18

Benito hatte Katharina belogen. Er musste am Morgen nicht in die Berge, zumindest nicht im Auftrag der Armee. Er belog auch den Besitzer des Mietstalls. Das Tier werde dringend benötigt, beteuerte er, sein Capitán sei in der Eile nicht dazugekommen, Bescheid zu geben. Sein Gesicht war bekannt – inzwischen belieferte er nicht mehr allein die Kompanie seines Bruders, sondern unternahm wöchentliche Ritte. Der Mietstallbesitzer gab ihm das Maultier ohne Federlesens.

Womöglich würde sein Capitán nichts merken, weil die Welt in Flammen stand und solche Nebensächlichkeiten nicht mehr zählten. Und wenn es doch herauskam, würde es nicht mehr als eine Strafpredigt setzen, die er wie Regenwasser an sich abperlen ließe. Sein Capitán, ein scharfäugiger Kreole und einer der wenigen in Veracruz stationierten Offiziere, die Gespür und Erfahrung besaßen, hielt große Stücke auf ihn. »Lass dich zur kämpfenden Truppe versetzen«, hatte er ihm mehr als einmal geraten, seit er entdeckt hatte, dass Benito mit einer Schusswaffe umgehen konnte. »Offizier werden kannst du auch als Amarantfresser – und du bist doch kein Kerl, der geboren ist, um Straßen zu kehren.«

Als Benito darauf nicht einging, übte er jedoch keinen Zwang auf ihn aus. »Wenn du weiter für mich den Laufesel spielen willst, soll’s mir recht sein«, sagte er. »Einen, der denken kann, finde ich in diesem Haufen schließlich so schnell nicht wieder.«

Zudem hatte er Benito ein Geschenk gemacht, eine Perkussionspistole, ein britisches Modell von 1842, das zwar wie alle in der Armee gebräuchlichen Feuerwaffen nur auf kürzeste Reichweite taugte, aus der Nähe aber ein verlässliches Tötungswerkzeug war. »Wenn du so ein Ding schon abfeuern kannst, sollst du wenigstens eines bei dir tragen«, hatte der Capitán gesagt.

Benito wusste die Geste zu schätzen. Ein Mann, der einem anderen Mann eine Waffe gab, gestand ihm das Recht zu, sich zur Wehr zu setzen, auch wenn er ihn Amarantfresser schimpfte. Ob er die Waffe im Ernstfall abfeuern konnte, nur weil er gelernt hatte, auf tote Ziele zu schießen, war allerdings eine andere Frage. Er war fünfzehn Jahre alt gewesen, als er beschlossen hatte, schießen zu lernen, um nie wieder der zu sein, der verdroschen und hilflos im Dreck lag. Wie immer, wenn er einen Beschluss fasste, hatte er nicht lockergelassen, bis das Ziel erreicht war. Flüchtig sah er Katharina vor sich, die sich vor ihm brüstete: Katharina Lutenburg bekommt alles, was sie will.

Benito Alvarez auch, fügte er mit halbem Grinsen hinzu. Fraglich blieb lediglich, ob sie beide mit dem, was sie sich so trotzig erzwangen, am Ende etwas anzufangen wussten.

Er schob die Gedanken beiseite und zerrte das Maultier am Zügel. Gern hätte er es am Fuß des Bergs zurückgelassen, denn das wenige, das er heute bei sich trug, hätte er allein schleppen können. Aber ohne die Schnelligkeit des Tiers in der Ebene wäre er womöglich zu spät gekommen, und dafür verdiente es nicht, dass er es einem ungewissen Schicksal überließ.

Zudem verschaffte ihm das Schnaufen des Maultiers den trügerischen Trost, ein Wesen teile seine Angst. Vor zwei Tagen hatte er die Nachricht erhalten, die er seit Monaten gefürchtet hatte. Der Capitán der leichten Kompanie, die er ebenfalls belieferte, hatte sie ihm überbracht. »Wir werden versetzt. Das Regiment wird zusammengezogen. Die Einheit deines Bruders auch.«

Was nun geschehen würde, wusste niemand, oder wenn es jemand wusste, würde er es Benito nicht sagen. Möglich war, dass sie das gesamte Regiment nach Norden schickten, aber angesichts der langen Wege war das wenig wahrscheinlich. Darüber hinaus wusste Benito etwas, das er lieber nicht gewusst hätte: Es hieß, Santa Annas Kundschafter hätten einen von Taylors Kurieren abgefangen und ihm die Information entlockt, eine Landung in Veracruz stünde unmittelbar bevor.

Statt den verlorenen Kampf im Norden aufzugeben und alle verfügbaren Kräfte der bedrohten Stadt zu widmen, Mexikos schönem, verwahrlostem, stinkendem, vor Leben berstendem Hafen, hatte Santa Anna entschieden, die Schlacht um die Grenze werde fortgesetzt. Veracruz – sein Veracruz, das ihn in die Arme gerissen und ihm zugejubelt hatte – sollte sich mit den kümmerlichen Truppen behelfen, die ihm verblieben waren.

Am Wahrheitsgehalt des Gerüchts hatte Benito keinen Zweifel. Es passte zu Santa Anna wie die Musketenkugel in die Stirn. Und es passte zu dem, was sich während dieser letzten Februarwochen in der Hauptstadt ereignet hatte. Präsident Farias, dem der Hafen samt seiner Bewohner zumindest nicht gleichgültig war, hatte ein Regiment, das Los Polkos genannt wurde und für seine konservative Haltung bekannt war, aus Mexiko-Stadt nach Veracruz beordert. Was daraufhin geschehen war, hätte womöglich in keinem Land der Welt geschehen können, nur in diesem, das sich in seinen Widersprüchen zerfleischte. Die Polkos weigerten sich, dem Befehl des Präsidenten Folge zu leisten, da dieser ein ketzerischer Feind der Kirche sei und somit frommen Katholiken nichts zu befehlen habe.

Der Geschmack in Benitos Mund wurde so bitter, dass er spucken musste. Das war also der Krieg, von dem sein Bruder sich erhofft hatte, er werde die Fetzen des zerrissenen Landes vereinen. Ein Präsident löste den anderen ab, und jede Heereseinheit gehorchte nur dem, der ihr gefiel. Dein Zynismus frisst dich auf, hatte Miguel zu ihm gesagt, doch in Wahrheit war er es, der aufgefressen wurde, Miguel, dem jeglicher Zynismus fremd war. Zugleich musste sich Benito eingestehen, dass der Zynismus in ihm nicht mehr so schmerzhaft brannte. Weil ich Katharina habe, die ich nicht haben darf. Weil sie wahnsinnig waren und weil der Wahnsinn, anders als der Zynismus, warm und amüsant, voll Zärtlichkeit und voll Leben war.

Erleichterung erfüllte Benito, als er nach Einbruch der Dunkelheit die Wegkuppe vor dem Felszugang erreichte. Aus dem Tal glomm der Widerschein von Feuern, und im Spalt sah er den treuen Carlos auf Wache. Sein Bruder war noch dort! Er war nicht zu spät gekommen. »Wir haben Sie nicht erwartet«, begrüßte Carlos ihn lächelnd. »Gibt es für Ihren Besuch einen besonderen Grund?«

Gab es einen? Einen anderen als den Wunsch, Miguel noch einmal eine Flasche Mezcal, ein bisschen Tabak und ein billiges Schweißtuch zu bringen, von dem er behaupten würde, Inez habe es umsäumt? Lumpige Gaben, die ihn sein Mietgeld gekostet hatten, und für die Mole Poblano hatte es nicht einmal gereicht. »Nein, es gibt keinen«, sagte er zu Carlos. »Ich wollte nur gern meinen Bruder sehen.«

»Sie wissen es also? Dass wir versetzt werden?« Die Angst in seiner Stimme war unüberhörbar.

»Ja, ich weiß es«, antwortete Benito und war dankbar, dass Carlos ihn diesmal nicht bat, sich um seine Base zu kümmern. Er fürchtete, sich zu vergessen, sobald Inez’ Name fiel.

Sie hatte versucht ihn zu erpressen, anders ließ es sich nicht bezeichnen. Sie habe ihn mit Katharina gesehen, behauptete sie, und wenn er sich nicht endlich entscheide, ein bisschen nett zu ihr zu sein, wisse sie, wem sie von diesem Techtelmechtel zu erzählen habe. Benito hatte erwidert, sie solle sich nicht lächerlich machen, in Katharinas Elternhaus werde man ihr höchstens einen Tritt, aber keinen Glauben schenken. Er konnte nur hoffen, dass sie sich davon entmutigen ließ, auch wenn sie ihm hinterdreingerufen hatte, sie sei eine Jägerin mit Pfeil und Bogen, und ihr Köcher sei noch lange nicht leer.

Eine Giftschlange war sie, eine Mokassinotter, die in Trockenwäldern wie in den Marschen der Küste überlebte, weil sie sich überall anpasste. Carlos, der wohl bemerkt hatte, wie weit seine Gedanken abgeschweift waren, klopfte ihm auf die Schulter. »Ich rufe Ihren Bruder, soll ich?«

Benito dankte ihm, und Carlos rief Miguels Namen in Richtung der Feuer. Kurz darauf kam der Bruder den Pfad hinauf und fiel Benito um den Hals. »Morgen schon«, stieß er aus. Nur die zwei Worte. »Morgen schon.«

Der Mann, der also am nächsten Tag in einen Krieg ziehen und Menschen töten sollte, war ein ausgezehrtes Häuflein Elend, das aus hohlen Augen vor sich hin starrte und am ganzen Leib zitterte. Während sie in ihre Felsnische stiegen, wo sie mit Erlaubnis des Capitán beisammensitzen durften, musste Benito ihn stützen. »Sei mir nicht böse«, bat Miguel. »Und erzähl es keinem. Ich bekomme diese Anfälle, es ist, als ob ich Fieber hätte. Es geht aber gleich vorbei, und morgen früh wird es ganz weg sein.«

Du hast Angst, dachte Benito, und laut sagte er, was er unter keinen Umständen hatte sagen wollen: »Ich will dich mitnehmen, Miguel. Zurück in die Stadt. Du kannst daheim unterkriechen, nach dir sucht kein Mensch, und der Mutter ist egal, wo du herkommst, solange sie dich nur wieder bei sich hat.«

Miguel nestelte aus seinem Brustgurt ein Paar lederne Reithandschuhe und streifte sie über die zitternden Hände. Zu den schäbigen Fetzen seiner Uniform nahmen sie sich geradezu kostbar aus. »Sagst du mir wieder, ich soll desertieren?«, fragte er.

»Zum Teufel, das tut doch die halbe Armee.«

»Aber ich nicht«, entgegnete Miguel, setzte sich an der erloschenen Feuerstelle nieder und schlang die Arme um die Knie. »Ich habe noch nie etwas zu Ende gebracht, ich habe noch nie etwas getaugt. Selbst zu meiner Zeit im Freiheitskampf habe ich es nicht weiter als zum Handlanger gebracht.«

Der Nachtwind, der in den Bergen kühl, aber dennoch voll der schweren, welken Süße vom Ende der Blütezeit war, hob Miguel das Haar aus der Stirn und ließ ihn jäh sehr jung erscheinen. Mit allen Kräften kämpfte Benito gegen die Sehnsucht an, ihn in die Arme zu ziehen und ihm zu sagen: Ich liebe dich. Für mich warst du immer mein Held und nie so sehr wie jetzt.

»Ich muss hierbleiben«, fuhr sein Bruder fort. »Ich könnte mich sonst nicht mehr achten.«

Benito nickte und tat, als wäre er ganz in die Arbeit mit dem Feuer vertieft. Die kleine Flamme, die schließlich aufzüngelte, würde nicht wärmen, aber sie schenkte zumindest etwas Licht. Er gab Miguel den Mezcal und sah zu, wie er trank. Als würde er Bilder auf Platten bannen wie jener Mann mit der Kamera, von dem Katharina ihm erzählt hatte. Nur dass er die Bilder in sich selbst bewahrte und niemandem würde zeigen können.

»Weißt du, was ich mir schon mein Leben lang wünsche?«, murmelte Miguel, nachdem er die Flasche abgesetzt hatte. »In die Heimat zu reisen. Verstehst du das?«

Deine Heimat ist eine Vorstadtsiedlung aus Latten und verbeultem Blech, dachte Benito, ohne Antwort zu geben.

»Ich möchte das endlose Grün sehen«, sprach Miguel weiter. »Und die Vögel hören, all die tausend Stimmen. Ich glaube, ich würde dort gern ein Stück Land bestellen, nur eine kleine Milpa, aber eine, von der ich bei jedem Spatenstich wüsste: Das ist meine Erde.«

»Herrgott, warum tust du es dann nicht?«, platzte Benito heraus. »Warum schwatzt du von Spatenstichen und grüner Erde, während du in Wirklichkeit mit einem Gewehr herumfuchtelst, das du nicht zu bedienen verstehst, und demnächst losziehst, um dich von amerikanischen Kartätschen in Stücke fetzen zu lassen?«

Miguel schlug die Augen auf und sah ihn an. Er hätte ihn züchtigen können, als älterer Bruder besaß er dazu das Recht, und zudem war er Soldat in Mexikos glorreicher Armee. Stattdessen zog er einen Handschuh aus und streckte Benito über seine Knie hinweg die Hand hin. Benito schlug ein und spürte, wie die Finger des Bruders sich um seine schlossen. »Es ist diese Wut«, sagte Miguel. »Die schweigende Wut, mit der wir aufgewachsen sind. Ich glaube, ich habe nie gewusst, wo die hingehört, aber irgendwo musste ich sie lassen. Jetzt ist sie weg. Wenn es gutgeht, Benito, wenn ich den Kartätschen der Gringos entwische – gehst du dann mit mir nach Querétaro? Du und ich und Carmen und Inez? Wir fangen von vorn an. So wie wir angefangen hätten, wenn das Land uns gehört hätte und all diese Dinge nicht geschehen wären. Meinst du, das könnten wir tun?«

»Ja«, sagte Benito und fragte sich keinen Herzschlag lang, ob er log. »Jetzt leg dich schlafen. Wenn ihr schon keine brauchbaren Waffen habt, solltet ihr wenigstens ausgeruht sein.«

»Und was ist mit dir? Schläfst du nicht?«

Benito schüttelte den Kopf. »Ich will heute Nacht noch zurück in die Stadt.« Den Weg im Dunkeln zu wagen war geradezu selbstmörderisch, doch er hätte es nicht ertragen, länger bei Miguel zu bleiben. Wenn du nicht willst, dass ich dich mitnehme, muss ich jetzt gehen. Und wenn ich nicht will, dass du »Hola, kleiner Bruder, nicht weinen« zu mir sagst, gehe ich besser schnell.

 

Er ritt wie vom Teufel gehetzt. Hätte er sich in jener Nacht den Hals gebrochen, um in den Tiefen des Urwalds zu verrotten, es wäre ihm recht geschehen. Hinter blassen Wolken verschwand der Mond nicht ganz, war wie ein zaghaftes Versprechen noch zu sehen. Benito war zumute, als könnte er nur durch größte Eile Veracruz noch einmal wiedersehen, als würde die Stadt wie eine Liebste auf ihn warten, ehe sie im Morgengrauen verschwand. Wie zuvor seinem Bruder, so jagte er jetzt Veracruz entgegen, und mit mehr Glück als Verstand gelang es ihm, sich nicht den Hals zu brechen. Als die Sonne aufging, erreichte er seine Stadt.

Er hatte sie nie mit so offenen Augen gesehen. Der verdreckte Barrio, der zu seinem gierigen, rücksichtslosen Leben erwachte, schien ihm im Morgenlicht zu leuchten. Die Flickschuster, Schuhputzer, Schokoladeverkäufer bezogen ihre angestammten Plätze und priesen in lauten Litaneien ihre Dienste an. Die Kleinhändler mit ihren Bauchläden marschierten auf und ab wie tapfere Soldaten, aus den Pulquerias torkelten Matrosen und Hafenarbeiter, und aus einem Hauseingang streckte eine alte Hure ihm den mit Reifen behängten Arm entgegen und versprach: »Bei mir bekommst du deine Wünsche von den Augen gelesen. Deine Braut ist eine Analphabetin gegen mich.«

Benito musste lachen und hätte ebenso weinen wollen. An der Wasserpumpe, die schon lange kein Wasser mehr hergab, lehnte ein Junge und spielte Vihuela, ein trauriges Lied von einem grausamen Mädchen, vor sich einen Strohhut, in den von den Hungerleidern gewiss keiner eine Münze warf. Villa Rica de la Vera Cruz! Reiche Stadt des wahren Kreuzes, stets hatte ihm der Name, den der Eroberer Cortez der Stadt gegeben hatte, wie Hohn geklungen, aber heute klang er nichts als angemessen. Schlepp deinen Namen wie dein Kreuz, meine reiche Stadt. Während er in die krumme Gasse, in der er wohnte, einbog, begriff er, dass es keine Rolle spielte, ob er in irgendeinem Querétaro am Ende der Welt geboren worden war. Seine Heimat war diese Stadt, sie hatte ihn gemacht.

Seine Wirtin, beladen mit ihrem Korb voll Tamales, fing ihn vor der Haustür ab. »Hören Sie«, schimpfte sie, »in Ihrem Zimmer sitzt seit gestern Nacht ein Mädchen, schon wieder eines, und allmählich sehe ich bei dieser Menage nicht mehr zu. In diesem Schmutzloch mag es von Bordellen wimmeln, aber mein Haus ist keines, schon gar nicht, wenn Sie nicht endlich Ihre Miete zahlen. Die Señorita habe ich nur eingelassen, weil sie behauptet hat, sie sei Ihre Schwester, und auch wenn ich ihr kein Wort glaube, ist sie Ihresgleichen. Wie Doña Carmencita. Mit denen sind Sie besser bedient, glauben Sie einer, die das Leben kennt. Das Blauauge mit der Mondlichthaut ist für Sie nicht gemacht, und wenn Sie noch länger mit dem Feuer spielen …«

»Dann holt mich La Llorona, ich weiß«, unterbrach Benito sie. »Aber vorher zahle ich die Miete. Spätestens morgen, bei meiner hundertmal verpfändeten Ehre.«

»Sie sind ein Schlimmer. Sie nehmen meine Warnungen nicht ernst.«

»Nein«, sagte er und begann, die Treppe hinaufzueilen. »Aber ich verehre Sie, Doña Esmé.«

Er hatte befürchtet, das Mädchen, das sich für seine Schwester ausgab, sei Inez, aber es war tatsächlich Xochitl. Sie saß auf dem Bettgestell in seinem Zimmer, in dem sich die Wärme des Morgens sammelte, in Huipil und Rebozo gewickelt wie ein ordentlich verschnürtes Paket.

»Ist etwas mit der Mutter?«

Sie schüttelte den Kopf. »Frag nicht weiter. Es ist mit niemandem etwas. Nur mit dir.«

Benito blieb in der Tür stehen, obwohl die Erschöpfung ihn mit Macht überfiel. »Ich bringe dich heim«, sagte er. »Hier kannst du nicht bleiben, und du darfst auch auf keinen Fall wiederkommen.« Die Vorstadt lag vom nächsten Stützpunkt der Armee, Fort Santiago, weit genug entfernt. War sie auch eine Brutstätte für Seuchen, während des Angriffs würden Xochitl und die anderen dort sicher sein.

Xochitl war seine Schwester, ein wohlerzogenes Nahua-Mädchen. Sie warf ihm einen zornigen Blick zu, aber sie gehorchte. »Mit dir sprechen muss ich trotzdem.«

»Das kannst du unterwegs tun.« Was auch immer sie zu sagen hatte, er wollte nur eines, sie so schnell wie möglich aus der Stadt schaffen.

»Was du mit Carmen gemacht hast, ist scheußlich«, sagte sie, sobald sie sich aus dem Gedränge gekämpft hatten. »Ich hätte nie gedacht, dass du ein solcher Dreckskerl sein könntest.«

Er hatte gehofft, dass es darauf hinauslaufen würde. Es war schlimm, es gab ihr das Recht, ihn abzukanzeln, aber es schien geradezu belanglos, solange sie nur alle lebten, sich in ihre Hütte verkrochen und hinterher unversehrt herauskamen. »Ja, es ist scheußlich«, gab er zu, »doch am Ende wird Carmen froh sein. Sie hat einen Besseren verdient, und den wird sie auch bekommen.«

»Worauf du Gift nehmen kannst«, fauchte Xochitl. »Hör zu, ich bin nicht wegen Carmen hier, auch wenn ich dir am liebsten das Gesicht zerkratzen möchte. Carmen hat mich sogar beschworen, ich soll dem hohen Herrn kein Haar krümmen, aber leider kann ich nicht anders, denn du tust etwas, das noch schlimmer ist. Du hechelst der Deutschen hinterher, und das darf nicht sein.«

Inez! Also hatte sie angefangen ihre Drohung wahrzumachen. Würde sie so weit gehen, auch Katharinas Familie aufzusuchen, und wenn ja, was hätte das zur Folge? Die seltsamste und zugleich brennendste Frage aber lautete: Spielte das alles überhaupt noch eine Rolle, hatte ihr kleines privates Drama noch Platz in dem großen, das sich von nichts, das sie taten, aufhalten ließ? Der Tag war so schön. Die ersten Frühlingstage, ehe die drückende Hitze und der Regen ihren Wechseltanz begannen, waren wie Perlen in der Auster, die einzigen zarten Tage, die Veracruz kannte. Konnte etwas, das an solchem Tag begann, wirklich Gewalt genug haben, ihr Leben zu zerstören?

»Sprichst du nicht mit mir?« Xochitl packte seinen Arm. »Bist du der Ansicht, es ginge mich nichts an? Dann irrst du, Benito. Es gibt nämlich manches, das du nicht weißt …«

Etwas in ihm explodierte. »Es gibt auch manches, das du nicht weißt«, fuhr er sie an. »Ich lebe hier, in einer Metropole, nicht in einem aus Abfall nachgebauten Bergdorf, und hier kommt es durchaus vor, dass ein Nahua und eine Extranjera heiraten. Es mag nicht einfach sein, es mag der steinerne Weg in die Hölle sein, aber es fällt keinem Menschen davon der Himmel auf den Kopf, niemand verreckt daran, und kein Haus stürzt ein.«

Xochitl ließ ihn los und blieb stehen. Ihre dunkle Haut wurde fahl. »Das kannst du nicht«, brach es aus ihr heraus. »Katharina Lutenburg heiraten, das kannst du nicht.«

Bis vor Minuten hätte Benito dasselbe gesagt. Bis vor Minuten hatte er nicht einmal zu denken gewagt, er könne Katharina Lutenburg heiraten, er könne sich auch nur den Wunsch erlauben.

»Warum sucht das unsere Familie heim?« Xochitls Stimme klang, als würde sie gegen Tränen kämpfen. »Warum noch einmal, haben wir nicht genug bezahlt? Ich habe gedacht, du bist ein Dreckskerl, der mit Weibern spielt, und wenn ich dir nur gehörig eins auf die Finger gebe, wird alles wieder gut. Dass es so ist, habe ich nicht gewusst.«

»Was hast du nicht gewusst?«

»Dass du sie liebst. Die Deutsche. Katharina Lutenburg.«

Benito senkte den Kopf und starrte in den vergoldeten Staub. »Ich hab’s auch nicht gewusst.«

Er vernahm ihren Schritt, und dann spürte er ihre Hand an seiner Wange. »Es tut mir so leid«, sagte sie und streichelte ihn, als wären sie beide noch Kinder. »Ist das nicht verrückt? Es wäre mir lieber, du wärst ein Dreckskerl und müsstest nicht leiden.«

»Dreckskerle leiden auch, Xochitl.«

»Du darfst es nicht tun.« Sie streichelte ihn. »Die Mutter überlebt es nicht, sie ist krank vor Angst um Miguel.«

Benito zog sie kurz an sich, dann richtete er sich auf. »Das weiß ich«, erwiderte er. »Und jetzt vergisst du das alles und tust, was ich dir sage. Ganz gleich, was geschieht, du bleibst mit der Mutter und Carmen und Inez im Haus. Ich werde euch eine Weile nicht besuchen können, und in der Zeit müsst ihr mit dem auskommen, was ihr eben habt. Ich verspreche, wenn ich wiederkomme, darfst du mir das Gesicht zerkratzen, aber bis dahin bleibt ihr alle zusammen und wartet ab, in Ordnung?«

Er sah ihr scharf in die Augen, bis sie nickte. »Aber was ist denn los? Hat es etwas mit Miguel zu tun, ist Miguel in Gefahr? Du weißt, die Mutter würde …«

»Frag mich nicht«, sagte er und zog sie weiter. »Ich bin nicht klüger als du.« Und wenn ich es wäre, würde ich es nicht aussprechen. Wie einem abergläubischen Kind war ihm zumute. Als könnte das, was man sich weigerte in Worte zu fassen, nicht Wirklichkeit werden.

 

Am nächsten Tag war Veracruz noch immer Veracruz, die Sonne prallte auf das Glas der Dachluke, und vor dem Haus sang Naña, die Mulattin, die auf der Plaza messerscharfe Chilis und honigsüße Liebkosungen verkaufte. Benito musste seinen Capitán in der Garnison aufsuchen, der ihn des unerlaubten Rittes wegen zusammenstauchte. Hinterher gab er ihm jedoch einen Becher dunklen Tequila und befahl ihm, sich zu setzen, er habe ihm etwas zu erzählen. Wenn die Lage gestern noch schwarz ausgesehen habe, so sei sie heute graurot wie der Morgen über dem Meer. Santa Annas Heer stehe vor dem Pass Angostura, und General Taylor kämpfe nur noch mit halber Truppenstärke, da der Rest zur Landung an der Küste gebraucht werde.

»Beim Satan, es gibt Schlachten, die kann nicht mal ein größenwahnsinniges Einbein verlieren.« Die Bemerkung hätte den Capitán Kopf und Kragen kosten können, aber die Hoffnung machte ihn redselig, und zudem konnte er Benito trauen. Einem indianischen Laufburschen, der einen kreolischen Offizier diffamierte, hätte niemand ein Wort geglaubt.

»Und wenn er siegt – werden die Amerikaner dann auf die Landung verzichten?«

»Schon möglich«, erwiderte der Capitán. »Aber selbst wenn sie landen, werden sie Veracruz umgehen. Die Angst vor dem Gelbfieber treibt sie schneller ins Landesinnere, als wir zuschauen können.«

Ins Landesinnere. Das bedeutete nach Mexiko-Stadt. In die Hauptstadt, in der Benito auf die Universität gehen wollte, doch im Augenblick wollte er nirgendwo hingehen, nur hierbleiben und erleichtert Atem schöpfen.

»Für alle Fälle verdichten wir unser Nachrichtennetz«, sagte Capitán Ferrante. »Und einer der Kerle, die ich dabeihaben will, bist du. Fang nicht erst an, dich zu sträuben. Ein Vögelchen hat mir gezwitschert, du hältst dir ein exquisites Liebchen, was sich ein Amarantfresser wie du kaum leisten kann. Du brauchst Geld, und ich gebe dir welches.« Er schob einen kleinen Haufen Münzen zu ihm hinüber, der kurzfristig Benitos Probleme löste. »Du bekommst Bescheid, wenn du gebraucht wirst. Ein Gaul steht jederzeit bereit.«

Wenn es wahr ist, beschlich ihn auf dem Heimweg ein Gedanke, wenn irgendein Schlangengott ein Einsehen hat, muss ich ein Opfer bringen. Wenn Veracruz morgen noch Veracruz ist, denke ich darüber nach.

Daheim erwartete ihn wieder einmal ein Besucher, diesmal jedoch ein Mann, der eine Visitenkarte abgegeben hatte und Doña Esmé ins Schwärmen brachte. »Ein blondes Prinzlein! Mit einer Mondlichthaut wie Ihr verbotenes Täubchen.« Das blonde Prinzlein mit der Mondlichthaut war Stefan Hartmann.

Er war ein schüchterner, geradezu qualvoll höflicher Mann, der um jeden Satz Umschweife machte. Der Sohn seines Brotherrn habe eine Leidenschaft für Vollblutpferde, erklärte er, er besitze zwei Stuten und brauche jemanden, der sie ihm bewege. Darüber hinaus suche er jemanden, der ihm Unterricht im Deutschen erteile. Dass ein vornehmer englischer Erbsohn einen zerlumpten Nahua einstellte, um sich im Deutschen unterrichten zu lassen, war dermaßen abwegig, dass Benito auflachte. Stefan Hartmann aber blieb dabei: Wenn Benito einverstanden sei, könne er morgen bei den Temperleys vorsprechen. »Und was Ihren Lohn betrifft …« Die Summe, die er ihm nannte, überstieg bei weitem das, was Benito in der Tuchhalle und bei Helen verdient hatte.

Es war, als hätte tatsächlich eine obskure Macht, die Katharina Schlangengott nannte, beschlossen, ihm seine Lasten von den Schultern zu streichen. Aber dazu hatte kein Gott und noch weniger der Mann, der vor ihm stand, einen Grund. »Was verlangen Sie dafür?«, fragte Benito.

»Das können Sie sich denken, nicht wahr?«

Auf einmal konnte er es. Seine Hand fuhr an seine Schläfe, wo eine Vene zu klopfen begann. Hatte er nicht gelobt, ein Opfer zu bringen? Und wir Blut saufenden Azteken opfern unseren Götzen Menschen. Dieser sanfte Menschenfreund glaubt das nicht weniger als der rassistische Onkel. »Was verlangen Sie?«, wiederholte er tonlos. Das Blut in seiner Vene pulsierte gegen die Haut.

»Meine Base.« Der Menschenfreund sah zu Boden. »Ich möchte, dass Sie meine Base nicht wiedersehen.«

»Und dass Sie mich kaufen können, steht für Sie natürlich fest.«

»Nein«, erwiderte Stefan Hartmann zum ersten Mal ohne Umschweife. »Für mich steht fest, dass Sie ein anständiger Mann sind. Einer, den man unter anderen Umständen mit Freuden in seiner Familie begrüßen würde.«

Es tat unglaublich weh. Schlimmer, als wenn der Mann ihn beleidigt oder sogar geschlagen hätte. »Unter anderen Umständen«, fragte er schneidend, »oder in anders gefärbter Haut?«

»Unter anderen Umständen«, erwiderte Stefan Hartmann. »Ich hatte Angst um Kathi, aber ich habe sie trotzdem nicht abgehalten. Jetzt jedoch habe ich etwas erfahren, das mich zu unser aller Schutz zu diesem Vorgehen zwingt.«

»Und was soll das sein?«

Der andere schüttelte den Kopf. »Davon muss ich schweigen. Glauben Sie mir bitte, dass unsere Familien das Unglück nicht aushalten könnten.«

Er wollte sich vor dem Mann nicht erniedrigen, indem er um das, was er nicht haben konnte, bettelte. Dafür, dass er es dennoch tat, hasste er sich. »Und die Umstände können sich nicht ändern, richtig? Ein Kerl könnte als Stallknecht aufbrechen und als Doktor der Rechte wiederkommen – um die Tochter dürfte er sich trotzdem nicht bewerben, weil er noch immer ein stinkender Indio ist?«

Jäh spürte er Hartmanns Hand auf seiner Schulter. Statt sie abzuschütteln, erstarrte er. »Sie dürften sich um meine Tochter bewerben, Señor Alvarez. Leider habe ich keine. Und das andere wissen Sie selbst. Ich appelliere an Ihren Anstand, weil ich glaube, dass Sie Kathi lieben. Und weil Sie um nichts auf der Welt wünschen, dass ihr Leid geschieht.«