16
Es ist Krieg, und ich bin jung.
Es ist Krieg, und ich bin toll vor Glück.
War das in allen Kriegen so, dass junge Mädchen in ihrem Glück durch die Straßen rannten, dass sie sich sorgten, nicht darum, wie der Krieg ausgeht, sondern darum, ob das rote Tuch ihnen steht und ob ihr grässliches Haar in den Flechten hält?
Es ist Krieg, und ich bin verliebt.
Es mag Krieg sein, am andern Ende der Welt, doch dieses Ende der Welt gehört mir.
Der Mutter die Lüge über Georgia Temperley zu erzählen, war ein genialer Einfall gewesen. Zusammen mit Stefan hatte Katharina ihn ausgeheckt: Sie hatte ihn bedrängt, ihr den Namen seiner Liebsten zu verraten, und als er ihr schließlich nachgegeben hatte, war ihnen die Idee gekommen. Anders als Tante Traude, die Stefan in den Ohren lag, er solle sich eine Stelle bei Deutschen suchen, hielt es Katharinas Mutter mit Onkel Fiete, der neulich aus der Zeitung vorgelesen hatte: »Der Brite ist vornehm, reserviert und besonnen und damit dem Hanseaten nicht nur im Blute verwandt.« Dass Stefan ihre Tochter in solche Gesellschaft mitnahm, war der Mutter recht, und somit konnte Katharina sich manch kostbaren Abend mit Benito stehlen.
»Warum ich dir bei diesem Irrsinn noch helfe, weiß der Himmel«, klagte Stefan wieder einmal sich selbst an, während sie sich an diesem Abend auf den Weg zu den Temperleys machten. Für den weiten Weg hätten sie den Wagen nehmen sollen, aber Stefan konnte nicht fahren, und sie hatten keinen Kutscher mehr.
»Weil du mein Freund bist«, erwiderte Katharina und stellte fest, dass das stimmte. Natürlich bedeutete Benito ihr unendlich viel mehr, aber Stefan war in diesen Wochen ihr Freund geworden, der Mitverschwörer, der ihr schönstes Geheimnis teilte. Sie hatten einen Bund der Verliebten gebildet, dem auch Luise und ihr Ichsager hätten angehören können, nur durfte Luise weder von Benito noch von Georgia etwas wissen.
»Wenn ich wirklich dein Freund wäre, müsste ich alles tun, um dir diese Verrücktheit auszureden«, bemerkte Stefan düster.
Katharina blieb stehen. »Und du glaubst, das könntest du? Versuch lieber den weißen Berg Orizaba zu verschieben. Könnte ich dir vielleicht deine Georgia ausreden? Könnte das irgendwer auf der Welt?«
Stefan, der ebenfalls stehen blieb, rieb sich die Stirn, als ließen sich dadurch die Gedanken beschleunigen. »Nein«, gab er schließlich zu. »Aber ich wünschte, jemand könnte es.«
»Warum?«
Sie war es von Stefan gewohnt, dass er bei jeder Antwort zauderte und ihre Geduld auf die Probe stellte. Diesmal aber kam seine Erwiderung schnell: »Weil ich mit dem, was ich tue, nicht nur mich gefährde. Hast du je daran gedacht, dass das für dich genauso gilt, Kathi?«
Sie hatte versucht, nicht daran zu denken. Weder an die Schläge mit dem Messingknauf, die sie noch immer auf Benitos Körper niederprasseln sah, noch an die Narbe in seinem Augenwinkel. Ich werde ihn beschützen, trumpfte sie trotzig auf, sooft sich bei Nacht die Gedanken nicht zum Schweigen bringen ließen. Bei Tag fühlte sie sich zumeist geborgen in der Glocke der Liebenden, in der Entdeckung und Bestrafung nicht möglich waren.
Offenbar hatte diesmal sie Stefans Geduld auf die Probe gestellt, denn er fuhr fort: »Ich mag diesen Burschen, auf den du dich versteift hast, gern.«
Das verwunderte Katharina, nicht nur, weil Benito einem Volk angehörte, das Stefans Mutter als Affen bezeichnete. Benito und Stefan waren einander einmal unweit des Temperley’schen Hauses begegnet, und dabei hatte Benito, der so viel verzückenden Zauber versprühen konnte, sich von seiner unleidlichsten Seite gezeigt. Tatsächlich hatte er Stefans Gruß kaum erwidert und sich betragen, als hätte kein Mensch ihn Manieren gelehrt. Katharina hatte ihn dafür gehörig ausgescholten, aber etwas in ihr freute sich diebisch daran, dass er seine Liebenswürdigkeit, seinen Charme und sein Lächeln nur ihr schenken wollte und niemandem sonst.
»Kathi?«
»Was ist denn?« Sie hatten den Treffpunkt fast erreicht, ihr Herz begann in hohen Sprüngen zu klopfen, und das Gespräch mit Stefan wurde lästig.
»Versprichst du mir eines?«
»Wenn ich kann.«
»Vergiss nie, dass dein Benito kein hübsches Spielzeug ist«, sagte er. Ehe sie zu einer scharfen Erwiderung ansetzen konnte, hauchte er ihr einen Kuss auf den Scheitel und bog in die Gasse ein, während Katharina an der Ecke warten musste. Er hatte das Tor fast erreicht, als er sich noch einmal umdrehte. »Übrigens, falls er Arbeit sucht, lass es mich wissen. Ich denke, ich kann bei den Temperleys mit jemandem reden.«
Mit jemandem, das hieß ja wohl mit Georgia. Stefans verklemmte Bemühungen, den Namen seiner Liebsten zu meiden, amüsierten Katharina, und ihre Wut auf ihn verpuffte. Weshalb sollte aber Benito Arbeit brauchen? Dass er die Tuchfabrik aufgegeben hatte, wusste sie, aber dafür unternahm er doch Ritte für die Armee, und außerdem hatte er seine Stellung bei der gottverfluchten Helen. Allerdings hätte sich Katharina kaum etwas mehr gewünscht, als dass er dort nicht mehr hinging. Und wenn sie hundertmal erst fünfzehn war – um zu wissen, dass diese Helen sich ebenso wie sie wünschte, mit Benito in einem Zimmer allein zu sein, brauchte sie keine weise Greisin zu sein.
Sobald sie Schritte hörte, fuhr sie herum und sah ihn die Straße heraufkommen, um die Schultern einen Sarape, der dunkelrot, zerschlissen und schön war. Die Staubwolke, die seine Sohlen aufwühlten, glühte im Abendlicht, und Katharina wünschte, der Daguerreotypist wäre da und hielte dieses Bild für sie fest, damit sie es anschauen konnte, wenn Benito nicht bei ihr war. Er blieb stehen und stutzte, im Mundwinkel die Spur eines Lächelns. »Worüber freust du dich denn so?«
»Über dich«, erwiderte sie schlicht, ging zu ihm und wünschte sich für ein paar Atemzüge gar nichts mehr.
Wieder einmal liefen sie quer durch die Stadt, versteckten sich, sooft ihnen Menschen entgegenkamen, in Höfen und Hauseingängen, schlugen Haken und verlangsamten ihre Schritte erst, als sie das düstere Hafenviertel voll verfallener Häuser erreichten, in dem niemand sich um sie kümmerte. Katharina machte es nichts aus. Sich verbergen zu müssen, in zwielichtigen Winkeln der Stadt herumzustreunen, gehörte zu dem Abenteuer ihrer Liebe.
Da sie angeblich ja zum Dinner eingeladen war, hatte sie daheim nicht zu Abend gegessen, und binnen kurzem meldete ihr Magen sich zu Wort.
»Benito?«
Er hob eine Braue.
»Was meinst du, könnten wir irgendwo essen gehen?« Der Gedanke gefiel ihr. In ihrem Leben hatte sie nie anderswo gegessen als in den Häusern ihrer Familie und ein paarmal mit Benito am Straßenverkauf. »Ich hatte kein Abendessen. Ich glaube, wenn du nicht mit mir einkehrst, muss ich vor Hunger sterben.«
Im Gehen musterte er sie. »Dass du so schnell stirbst, kann ich mir nicht vorstellen …«
Sie legte ihm die Arme um den Hals und kniff ihn in den Nacken. »Ach bitte, Benito! Ich möchte so gern mit dir am Tisch sitzen und Essen bestellen wie ein richtiges Paar. Luise hat neulich mit ihrem Ichsager in dem rosa Restaurant auf dem Zócalo gegessen, und die Kellner haben sie wie eine Dame behandelt und sie süßen Wein probieren lassen …«
»Dann hättest du eben auch einen Ichsager nehmen müssen«, herrschte er sie an. »Mit mir behandelt dich kein Mensch wie eine Dame, und der Wein, den du hier in den Spelunken bekommst, ist sauer wie Katzenpisse.«
Wenn sie erschrak, so ließ sie es ihn nicht merken. »Spiel dich nicht auf«, sagte sie. »Du hast noch nie Katzenpisse getrunken, und es hört sich albern an, wenn du so sprichst. Ich will mit dir zusammen sein, und ich habe Hunger, ist das zu viel? Ich habe dich schließlich nicht gebeten, mir die Welt zu Füßen zu legen.«
Er ging mit ihr in ein Lokal, das Perro Sucio, Der schmutzige Hund, hieß und zur Straße hin kein Fenster besaß. Es bestand aus einer Theke und fünf Tischen ohne Decken, kein Gast saß dort, und für Licht sorgten ein paar blakende Funzeln. »Du wirst glauben, ich wollte dich vergiften«, knurrte Benito.
Sie küsste ihn, obgleich der Alte hinter der Theke ihnen ungeniert zusah. »Ich finde es himmlisch«, sagte sie, und das entsprach der Wahrheit. Es war dunkel, es roch nach brennendem Harz und scharfen Gewürzen, und es besaß einen Winkel, in den sie sich mit Benito quetschen konnte, ihre Hände unter dem Tisch um die seinen geschlossen, so dass er sich vorbeugen und ihr sein Gesicht ausliefern musste.
Eine Handvoll Worte flogen zwischen ihm und dem Wirt hin und her, dann wollte er aufstehen, blieb jedoch in Katharinas Griff gefangen. Der Alte verschwand in einem Hinterzimmer und kam kurz darauf mit einem Tablett herübergeschlurft. Vor Katharina setzte er eine Schüssel mit Eintopf, und in die Tischmitte stellte er einen Krug und zwei Becher. Bezahlen ließ er sich von Benito sofort, der die Münzen einzeln aus dem Beutel klaubte.
»Isst du nichts?«
Benito schüttelte den Kopf.
Aus der Schüssel vor ihr stieg kein Dampf auf, aber der würzige Duft trieb ihr den Speichel auf die Zunge. In dem Eintopf schwammen Bohnen und Schoten und große Brocken der roten Kartoffeln, die die Sanne nie kaufen durfte. Mutig griff sie zum Löffel. Wie erwartet war das Essen nur lauwarm, aber der Sud war sämig, und jeder Bissen schmeckte ein wenig anders, die Bohnen pelzig und bitter, die Schoten scharf und die Kartoffeln wie Zucker. »Ich glaube, du willst mich doch nicht vergiften«, bekundete Katharina fröhlich. »Also los, du darfst mir auch vom Wein geben.«
»Darf ich nicht. Wenn sie hier wüssten, wie alt du bist, flögen wir beide hochkant hinaus.«
Sie küsste ihn, ehe sie seine Hände freigab. »Dann behandelst du mich besser nicht wie ein Wickelkind, sondern wie deine Liebste, der du galant den Becher füllst.«
Er tat es mit Widerstreben, schenkte den Becher halb voll und schob ihn ihr hin. Der Wein war nicht golden wie bei den Eltern, sondern rot. Dass sie den goldenen daheim nicht trinken durfte, brauchte Benito nicht zu wissen.
»Dir auch«, sagte sie, und als er nichts tat, füllte sie den Becher selbst. »Kannst du bitte nicht so störrisch sein, Benito? Ich will diesen Abend genießen, und wenn du dreinschaust wie ein Waldschrat, verdirbst du ihn mir.«
Er sagte noch immer nichts und machte auch keine Anstalten, den Becher zu nehmen.
»Woran denkst du denn?«, bedrängte sie ihn. »Womit plagst du dich herum?«
»Mit deiner Base Luise«, platzte er heraus. »Mit diesem Damen-Restaurant und dem süßen Wein.«
»Und was zum Teufel ist damit?«
»Damit zum Teufel ist, dass du dort sitzen solltest. Vor einer Speisekarte und umschwänzelt von Kellnern, die alle erpicht sind, deine Wünsche zu erfüllen. Und neben dir sollte ein goldblonder Mann sitzen, der dir zum Namenstag einen Ring schenkt.«
»Wir feiern nicht Namenstag«, fuhr sie ihn an und hätte ihm am liebsten einen Klaps auf den Mund verpasst. »Ich bin das alles leid. Wie oft soll ich dir noch sagen, dass ich den Ichsager nicht will und Luises Ring erst recht nicht und auch keinen blöden süßen Wein?« Wie zum Beweis nahm sie den Becher und schüttete den Inhalt auf einen Zug in sich hinein. Sie musste husten, versprühte einen Hagel von Tropfen und fürchtete zu ersticken. Benito sprang auf und klopfte ihr auf den Rücken, bis sie allmählich wieder zu Atem kam. Als sie erschöpft den Kopf gegen seine Taille lehnte, schloss er einen Arm um sie. »Ich habe es dir doch gesagt. Es ist Gift für dich. Schlimmer als Pulque.«
»Es war meine Schuld.« Ihre Stimme krächzte. »Ich habe ihn zu schnell hinuntergestürzt.«
»Kleinen Kindern soll man eben keinen Wein geben.« Ihre Finger, die ihn kratzen wollten, fing er, küsste jeden einzeln und ging zurück an seinen Platz.
Sie wünschte sich seit Monaten, er möge es ihr sagen. Sie lag nächtelang bei Kerzenschein, las eins von Onkel Christophs Büchern mit Liebesgedichten – ich denke dein, wenn sich des Mondes Flimmer in Quellen malt – und träumte von ihm. Er hingegen hatte ihr noch nie gesagt, dass er sie liebhatte, dass sie ihm mehr bedeutete als einen Zeitvertreib. Sie sehnte sich danach, es zu hören, aber jetzt, als er sich wieder in den Spalt zwischen den Tischen klemmte und beim Hinsetzen die Schultern beugte, sah sie es ihm an. Seine Liebe zu ihr und dazu einen Schmerz, der sich ihrem Verständnis entzog. Auf einmal glaubte sie Stefans Stimme zu hören. »Vergiss nie, dass dein Benito kein hübsches Spielzeug ist.« Sie wollte ihn in die Arme nehmen, mit ihrer Zärtlichkeit seinen Schmerz lindern, aber sie begriff, dass ihr das nicht gelingen würde. Stattdessen sandte sie ihm einen Kuss in Gedanken, nahm den Krug und schenkte ihren Becher wieder voll.
Der Wein war wirklich sauer. Wie viel zu frühe Johannisbeeren. Aber sie mochte ihn trotzdem. Hätte sie Zucker hineinrühren können, hätte er ihr köstlich geschmeckt.
»Pass auf, dass dir nicht der Himmel auf den Kopf fällt, während du das trinkst.«
»Und warum sollte der Himmel das tun?«
»Weil das Land, auf dem dieser Wein wächst, der katholischen Kirche gehört. Am Ende musst du noch Namenstag feiern, mit all dem papistischen Gesöff im Blut.«
Katharina ließ sich nicht beirren. »Warum kauft der Wirt seinen Wein von der Kirche? Ist er dort billiger?«
»Im Gegenteil. Er ist vermutlich so teuer wie der importierte Edeltropfen von deinem Ichsager, und der Wirt kauft ihn, weil er keinen anderen bekommt. Irgendwann im 17. Jahrhundert hat ein spanischer König den dreckigen Mexicas verboten, Wein anzubauen, weil er Angst hatte, wir könnten es lernen und am Ende den Wein des Mutterlandes übertrumpfen. Nur für Messwein wurde eine Ausnahme gemacht. Die Weinberge gehören noch immer der Kirche, und in Mexiko hat bis heute niemand gelernt, ordentlichen Wein zu machen, also lassen wir Léperos uns lieber mit Pulque volllaufen.«
»Du trinkst keine Pulque. Und was sind Léperos?«
»Arme Schlucker. Keine Ichsager.«
»Benito, kannst du mit dem Ichsager jetzt endlich aufhören? Ich freue mich für Luise, aber ich habe keine Ahnung, was sie an diesem Sigmund findet. Mich hat er zu Tode gelangweilt mit seiner Ichsagerei.«
Aus seinem Blick war all das Störrische, Stolze verschwunden. »Nein, Ichtaca«, erwiderte er und trank von seinem Wein, »ich glaube, ich kann damit nicht aufhören. Das bekommen wir Affenkinder doch mit der Muttermilch eingeflößt, dass wir nicht nach den Sternen greifen sollen, nicht nach den Halbgöttern, die heller und schöner sind als wir, denn die sind für uns nicht bestimmt. Wenn wir begehrlich nach ihnen blicken, holt uns La Llorona und ersäuft uns wie die Ratten im Fluss.«
Er konnte solche Dinge beißend vor bösem Zynismus sagen, aber heute lag in seiner Stimme nur Traurigkeit. Katharina ergriff seine Hand, legte sie sich an die Wange und liebkoste sie, wie sie gern alles von ihm liebkost hätte, seine Augen, seine Schultern, sein Herz. Das Wort – La Llorona –, das in ihrer Familie für entsetztes Erstarren sorgte, nahm sich daneben klein aus. Aber wissen wollte sie es dennoch. »Sagst du’s mir?«, bat sie ihn.
»Was?«
»Warum La Llorona euch im Fluss ertränkt, wenn ihr … wenn ihr Menschen liebt, die heller sind als ihr.«
»Weil sie das auch getan hat, oder? Sie hat einen Mann gewollt, der nicht für sie bestimmt war. Er kam in ihr Land, um es ihrem Volk wegzunehmen, und sie wollte ihn, obwohl sie ihn für einen Gott hielt und sie nicht mehr als eine pfefferfarbene Menschin war.«
»Und was ist ihr geschehen?«, fragte Katharina leise.
Benitos Braue zuckte. »Was soll schon geschehen sein? Ihr Gott hatte sich bald genug mit ihr vergnügt und ließ sich eine hübsche weißhäutige Frau aus seiner Heimat kommen.«
»Und die Llorona?«
»Die hat vor Schmerz ihr bisschen Verstand verloren. Um den Gott zu strafen, hat sie den Sohn, den sie von ihm hatte, ertränkt. Seither muss sie umherziehen und ohne Unterlass um ihn weinen, und Kinder, die solche Idioten sind, wie sie es war, sackt sie ein und wirft sie in den Fluss, weil die’s nicht besser verdienen.«
Katharina hatte die Geschichte Hunderte von Malen gehört, von ihrer Mutter wie von der Sanne, von Onkel Fiete wie von den munkelnden Basen. Immer hatte sie ihr Schauder über den Rücken gejagt, und in mancher Nacht hatte sie gefürchtet, das grausige Heulen der Mörderin zu hören. Benitos Geschichte jedoch erschien ihr kein bisschen grausig. Sie erschien ihr nichts als traurig.
Er trank wieder Wein. Sein Lachen klang unschön. »Ich kann deine Gedanken lesen. Bei allen Himmeln, denkst du, warum habe ich mich nur mit diesem abergläubischen, heidnischen Mexikaner eingelassen?«
»Nein, das denke ich nicht«, widersprach sie, auch wenn er ihr nicht zuhörte.
»Falls dich das tröstet, in Wirklichkeit glaube ich an das ganze Zeug einen Dreck«, trumpfte er auf und trank noch mehr Wein.
»Woran glaubst du einen Dreck? An La Llorona?«
»Ach, von La Llorona gibt es tausend Geschichten«, erwiderte er wegwerfend. »Jeder denkt sich seine eigene aus und biegt sie sich so zurecht, wie es ihm passt, um seine Kinder oder Weiber im Zaum zu halten. Diese ist nur eine von vielen. Die mexikanischste und damit vermutlich die verrückteste, in die tausend andere Geschichten wie in Maisbrei hineingequirlt sind.«
»Und woran glaubst du dann nicht?«
»An die beliebte Legende von den dämlichen Mexicas, die im Schlamm hausten und den einrückenden Spanier Cortez für ihren heimgekehrten Gott hielten, weshalb sie auf die Knie stürzten und ihm ihr Land auf dem Tablett überreichten. Dieses Land ist erobert worden, wie alle Länder erobert werden. Ohne Götter. Mit Waffen und Blut.« Er sah aus, als wollte er in den Wein spucken oder den Becher, den er in seinen schönen Händen drehte, zerdrücken.
Die Tür des Lokals wurde aufgerissen, und lautes Volk begann in den Schankraum zu strömen. Scharen besetzten die leeren Tische und brüllten nach dem Wirt. Benito stellte den Becher ab. Von seinen Fingern rann ein Zittern bis hinauf zur Schulter. »Macht es dir etwas aus zu gehen?«, fragte er. »Ich habe Angst, zu viel zu trinken. Ich bin dazu nicht Manns genug.«
Ihr war alles recht, jeder Ort, jede Bedingung, solange er nicht darauf bestand, sich jetzt von ihr zu trennen. Er führte sie aus dem Lokal, legte besitzergreifend den Arm um sie und ging schnellen Schrittes mit ihr durch die Nacht. Wohin er wollte, sagte er nicht, und dass ihnen Menschen begegneten, schien ihn nicht zu stören. Von mir aus könntest du gern öfter zu viel trinken, dachte sie im Stillen und grub die Finger in das harte Fleisch seiner Taille, was Kraft kostete und köstlich war.
Als er nach einer Weile noch immer nicht sprach, fragte sie: »Dieser Gott aus der Legende, an die du nicht glaubst, ist das die gefiederte Schlange, von dem du mir einmal erzählt hast, er habe sein Blut vergossen, um uns Leben zu geben?«
Benito nickte.
Wie hatte Onkel Fiete an Weihnachten gesagt? Möge die Rache der gefiederten Schlange, die uns so schwer geschlagen hat, befriedigt sein und euch verschonen. »Benito, wofür rächt sich der Schlangengott? Warum glaubten deine … deine Vorfahren, dass er wiederkommt?«
Er verlangsamte seinen Schritt und sah ihr mit erhobener Braue ins Gesicht. »Weshalb fragst du mich eigentlich nach all diesen Dingen? Dabei geht es doch um Mexiko – um dieses verdrehte, unordentliche Land, das euch nicht betrifft.«
Sein Ton verletzte sie. Sie stieß ihn von sich und begriff gleich darauf, dass er recht hatte. Er zuckte mit den Schultern und ging weiter.
Sie rief ihn zurück, rief seinen Namen durch die samtene Luft der Nacht. Als er sich nicht umdrehte, kamen ihr die Tränen, sosehr sie sich beschwor, sie habe zum Weinen keinen Grund. Halbblind lief sie ihm hinterher, packte den roten Sarape und riss ihn von seinen Schultern. Er drehte sich um, sah, dass sie tränenüberströmt war, und schloss sie in die Arme.
Als Kind hatte Katharina kaum je geweint. Jetzt erlebte sie einen wahren Wolkenbruch wie in der Nacht, als sie mit dem Blut an den Beinen erwacht war, und genau wie damals wusste sie nicht, warum sie weinte. Nur dass es guttat, dass Benito sie festhielt, und dass die Stöße, die sie schüttelten, irgendwann leichter wurden. Als sich ihr Atem beruhigte, fühlte sie sich wie frisch gewaschen. Sie hob den Kopf, wurde sich klar, wie furchtbar sie aussehen musste, und wollte ihn gleich wieder senken.
Er aber legte ihr eine Hand unters Kinn und zwang es in die Höhe. Mit der freien Hand zog er ihr die Schleifen aus den Zöpfen und löste ihr die Flechten, Strähne um Strähne, so langsam, als würde er einen Genuss lange ausdehnen. »Ichtaca«, sprach er dabei vor sich hin, »wenn ich nur halb so verdorben wäre, wie ich bin, würde ich dich jetzt nach Hause bringen und nicht wiederkommen, damit du nicht noch mehr Schaden nimmst.«
Katharina fröstelte. Er sah es, hob den Sarape, der zwischen ihnen auf dem Boden lag, auf und legte ihn um ihre Schultern. Sie spürte den rauhen dichtgewebten Stoff und die Wärme, die von seinem Körper stammte, und fühlte sich so sehr daheim wie niemals zuvor. Sie blickte sich um, sah die niedrigen, vom Staub grauen Häuser und die hohen Kronen der Sumpfzypressen, die sich im Nachtwind wiegten, nahm in der Luft die Fülle der Blütezeit wahr, deren Ende jetzt, im Februar, nahte, und dachte: Das ist meine Stadt. Veracruz. Wie schön der Name klang und wie geheimnisvoll und vielgesichtig die Stadt war. Sie war ein Teil davon. In diesem Jahr, in dem sie Benito gesucht und gefunden hatte, hatte sie sie sich Schritt um Schritt erlaufen, erwittert, ertastet und erstürmt.
»Ich nehme von dir keinen Schaden, Dummkopf«, sagte sie, schob ihm das Hemd von der Schulter und küsste seine Haut. »Ich werde ganz durch dich. Ich glaube, deshalb habe ich weinen müssen, auch wenn es fürchterlich schwierig ist, das zu erklären. Es fühlt sich an, als würde bei allem, was ich tue, nur eine Hälfte von mir leben. Das war schon immer so. Ob bei den Eltern, in Doktor Messerschmidts komischem Unterricht oder bei den Vettern und Basen, ich bin nur zur Hälfte da, und die andere Hälfte kennt kein Mensch, nicht einmal ich. Wenn ich mit dir zusammen bin, bricht die andere Hälfte aus mir heraus, und ich glaube, deswegen weint sie – weil sie ewig eingesperrt war und sich verstecken musste und weil sie mir so fremd ist.«
Angst packte sie, er werde über sie lachen, aber als er es tat, war sein Lachen silbern vor Zärtlichkeit. »Die eine Hälfte von dir bringe ich jetzt nach Hause«, flüsterte er an ihrem Ohr. »Es sei denn, du möchtest, dass deine Mutter bei Georgia Temperley vorspricht und die Herausgabe ihrer Tochter verlangt. Die andere Hälfte, die, die weint, behalte ich hier. Bei mir.«
Sie schmiegte sich an ihn, und er hielt sie im Arm. So gingen sie langsam durch die belebten Straßen zurück, versunken, als wären sie allein. Nach einer Weile fragte Katharina: »Du glaubst mir, nicht wahr? Du weißt, dass es so ist, wie ich gesagt habe, auch wenn es noch so verdreht klingt?«
»Ja«, antwortete er. »Aber es wäre mir lieber, ich würde es nicht glauben. Diese andere Hälfte von dir bleibt womöglich besser versteckt und stirbt irgendwann ab. Wenn du sie leben lässt, wird sie dir weh tun, Ichtaca.«
»Und warum? Ist das die Rache der gefiederten Schlange?«
»Ja, vielleicht.«
»Aber wofür rächt sich denn der Schlangengott, wer hat ihm etwas getan?«
Er sandte ihr einen funkelnden Blick, und sie war nicht ganz sicher, wie viel daran Scherz und wie viel Ernst war. »Eine schöne Frau hat ihm mit Alkohol das Hirn vernebelt und ihn verführt.«
»Und das fand er so schlimm, dass er finstere Rache schwor? Weißt du, was ich denke? Dein Schlangengott ist mächtig kleinlich.«
In seinem Mundwinkel verbarg sich ein Schmunzeln. »Quetzalcoatl«, sagte er.
»Wie bitte?«
»Wenn er dich schon so fesselt – er heißt nicht dein Schlangengott, sondern Quetzalcoatl. Und es wird behauptet, er habe den Menschen nicht nur sein Blut, sondern auch den Pulque geschenkt, damit sie tanzen.«
Quetzalcoatl – das klang wie eines der Worte, die er sich ausgedacht hatte, als sie Kinder waren. Sie fand es schön. Sie würde üben, es nachzusprechen. Sie hatten den Saum der Siedlung beinahe erreicht, einen mehr als mannshohen Strauch mit leuchtend orangeroten Blüten, der einst die Grenze ihrer Welt markiert hatte. Hier hinterlegten sie einander Botschaften, um Treffen zu vereinbaren, und für gewöhnlich trennten sie sich hier, aber heute zog sie ihn in den Schutz des Strauchs zurück. In der Nacht war der Duft der Blüten betörend. Sie würden bald welken, doch zuvor vergeudeten sie noch einmal jeden Funken ihrer Kraft. Katharina küsste Benito auf Augen und Lippen und wünschte sich, ihre Küsse würden dort liegen bleiben und ihn die Nacht hindurch liebkosen. »Egal, wie er heißt, dieser Gott«, flüsterte sie, »kleinlich ist er doch.«
»Das kannst du gar nicht beurteilen, Señorita Sabelotoda. Diese Geschichte hat nämlich auch zwei Hälften.« Er küsste sie. »So wie du.«
»Ich hab dich lieb«, sagte sie, »mit meinen beiden Hälften.«
»Nein, das glaube ich nicht«, erwiderte er und schob sie sachte von sich. »Das ist nur die eine, die das tut, aber vielleicht genügt die mir ja, vielleicht habe ich ja auch nur die eine lieb. Und jetzt geh nach Hause, meine Cempoalxochitl, mein süßes, tollkühnes, zweigeteiltes Mädchen.«
Sie wollte ihn dazu bringen, ihr für morgen ein Wiedersehen zu versprechen, aber er weigerte sich, noch ein Wort zu sagen, lachte und schickte sie auf den Weg. Erst als sie ihn außer Sichtweite wusste und schon das Dach ihres Hauses aufragen sah, bemerkte sie, dass sie die Haare offen und Benitos Sarape noch über den Schultern trug. Es war, als ginge für diesmal die andere Hälfte von ihr nach Hause. Die, die eingesperrt war. Die, der Benito gesagt hatte, er habe sie lieb. Geradezu gewaltsam wünschte sich diese Hälfte, zu ihm zurückzulaufen und ihm zu sagen, dass sie auf die erste Hälfte verzichten konnten, dass sie nur diese wollte, die zu ihm gehörte. Zu Veracruz und zur Llorona, zum sauren Wein von der Kirche, zur gefiederten Schlange und zu dir.