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»Dieses eine Mal musst du es tun«, hatte Marthe gesagt. »Wie wir es vor dreißig Jahren vereinbart haben. Dieses Mal kannst du es nicht mir aufbürden. Ich habe meine Kraft verbraucht, um unser kleines Mädchen zu schützen, und wenn du jetzt nicht einspringst, dann war alles umsonst.«

Christoph hatte mit stocksteifen, fühllosen Händen ihr Haar gestreichelt und ihr mit einer Stimme, die ebenso steif und fühllos war, versichert: »Ich werde es tun, Marthe. Ich erkläre ihr alles, wie wir es besprochen haben, das verspreche ich dir.«

»Du bringst sie mir wieder, nicht wahr?« Marthe weinte. »Du holst sie von der Mestizin weg und bringst sie mir zurück?«

Noch einmal gab ihr Christoph sein Versprechen. Wie er es anfangen sollte, war ihm völlig unklar, aber dieses eine Mal würde er nicht zögern, alles zu versuchen.

Nach jenem Abend, an dem alles zu Bruch gegangen war, hatte Katharina die Burg verlassen. Um das Entsetzen zu steigern, hatte auf einmal Felice im Raum gestanden und verkündet, sie wolle mit Katharina gehen. Die benommene Katharina war nicht in der Lage gewesen, sich um sie zu kümmern, und Felice war einfach hinter ihr hergelaufen, bis Josephine ausgerufen hatte: »Das tust du nicht. Ich verbiete es!«

Christoph glaubte nicht, zuvor je erlebt zu haben, dass Josephine dem Mädchen etwas verbot. Sie hatte es am Arm ergriffen, und als die Kleine sich mit einem Ruck befreite, sprangen ihr erst Hermann und dann Torben und Friedrich bei. Es hatte etwas Widerwärtiges, zuzusehen, wie ein Mädchen mit Gewalt niedergeworfen und gegen seinen Willen davongeschleift wurde, selbst wenn man wusste, dass es zu seinem Besten geschah. Damals, bei Katharina, hatte er sich hinter einen Baumstamm geflüchtet, damit die verzweifelt Weinende nicht bemerkte, dass er dabei war und ihre Erniedrigung mit ansah.

Dieses Mal konnte Katharina niemand niederwerfen, ihr die Arme auf den Rücken drehen und sie mitschleifen, während sie in die Nacht hineinschrie, dass sie den jungen Mann, dem sie entrissen wurde, über alles liebte, dass er laufen sollte, nicht sterben und nicht töten. Ich werde dich immer lieben, Benito, bitte lauf doch, lauf! Bis heute hörte Christoph die Schreie. Diesmal aber war Katharina ohne zu schreien zu ihrer Freundin, der Tochter des Barons, gezogen, die in Guerilla-Aktivitäten verwickelt sein sollte. Den Mann, der ihr gerade einen Heiratsantrag gemacht hatte, wollte sie nicht sehen. »Kathi hat mich um Zeit gebeten«, hatte Stefan Christoph erzählt. »Sie sagt, sie kann an keine Heirat denken, solange ihre Herkunft ihr ein Rätsel ist.«

»Und du lässt sie gewähren?«, fragte Christoph und kam sich lächerlich vor, denn was hätte er an Stefans Stelle getan? »Glaubst du nicht, du könntest ihr helfen, wenn du an ihrer Seite wärst?«

Mit jener resignierten Traurigkeit, die Christoph allzu gut von sich selbst kannte, sah Stefan ihn an. »Dass ich die Wahrheit kenne, macht nichts leichter«, sagte er. »Meine Mutter hat sie mir erzählt – damals in Veracruz. Was soll ich tun? Sie belügen oder euch verraten? Hinzu kommt, dass ich mir nicht sicher bin, ob man mit solcher Wahrheit überhaupt leben kann.«

Christoph begriff, dass er es nicht nur Marthe und Katharina, sondern auch Stefan schuldig war, den Schritt zu gehen. Der junge Mann glaubte die Wahrheit zu kennen – wie vielen ging es ebenso? Die Wahrheit schien der riesenhaften Pyramide des Schlangengottes zu gleichen, die in Stufen gebaut war – ein jeder nahm an, auf der obersten Stufe zu stehen, doch dort oben, wo einst Menschen in ihrem Blut geopfert worden waren, standen er und Marthe allein. Dort durfte kein Menschenopfer mehr erbracht werden! Er musste tun, was sie für den Notfall vereinbart hatten, er hatte sein Wort darauf verpfändet.

Katharina versah nach wie vor ihren Unterricht im Deutschen Haus, aber dort ließ sie sich nicht abfangen. Mithin nahm Christoph den Wagen des Geschäfts und fuhr hinaus nach Chapultepec. Dort, am Fuß des Hügels, wo von üppigen Wäldern umgeben das einstige Schloss der Vizekönige von Mexiko stand, hatte Claudius von Schweinitz seinen Landsitz, ein breitfrontiges, weiß verputztes Haus im Kolonialstil. Der Garten, den seine Frau pflegte, war ein mit natürlichen Wasserläufen, saftigem Grün und duftenden Blüten angelegtes Eden. Auf einem gepflasterten Rondell standen die in den Tropen so beliebten Korbmöbel, und dort empfing ihn der Baron. »Gleich zur Begrüßung muss ich Sie enttäuschen«, sagte er. »Meine Tochter ist nicht hier. Meine Frau und ich fanden, Jung und Alt unter einem Dach beschwöre Krisen geradezu herauf. Deshalb hat Martina ihren eigenen Haushalt in der Stadt.« Als Christoph nichts zu sagen wusste, weil ihm die Welt des Mannes so fremd war, hob der Baron die Brauen. »Sie wollten doch zu meiner Tochter? Falls Sie wegen der Sache mit der Seide gekommen sind – vergessen Sie’s. Mir sind auch schon Summen im Mictlan verschwunden, ohne dass es eine Erklärung dafür gab. Sie haben andere Sorgen. Wollen Sie sich nicht setzen?«

Christoph setzte sich und ließ sich von dem angebotenen Getränkewagen ein geeistes Glas Weißwein einschenken. Er neigte nicht dazu, andere zu beneiden, weil er sich das Leben, das er führte, selbst eingebrockt hatte, aber er neidete dem Mann im hellen Anzug und Strohhut seine Seelenruhe. »Wissen Sie etwas von Katharina?«, brachte er heraus.

»Sie ist wohlauf.« Claudius von Schweinitz lächelte. »Dass meine Tochter keine Pura aus ihr macht, kann ich nicht versprechen, aber ansonsten tun die beiden einander gut, denke ich.«

»Hat sie … hat sie gesagt, wann sie zur Familie zurückkehrt?«

»Liegt das nicht in Ihrer Hand?« Der helle Blick des Barons traf den seinen. »Herr Hartmann, wie Sie und die Ihren miteinander umgehen, obliegt Ihnen, nicht mir. Aber Ihre Katharina ist mir ans Herz gewachsen. Erlauben Sie mir zu fragen: Hat sie kein Recht darauf zu wissen, woher sie stammt? Wie soll sie es wagen, eine Familie zu gründen, solange sie nicht weiß, wer sie ist?«

»Sie ist Katharina Lutenburg«, erwiderte Christoph spontan. »Peters und Marthes Tochter, ein Mitglied unserer Familie. Bitte glauben Sie mir, das ist sie immer gewesen. Wir haben sie nicht weniger geliebt als – unsere übrigen Kinder.«

»Aber Sie haben einen Unterschied gemacht«, gab der Baron zu bedenken. »Es gibt Katharina, und es gibt die übrigen Kinder. Sind Sie sicher, dass sie davon nie etwas gespürt hat?« In den Baumkronen lärmten Vögel mit rotem, orangegelbem und königsblauem Gefieder. Claudius von Schweinitz stopfte seine Pfeife, steckte sie an und lehnte sich wohlig zurück.

»Wie haben Sie das geschafft?«, platzte Christoph heraus. »Hier Fuß zu fassen, meine ich, hier zu leben, als wären Sie daheim.«

»Ganz einfach.« Der Baron lächelte. »Ich bin hier daheim. Wissen Sie, was ich glaube, Herr Hartmann? Man kann sich kein neues Land zu eigen machen, wenn man es nicht mit Armen wie Baumwurzeln und mit dem Herzen einer Jungfrau umfängt. Wie können Sie schneebedeckte Vulkane, die Endlosigkeit einer Steppe und die Demut unter rauschenden Zypressen lieben, wenn Sie sich nach Seenebeln und Salzwiesen, nach Sanddorn und Dünenrosen sehnen? Wie sollen Sie sich eine feurige Chili Tamale schmecken lassen, wenn Ihr Gaumen von Krabbenfrikadellen träumt?«

»Tut der Ihre das nie?«, fragte Christoph leise.

Claudius von Schweinitz zog an seiner Pfeife. »Doch, oft«, erwiderte er. »Aber wenn ich ihm einen in Cilantro und Zitronenpfeffer gebackenen Schwertfisch vorsetze, lässt er sich im Handumdrehen trösten. Ich stelle es mir höchst schmerzlich vor, sein Land zu verlassen, wenn man mit einem Fuß dort stehen bleibt. Für diesen Spagat haben Sie mein Mitgefühl. Wer einen Ort nicht verlassen will, kann sich schlecht darüber freuen, an einem anderen anzukommen.«

»Wir wollten mit beiden Füßen stehen bleiben«, murmelte Christoph. »Den Kindern beibringen: Auf der anderen Seite der Welt ist die Heimat, und irgendwann gehen wir dorthin zurück. Sie sollten wissen, wo sie hingehören.«

»Katharina besonders?«

»Ja, Katharina besonders. Sie sollte sich nicht zerrissen fühlen.«

»Herr Hartmann«, sagte Claudius von Schweinitz, »glauben Sie, meine Tochter fühlt sich zerrissen?«

Christoph brach der Schweiß aus den Poren. »Aber Ihre Tochter ist eine …«, entfuhr es ihm, ehe er verstummte.

Der Baron lachte. »Es macht Sie sympathisch, wie Sie ständig versuchen Worte zu vermeiden, um nur ja nichts Falsches zu sagen, aber es kommt mir auch reichlich anstrengend vor. Warum sprechen Sie es nicht aus? Meine Tochter ist eine Mestizin. Ein Mischling. Na und? Dieses Schicksal teilt sie mit einer Schar machtvoller Gestalten der Weltgeschichte, von den Titanengöttern angefangen. Wir haben sie nach Martin, dem Sohn der Malinche, benannt, weil wir ihr wie ihm die Kraft und den Reichtum zweier Völker wünschten. Ja, vielleicht ist das Leben härter, wenn man in keinen der gängigen Schübe passt, aber steckt es nicht auch voller Möglichkeiten? Nehmen Sie nur Martina als Beispiel – da sie ohnehin gegen jede Konvention verstößt, darf sie ihr Leben führen, wie es ihr gefällt.« Nach einem weiteren Zug aus der Pfeife fügte er hinzu: »Sie wird sogar den Mann heiraten können, den sie sich selbst wählt, und niemand wird deshalb in Ohnmacht sinken.«

Martina ist reich, durchfuhr es Christoph. Was wusste Claudius von Schweinitz, der seiner Tochter jeden Stein aus dem Weg kaufen konnte? Vom Haus her sah er die Baronin kommen. Sie trug ein Kleid in so dunklem Rot, dass es beinahe schwarz war, und ein Tuch aus durchbrochener Spitze auf dem schönen aschgrauen Haar. Gewandt trat sie hinter ihren Mann und legte ihm die Hände auf die Schultern. Er schmiegte das Gesicht an ihren Arm. Was wisst denn ihr?, begehrte Christoph auf. Hätte ich euer Geld, euren Rückhalt, den Hort eurer Zärtlichkeit gehabt, ich hätte die Frauen meiner Familie lieben lassen, wen sie wollten. Meine Frau und ich hätten einander nicht weniger geliebt als ihr, und aus unserer Tochter wäre keine ledige Mutter und aus unseren Söhnen wären keine Gauner geworden.

Die Eheleute lächelten ihm wie aus einem Mund entgegen. »Werden Sie Katharina besuchen?«, fragte die Baronin, von der Claudius von Schweinitz ihm erzählt hatte, sie stünde, wäre die Geschichte Mexikos anders verlaufen, höher im Adelsrang als er. »Das freut mich. Ihre Nichte ist sehr tapfer, aber im Inneren muss sie sich fühlen, als hätte sie auf der Welt keinen Menschen mehr.«

Tu es jetzt, spornte er sich an, und der ungewohnte Zorn verlieh ihm Kraft. Auf einmal ertrug er es nicht länger, unter den frisch gewässerten Palmwedeln im Korbstuhl zu sitzen, importierten Weißwein zu trinken und philosophische Betrachtungen anzustellen, während das Leben seiner Familie in Scherben lag. »Katharina ist nicht meine Nichte«, erklärte er und stand auf. Von nun an würde es vor der ganzen Welt so stehenbleiben, und die Welt schloss Inga und seine Kinder ein. »Sie ist meine Tochter«, sagte er, und dann verließ er den Garten, um zu ihr zu fahren.