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Sie hatte sich so sehr gewünscht, von ihm zu träumen. Wenigstens im Traum noch einmal seine Augen zu sehen, weil der Gedanke, sie könnten in der Erinnerung verblassen, sich anfühlte wie ein Messerstich. Sie hatte sich gefragt, warum sie sich so betrug, warum ihr Herz nicht aufhörte zu rasen, als hätte sie in ihren zweiunddreißig Jahren nie einen Mann mit schönen Augen gesehen. Aber das Herz raste weiter, und es hatte jedes Recht dazu. Sie betrug sich so, nicht, weil Valentin Grubers Augen in der Tat die schönsten waren, die sie je bei einem Mann gesehen hatte, sondern weil er sie angeschaut hatte. In einer Menge von hunderttausend Menschen, zwischen einstürzenden Triumphbögen, prügelnden Polizisten, aufmarschierenden Kaisern und entfliehenden Rebellen sah er keinen als sie.

Davon wollte sie träumen, den Augenblick, der ihr geraubt worden war, im Traum noch einmal erleben. Stattdessen riss das Geheul der Llorona sie aus dem Schlaf, als würde sie noch in der deutschen Siedlung leben. Die Weinende musste die Straße zwischen dem Palais und der Alameda entlangstreichen, und ihr Geheul war so markerschütternd, dass Katharina es bis in ihr Zimmer hörte. Mächtig war die Versuchung, hinüber zu Martina zu laufen, um mit dem Grauen nicht allein zu sein.

Aber wie alt war sie? Würde sie die Dämonen der Kindheit je überwinden, wenn sie sich beim ersten Schrecken in die Arme ihrer Freundin warf wie seinerzeit in die ihrer Eltern? Obwohl ihr die Beine zitterten, zwang sie sich, aufzustehen und das Fenster zu öffnen. Sie war sicher, das Geheul würde verstummen, sobald sie hinaussah, denn La Llorona war schließlich nichts als ein Traumgespinst, eine Folge der Mondsucht, die sie von irgendeiner Tante geerbt hatte. Dann hielt sie inne. Konnte sie die wirklich von der Tante geerbt haben, wenn sie überhaupt nicht Marthes Tochter war? Wenn sie jedoch Christophs Tochter war, war sie schließlich auch mit jener Tante verwandt – aber war sie Christophs Tochter?

Das Mühlrad in ihrem Kopf begann sich von neuem zu drehen, und sie wollte doch nichts als schlafen und von Valentin Gruber träumen. Sie riss das Fenster auf. Das Geheul verstummte nicht. Stattdessen sah sie das, was sie am meisten gefürchtet hatte. Hinter der Gartenmauer des Palais verschwand eine Gestalt in wehendem Gewand. Ich werde verrückt. Ich sehe Gespenster aus mexikanischen Legenden. Starr vor Schreck hockte sie am Fenster und fror in der warmen Sommernacht, bis die Klage der Frau, die ihre Kinder getötet hatte, in der Ferne verklang. Eine Weile dauerte es, ehe sie in der Lage war, das Fenster zu schließen und sich niederzulegen.

Als sie die Augen schloss, sah Valentin Gruber sie an. Ich muss Sie wiedersehen, hatte er gesagt. Gewiss hatte er es gleich wieder vergessen, aber im Traum wollte sie daran glauben, dass er jedes Wort ernst gemeint hatte wie den Blick seiner Augen, frei von Spott und Zynismus, Täuschung und Doppelsinn.

Sie schlief ein und träumte nicht von Valentin Gruber, sondern nach Jahren wieder vom Malecon. Wieder hörte sie, wie Sand und Kiesel unter den Rädern knirschten, sah die Menschenmassen, die sich zu beiden Seiten der Uferstraße drängten, die Kronen der Palmen und die Stände, auf denen sich Pyramiden von Gütern häuften. Hinter den Ständen, schlecht geschützt von der Ufermauer, verloren sich ein paar Blechhütten, und dahinter erstreckte sich das Meer. Wie der Traum weiterging, glaubte sie zu wissen, doch von den Träumen war nie einer wie der andere. Ein jeder besaß seinen eigenen Schrecken.

Diesmal kam der Junge, der einen Beschlag vom Zaumzeug ihres Ponys stehlen wollte, nicht zu Fuß, sondern zu Pferd, und er war auch kein Junge mehr, sondern erwachsen geworden. Katharina stand auf dem Kutschbock. Neben dem Wagen stand ihre Mutter, die das bucklige Päckchen unter dem Arm trug, und die Mutter hatte kein Gesicht.

Der Junge, der ein Mann geworden war, sprang geschmeidig vom Pferd, doch er streckte die Hand nicht nach dem Zaumzeug aus. Das Päckchen war es, was er wollte. Aus dem Nichts hielt die gesichtslose Mutter eine Peitsche in der Hand und schlug mit aller Kraft zu, bis der Mann zu Boden stürzte. Im selben Moment riss Katharina die Kutscherpeitsche aus der Halterung und schlug, ohne innezuhalten, auf den Körper des Mannes ein. Wo sie hintraf, verfärbte sich sein Hemd, bis sie nichts mehr als Rot sah und dazwischen sein Gesicht. Benitos Gesicht. Eine Taube schrie.

Im Traum versuchte sie sich zu beschwören, sie dürfe keinen Menschen blutig schlagen, aber sooft sie ansetzte, begehrte eine Stimme in ihr auf: Er wollte das bucklige Päckchen stehlen, das bucklige Päckchen ist alles, was ich habe!

Als sie erwachte, war sie in Schweiß gebadet und hatte beide Hände zu Fäusten geballt. Die Sonne, die sie sonst mit ihrem ersten Licht weckte, schien prall ins Fenster, und geweckt hatte sie ein Klopfen an der Tür – laut und ungestüm, wie nur Martina klopfte. Ehe Katharina sich die Haare aus dem Gesicht streichen konnte, stürmte die Freundin ins Zimmer.

Zu sehen waren von ihr nur der Rock und die Füße. Alles andere verbarg sich hinter einem gewaltigen Blumenbukett – rote Rosen, so dunkel, dass die Händler sie schwarz nannten. Wo bekam man derart seltene Rosen in so rauhen Mengen, dass Martina sie kaum in den Armen halten konnte, und wer gab ein solches Vermögen für Blumen aus? Felix, der mehr oder weniger von der Hand in den Mund lebte, gewiss nicht.

»Guten Morgen, Langschläferin«, rief Martina und warf ihr die Rosen aufs Bett. Der Duft, den sie verströmten, war betörend. »Ich dachte, du wolltest dir gestern den Habsburger Usurpator ansehen, aber stattdessen scheinst du auf Männerfang gegangen zu sein.«

Um den Sinn der Worte zu erfassen, war Katharina noch nicht wach genug. In die Nebel des Alptraums schoss ein Gedanke: »Ich bin zu spät. Ich muss zum Unterricht!«

Martina winkte ab und setzte sich auf den Bettrand. »Ich habe einen Boten geschickt und ausrichten lassen, du habest dir den Magen verdorben. Nachdem deine Nacht offenbar alles andere als geruhsam war, dachte ich, du könntest Schlaf gebrauchen.«

»Was war mit meiner Nacht?« Katharinas Finger hatten wie von selbst begonnen mit den Blütenblättern der Rosen zu spielen, die sich samtig, zart und kühl anfühlten.

»Ich weiß nicht, Schätzchen. Du hast geschrien, als würdest du gefoltert.«

In Wellen kehrten die Bilder des Traums zurück. Unwillkürlich fiel ihr Blick auf ihre Hände, aber an ihren Fingern klebte kein Blut, nur ein wenig Blütenstaub. Martina deckte ihre Hand darüber. »Na komm, rupf die Liebesgabe nicht entzwei. Sag mir lieber, wer der edle Spender ist.«

»Der edle Spender? Meinst du, du weißt nicht, wer dir diese Rosen gesandt hat?«

Martina lachte. »Mir hat die leider niemand gesandt, ich liebe ja einen Burschen, der arm wie eine Kirchenmaus ist. Du aber offenbar nicht.«

»Wieso ich?«

Martina griff in die Blüten und zog eine weiße Karte heraus. »Darf ich Sie sehen?«, las sie vor. »Morgen Nachmittag, bei einer Zerstreuung zu Ehren des Kaisers? Wenn Sie meinem Boten nichts Abschlägiges ausrichten, hole ich Sie um drei Uhr ab. In Verehrung. Valentin Gruber.«

Ganz sachte, beinahe ungläubig begann Katharinas Herzschlag sich zu heben. Was sich unter ihren Rippen regte, war kein Hämmern, höchstens ein Flattern, das bisschen Hoffnung, das einen gefangenen Vogel auftreibt. In Verehrung. Valentin Gruber.

Martina stützte ihr Kinn in eine Hand und musterte sie. »Du weißt, dass ich dir alle schönen Männer der Welt gönne, nicht wahr, Lindissima? Sogar den, der mir noch weiche Knie machen wird, wenn ich grau wie eine Nebelschwade bin, und der gefragt hat, ob er dich sehen kann, falls er je wieder herkommt und nicht künftig dem Sonnenweg vom Zenit bis zum Untergang folgt.«

»Martina, kannst du bitte …«

Martina hob die Hand. »Nein, warte, Schätzchen. Lass mich ausreden. Bis auf deinen pinselnden Vetter gönne ich dir jeden Mann, der herumläuft, und einen, der dir den Weg mit Rosen bestreut, erst recht. Auch Valentin Gruber, warum nicht? Klingt possierlich. Nach kleinen Löckchen beim Schwitzen und Grübchen, nicht nur in den Wangen. Nein, sieh mich nicht an wie die fleischgewordene Sünde, du bist nicht mehr meine Lehrerin, und ich bin nur ein Mädchen, das etwas von der Liebe versteht und ausspricht, was andere gern denken würden. Ich gönne dir Valentin Grubers Löckchen, Grübchen, Rosen und noch mehr. Ich bitte dich nur, im Gedächtnis zu behalten, dass der Kaiser, zu dessen Zerstreuung du geladen bist, kein Kaiser ist und dass er in diesem Land nichts verloren hat. Um deiner Freunde willen, Kathi. Für die Menschen, die dich noch lieben, wenn Valentin Gruber und sein Kaiser der Geschichte angehören.«

»Ich weiß nicht, was du meinst«, erwiderte Katharina mit unangemessener Heftigkeit.

»Ich meine, dass der Mann, der dieses Land regiert, nicht Maximilian von Habsburg heißt, sondern Benito Juárez.«

Katharina wurde kalt. Das Flattern des Herzens hörte auf. »Was hat das mit mir zu tun?«, fuhr sie Martina an.

»Nichts«, erwiderte diese gelassen. »Jetzt noch nichts. Zerstreu dich. Genieß dein Leben, du hast es verdient. Deinem Stefan könntest du trotzdem verzeihen, dass er mit Mut nicht gesegnet ist. Und diesem schönen Freund von mir tust du den Gefallen, ja? Warum er dich sehen will, weiß ich nicht, er ist kein Kostverächter und hat womöglich keine feinen Absichten. Aber ein feiner Mensch ist er, und einem Krieger, der seinem Tod entgegenzieht, schlägt ein mexikanisches Mädchen keinen Wunsch ab.«

»Genug«, schrie Katharina. »Kannst du nicht einmal aufhören, über die ganze Welt zu reden wie über deine Spielzeugkiste?«

Nur einen Wimpernschlag lang schien Martina erschrocken. Dann richtete sie sich auf und raffte die Rosen zusammen. »Ich kann es versuchen. Wenn ich an das neunzehnjährige Bürschlein denke, dem ich nachher ein Bein abnehme, fällt es mir leichter. Valentin Grubers Blütenpracht stelle ich ins Wasser. Und Benito sage ich, er darf, wenn er das nächste Mal in der Stadt ist, für die Dauer eines Sherrys deinen Anblick genießen, ja?«

Nein, wollte Katharina auffahren. Nicht jetzt, wo es mir nach all den Jahren möglich scheint, dich zu vergessen, wo ich endlich aus der Starre erwache, in die dein Verrat mich versetzt hat. Dein Verrat, Benito. Du hast mich nie gesucht, du hast mich nie gebraucht, und jetzt brauche ich dich nicht mehr.

Martina, die mit den Rosen im Arm der Tür entgegengeschwebt war, drehte sich noch einmal um. »Übrigens bin ich ein bisschen eifersüchtig«, sagte sie. »Mich haben Männer um Jahrzehnte meines Lebens gebeten, aber Benito Alvarez noch nie um eine halbe Stunde.« Damit ging sie und ließ Katharina allein.