? War es nur der Schrecken?«
Ja, dachte sie, nur der Schrecken, aber sie meinte damit nicht den Mann, der mit einem Lazo eingefangen und zu Boden geworfen worden war, denn den hatte sie völlig vergessen, und erst jetzt fiel er ihr wieder ein. »Ben«, sagte sie, »warum haben die Soldaten das mit dem Mann gemacht?«
»Es sind Werber«, erwiderte er. »Sie suchen Idioten, die sich in diesen sinnlosen Krieg schicken und im Kugelhagel verheizen lassen. Einberufen werden kann jeder alleinstehende Mann zwischen achtzehn und vierzig, aber um sich keinen Ärger einzuhandeln, holen sie die, nach denen keiner schreit. Vagabunden. Entlassene Sträflinge. Indios. Kanonenfutter, das niemand braucht.« Seine Stimme, die so liebevoll geklungen hatte, war jäh wieder hart.
»Du musst auf dich aufpassen! Sie können auch dich holen!«
Er wandte sich ab und lachte unschön auf. »Ja, natürlich. Ich bin ja auch einer von denen, die niemand braucht. Das war mir wieder entfallen. Wir Gassenjungen haben eben nicht viel Verstand.«
»Hör auf!«, herrschte sie ihn an und fügte gleich darauf leiser hinzu: »Ich brauche dich. Deshalb habe ich dich gesucht, deshalb bin ich dir hinterhergelaufen, und deshalb habe ich Angst um dich.«
Mit einem seltsamen Ausdruck auf dem Gesicht wandte er sich ihr wieder zu. »Dazu besteht kein Grund«, sagte er. »Ich habe Schutz genug, um mich muss niemand sich sorgen.«
Das passte zu dem, was er dem Indio gesagt hatte – er gehe nicht allein, das sehe nur so aus. Aber er war doch allein! »Das verstehe ich nicht«, entgegnete sie. »Die Soldaten waren zu fünft, und du …«
»Es ist nichts, das du verstehen musst. Ich kann auf mich selbst aufpassen, ich brauche keine kleinen Mädchen dazu.« Damit stand er auf und sah auf sie hinab. »Und wenn du dich dann endgültig entschieden hast, doch nicht in Ohnmacht zu fallen, würde ich gern gehen. Zu spät komme ich ohnehin schon.«
Katharina war dermaßen überrumpelt, dass sie gehorchte. Er war, ohne sich nach ihr umzudrehen, losgegangen, und sie hatte von neuem Mühe, ihm zu folgen. »Ben!«, rief sie ihm hinterher, aber er drehte sich noch immer nicht um, und ihr fiel nichts ein, das sie ihm hätte sagen können. Schweigend trotteten sie durch die Hitze des Nachmittags, die Katharina auf einmal trostlos erschien. Die Straßen wurden breiter, die Häuser heller und die Mauern um die Gärten höher. Palmen spendeten Schatten, und Stille breitete sich aus. In dem Viertel, das ihrem eigenen benachbart lag, schien kaum ein Mensch unterwegs. Katharina kannte die Gegend. Sie war zumeist von wohlhabenden Kreolen und Engländern bewohnt, Kaufleuten, die ihre Familie als Konkurrenten fürchtete. Stefan hatte hier bei einem Geschäftsführer des Handelshauses Frank & Temperley Arbeit angenommen, obgleich seine Mutter es hasste. Eine entsprechende Stellung bei Deutschen gebe es für ihn nicht, hatte er ihr erklärt.
Abrupt blieb Ben stehen und wies in eine Gasse, in der drei weiße, ausladende Häuser in weitem Abstand voneinander standen. Auf das letzte in der Reihe zeigte sein Finger. »Dorthin muss ich. Kann ich dich von hier allein gehen lassen?«
»Nein«, erwiderte Katharina knapp. Du kannst mich nirgendwohin allein gehen lassen, nicht, bevor du wieder Ben bist und mir gesagt hast, dass du mich wiedersehen willst.
Ben seufzte. Widerstrebend machte er kehrt und eilte einem Zug Soldaten hinterher, die träge ihre Musketen in Richtung Hafen schleppten. Diese Soldaten in ihren buntgeflickten Uniformen gehörten neuerdings zum Straßenbild. Zwei von ihnen, die zuletzt gingen, waren Indios, und einen packte Ben am Arm und sprach auf ihn ein, als wäre er sein Befehlshaber. Er sah auch so aus, fand Katharina. Größer als jeder Mann im Trupp und in dem leuchtend weißen Hemd. Mit den beiden Indios im Schlepptau kam er zu Katharina herüber. »Nettes Ding«, bemerkte der, den er angesprochen hatte. »Deine Schwester?«
Katharina brach in Gelächter aus, weil die Vermutung so abwegig war. Wie konnte sie, eine Deutsche aus Hamburg, Bens Schwester sein?
»Die Tochter von früheren Dienstherren«, erwiderte Ben ohne Ausdruck. »Ihr bringt sie nach Hause, zu ihren Leuten. Es ist nicht weit. Und kein Geschwätz und Gegaffe, verstanden?«
Die Männer würden so nicht mit sich reden lassen, hoffte Katharina, sie würden mit dem Trupp, der auf sie wartete, davonziehen. Stattdessen trat einer der Männer vor und reichte ihr seinen Arm. »Na, dann wollen wir mal, hübsches Fräulein.«
»Kein Geschwätz, habe ich gesagt«, kam es schneidend von Ben. »Und deinen Arm lass stecken, gehen kann sie allein.«
Der Mann zuckte mit den Schultern. »Wie beliebt, Herr Giftzahn. Kaum zu glauben, dass du einen so umgänglichen Bruder hast.«
Ben jedoch schien ihn nicht länger zu bemerken. Er blickte nach dem weißen Haus am Ende der Gasse, in dessen Gartenmauer ein zweiflügliges Tor geöffnet wurde. Ein Bursche führte einen Rappen ins Freie, und dahinter folgte eine Frau im Reitdress. Die Frau war sehr blond und trug weder Tuch noch Hut. Ihr aufgestecktes Haar war nicht honigfarben wie das von Jette, sondern geradezu silbrig. In den hellen Reitkleidern bewegte sie sich mit der Selbstverständlichkeit einer Frau, die weiß, wer sie ist und wie viel ihr Wert beträgt. Sie griff nach dem Sattelknauf, um aufzusteigen, doch bevor sie das tat, bemerkte sie Ben. Katharina sah, wie beider Blicke sich trafen, und es versetzte ihr einen schmerzhaften Stich.
»Helen«, murmelte Ben.
Die schöne Frau hob den Kopf. »Ach«, ließ sie mit einem halben Lächeln fallen, »ich dachte schon, mein Pferdebursche hielte es heute nicht für nötig, sich zu zeigen.«
Über Bens Rücken, vom Nacken bis hinunter in die Taille, lief ein Zittern. Er schüttelte es ab, dann straffte er die Schultern. »Ich hatte anderes zu tun«, versetzte er so eisig, dass es, wenn er tatsächlich der Bursche dieser Frau war, einer Unverschämtheit gleichkam.
»Das sehe ich«, erwiderte die Frau süffisant und sandte Katharina einen Blick. »Nun komm schon, sei nicht beleidigt. Piers ist bis morgen früh unterwegs. Ich dachte, wir gönnen uns einen Ritt in die Vanillefelder.«
Noch einmal schüttelte Ben sich, dann ließ er Katharina mit den Soldaten stehen und ging zu der Frau. Die schickte den anderen Burschen zurück hinters Tor, gab Ben einen Klaps auf die Wange und stützte sich auf ihn, um aufs Pferd zu steigen. Schmerz und Zorn raubten Katharina den Atem. Dass der indianische Soldat ihren Arm nahm, bemerkte sie kaum. Auch dass auf der anderen Straßenseite jemand entlangging, den sie kannte und der sie ebenfalls zu erkennen schien, dann aber wie erschrocken weitereilte, nahm sie nur wie durch Nebel wahr.
Ben ordnete Zügel und Gurte, wobei die Frau sich niederbeugte und ihm durchs Haar fuhr. Kurz darauf kam der Bursche mit einem tänzelnden Braunen zurück, den Ben ihm abnahm, um sich hinaufzuschwingen. Seite an Seite ritten die beiden davon, die Frau lachend und Ben hoch aufgerichtet und stumm.
»Sie sollten schleunigst nach Hause«, sagte der Indio zu Katharina. »Die Hitze kann tückisch sein, und wie es aussieht, sind Sie nicht daran gewöhnt.«