26

Es war wie früher in Querétaro – an manchen Tagen wäre Inez am liebsten nicht aufgewacht. Solange sie das Gesicht ins Kissen drückte, konnte sie sich in Träumen verlieren, aber sobald sie die Augen aufschlug, stürzte die trostlose Wirklichkeit auf sie ein. An manchen Tagen beneidete sie Carmen, die das elende Dasein klaglos hinnahm. Es war nicht Inez’ Schuld, dass sie für ein solches Leben nicht geboren war.

Sie war bereit gewesen, sich bei den Engländern als Magd zu verdingen, weil sie hoffte, in Benitos Nähe zu sein, und weil ihr die Engländer gefielen. Große, helläugige Burschen in hinreißenden Anzügen und mit Geld, das ihnen aus den Taschen quoll. Stattdessen arbeitete sie unter einer verkniffenen Köchin, und der Sohn des Hauses war ein dicklicher Rotschopf, der nicht größer war als Juan und durch Inez hindurchsah. Er beschäftigte einen Sekretär, der zu Benitos Deutschen gehörte und groß und blond wie ein Erzengel war, aber auch der sah durch Inez hindurch. Zudem machte sie sich nichts vor, ein Extranjero würde ihr ohne Umschweife ein Kind in den Bauch machen, aber er würde sie im Leben nicht heiraten. Sie wollte einen Mann ihres Volkes, der es mit den Fremden aufnehmen konnte. Sie wollte Benito Alvarez.

Und der hatte eine andere.

Sie hatte die Arbeit hingeworfen. Als Benito am Abend zu Pferd in der Vorstadt auftauchte, glaubte sie, er käme, um ihr die Leviten zu lesen. Stattdessen rief er alle in der Hütte seiner Mutter zusammen und teilte ihnen mit versteinerter Stimme mit, dass er morgen Carlos bringe, der Pflege brauche und nicht mehr arbeiten könne. Und dass Miguel gestorben sei.

Inez stand im Eingang des Hauses und sah, wie die Mutter auf Benito losging. Sie war eine kleine Frau, und er war ein großer Mann. Sie hämmerte mit ihren kleinen Fäusten auf ihn ein, traf seine Brust, seinen Hals und ab und an sein Gesicht. Einmal seine Lippe, aus der sogleich Blut strömte. »Du hast ihn sterben lassen, du, du, du!«, schrie sie. »Meinen Miguelito. Du hast gesagt, du beschützt ihn, und jetzt ist er tot! Mein Miguelito hatte den Hals in der Schlinge, und du hast den Deutschen den Speichel geleckt!« Zuletzt verloren sich die Worte in einem einzigen spitzen Schrei. Benito stand still und ließ Schreie und Schläge auf sich einprasseln. Irgendwann ging Carmen hin und zog die Mutter weg. »Du bist grausam«, sagte sie zu ihr. »Dass du ungerecht bist, nimmt dein Sohn seit langem hin, aber du solltest nicht grausam sein.«

Benito stand weiter reglos da, nachdem Carmen die Mutter weggebracht hatte. Irgendwann ging er zu seiner Schwester, die am Boden lag und heulte. Er hob sie auf und klopfte ihr das Kleid sauber, von den Füßen bis zum Hals. »Schaffst du das, Xochitl, dich um die Mutter zu kümmern? Ich muss Carlos holen, bei meiner Wirtin kann er nicht bleiben, aber ich komme so schnell ich kann zurück.« Die Geschwister umarmten einander, und Inez dachte: Ich will, dass er mich so hält. Er hat, was in meiner Familie kein Mann hatte, Biss und Kraft und vornehme Hände. Und ein Herz hat er auch, und ich weiß manchmal schon nicht mehr, was das ist.

»Benito«, sagte die Schwester, »wie ist Miguel gestorben?«

»Nein, Xochitl, Tlazotlalistli, frag das nicht. Du bist besser dran, wenn du es nicht weißt.«

Xochitl, die er Tlazotlalistli, sein Liebes, nannte, nahm den Saum ihres Ärmels zwischen zwei Finger und presste ihn auf seine Lippe, aus der weiter Blut strömte. Es hatte längst sie beide beschmutzt, sein weißes Hemd und ihr dreckiges Kleid. »Sag’s mir, Icniuhtli, mein kleiner, mein einziger Bruder.«

Benito nahm ihre Hand von seiner Lippe. »Lass es laufen, ja? Wenn ich nicht weinen kann, ist Bluten nicht so schlecht.«

»Wie ist Miguel gestorben?«

»Er ist verdurstet.«

Sie sahen einander in die Augen, er blutete und sie weinte, und sie hielten sich fest. Mich hat nie jemand richtig geliebt, dachte Inez. Ich will, dass dieser Mann mich liebt, dieser starke, schöne, entschlossene Mann, der in der Lage ist, für eine Frau zu sorgen.

Er ging, um Carlos zu holen, der sich das Gedärm und ein Bein hatte zerschießen lassen. »Er lebt nicht mehr lange«, sagte er, als Carmen zurückkam. »Bitte pflegt ihn, so gut ihr könnt.«

In der Nacht versuchte seine Mutter sich das Leben zu nehmen. Sie schluckte Gift, kein Mensch wusste, woher sie es hatte. Xochitl fand sie, als sie aufstand, und schrie wie ihre Mutter am Abend zuvor. Carmen nahm ihr die Mutter ab und steckte ihr den Finger in den Hals, bis ihr Erbrochenes den Arm hinunterrann.

Als Benito mit Carlos auf dem Schimmel zurückkam, war das Schlimmste vorüber. Die Alte hatte so viel erbrochen, dass der Boden der Hütte schwamm. Sie war in eine Art Ohnmacht gefallen, und Carmen und Xochitl zogen sie auf ihr Lager. Benito erfasste, was geschehen war, und trug Carlos in die andere Hütte, die Inez hätte sauber halten sollen. Er legte ihn auf das verdreckte Bett. »Ruhen Sie sich aus. Von irgendwoher bekommen wir sicher gleich Wasser und frische Laken.«

Ich will, dass dieser Mann mich liebt, dachte Inez. Dieser Mann, der die Fassung nicht verliert, solange jemand ihn braucht, und der all diese Leute liebhat. Ich will von ihm lernen, wie man das macht. Wie man zu jemandem gehört.

Er ging in die Hütte seiner Mutter, bat Carmen, das Nötigste für Carlos zu beschaffen, und ritt wieder los, um mit einem Arzt zurückzukehren. Der brachte die Mutter noch einmal zum Erbrechen, ehe er sie schlafen ließ, Benitos Geld nahm und davonfuhr. Kaum war er fort, begann Xochitl wieder zu schreien. »Weshalb will sie denn für uns nicht leben?«, schrie sie ihren Bruder an. »Weshalb beträgt sie sich, als hätte sie nur ein Kind gehabt und hat jetzt keines mehr? Sind wir gar nichts, Benito, sind wir weniger als nichts?«

»Denk das nicht«, brachte Benito heraus. »Sie hat dich lieb, sie ist rasend vor Schmerz, sie weiß nicht, was sie tut.«

Die zwei, Xochitl und Miguel, haben völlig vergessen, dass er der jüngste von ihnen ist, durchfuhr es Inez. Sie laden ihre Last bei ihm ab, weil er Schultern wie ein Ringkämpfer hat, aber er ist nicht viel älter als zwanzig. Sie wünschte sich, ihre Last auf seinen Schultern abzuladen und zu vergessen – den Krüppel Carlos, den Dreck der Vorstadt, all das Elend, das ihr am Hals hing.

»Benito?«, stammelte die schluchzende Xochitl.

»Was denn, meine Blume?«, erwiderte Benito.

»Du triffst dich nicht mehr mit der Deutschen, nicht wahr? Du weißt, das hielten wir nicht auch noch aus.«

»Sie heißt Katharina«, sagte Benito, »nicht die Deutsche.«

»Benito …«

»Ja, ich treffe mich mit ihr«, fiel er ihr ins Wort. »Ich werde für euch sorgen, und da wir auf Carlos und Miguel nicht mehr zählen können, gehe ich nicht nach Mexiko-Stadt. Ich werde nicht tun, was ich will, aber ich werde lieben, wen ich will, und kein Mensch auf der Welt hat das Recht, mich dafür totzuschlagen. Es ist weder Mord noch Raub, ein Mädchen zu lieben, Xochitl.« Er stand hoch aufgerichtet, und Inez fand ihn so schön, dass sie glaubte, sie hätte töten können, um ihn zu bekommen. Inez, sollte er sagen, wie er Katharina gesagt hatte. Rückhaltlos, kämpferisch und dabei so zärtlich, dass ihr das Bild vor Augen verschwamm.

»Du begreifst nicht!«, rief Xochitl.

»Nein«, stimmte Benito ihr zu, »ich will nicht begreifen, und ich will jetzt auch nicht mehr davon sprechen. Wir haben eure Zukunft zu bedenken. Du und Carmen und Inez, ihr werdet heiraten wollen, und für die Mutter und Carlos muss gesorgt sein. Ich will euch von hier fortbringen, dorthin, wo Miguel euch haben wollte. Nach Querétaro. Der Krieg dauert nicht mehr lange.«

In diesem Augenblick beschloss Inez, in die Siedlung der Deutschen zu gehen und Benito zu verraten. Er wollte sie mit einem lebenden Leichnam und einem Haufen Weiber zurück in die Einöde schaffen, während er der Fremden das Leben bot, das Inez gebührte. Carmen hatte ihr erzählt, was die Deutschen ihm angetan hatten, weil er sich in die Nähe ihrer Tochter gewagt hatte. Es tat ihr weh, Benito Schmerz zuzufügen, aber sie hatte keine Wahl. Das, was er vorhatte, durfte sie ihm nicht erlauben. Ich pflege dich gesund, mein Liebster. Du wirst dich fühlen wie im vanilleduftenden Omeyocan, wenn ich jede deiner Wunden küsse. Du wirst mich lieben lernen und die Deutsche hassen.

Sie war kein dummes Mädchen, nicht dumm und verschlagen wie Juan, sondern klug genug, um sich aus dieser Falle zu befreien. Sie wusste, sie musste mit Bedacht vorgehen. Benito hatte recht. Wenn sie mir nichts, dir nichts ins Haus der Deutschen spazierte, würde man sie hinauswerfen. Natürlich konnte sie versuchen mit dem Sekretär der Engländer zu sprechen, doch erschien der ihr mit Benito zu vertraut. Besser, sie ließ sich Zeit, um die Deutschen zu beobachten. Benito hatte ihr zwar wegen der Soldaten verboten, allein in die Stadt zu gehen, aber Inez fürchtete sich nicht. Sie würde Benito erzählen, Juan gehe mit ihr.

Juan würde sie decken, er war ein Idiot und Wachs in ihrer Hand. Im Mai hatte er wieder eins der Päckchen bekommen. Er hatte behauptet, er werde es an den Besatzern vorbei aus der Stadt schmuggeln, müsse für die Gefahr jedoch gebührlich entlohnt werden. Seiner Auftraggeberin war das Geld ausgegangen. Sie hatte nicht mehr als die vereinbarte Summe bei sich, aber sie zögerte nicht, sich ihren Schmuck herunterzureißen und ihn Juan in den Rachen zu werfen. Der war stolz wie ein Pfau zu Inez gerannt, um ihr seine Schätze vorzuführen.

Eine Kette mit roten Steinen, eine Brosche und ein Medaillon mit einer zierlichen Inschrift. Inez hatte nie lesen gelernt, aber sie war gewitzt genug zu erkennen, dass die Inschrift in derselben Sprache abgefasst war wie die Papiere in dem Päckchen. »Was ist das?«, hatte sie Juan gefragt.

Der hatte dümmlich mit den Schultern gezuckt. »Woher soll ich das wissen? Wird wohl Deutsch sein, oder?«

»Warum Deutsch?«

»Na, weil die Alte, der’s gehört hat, Deutsche ist.«

Inez konnte so viel Dummheit nicht fassen. Die Frau war Deutsche, und er hatte ihr kein Wort gesagt. Für ein bisschen Gefälligkeit wollte er ihr die Kette schenken, doch stattdessen verlangte sie das Päckchen. Noch hatte sie höchstens eine Ahnung, was es damit auf sich hatte, aber sie war sicher, es würde ihr eines Tages nützlich sein.

Zunächst aber brauchte sie einen Verwandten der verfluchten Katharina, einen Wüterich, der auf ihre Nachricht ansprang wie ein Ozelot auf eine Stachelratte und seine Leute zusammenrief, um Benito eine Lektion zu erteilen. Eine, die du nicht nach fünf Jahren wieder vergisst, mein Liebster. Eine, die dich in meine Arme treibt und dort hält.

Das Glück war auf ihrer Seite. Sie schlich dem blonden Sekretär nach, weil sie sonst keinen Anhaltspunkt hatte, und schon an der nächsten Ecke wurde der von einem weiteren Blonden abgefangen und nach Strich und Faden zusammengestaucht. In Inez’ Augen sahen all diese hellhaarigen Europäer sich ähnlich, aber dieser war wie ein Bulle gebaut, und sein Gesicht lief beim Schreien blutrot an. Inez gönnte sich ein Lächeln. Sie würde ein paar Tage investieren, um ihn zu überprüfen, hegte aber keinen Zweifel daran, dass sie dem Ziel ihrer Wünsche nahe war.

Keine Woche später wusste sie, dass der bullige Deutsche Hermann Hartmann hieß, ein Vetter der verfluchten Katharina war und sich als Sittenwächter der Familie aufspielte. Der Sekretär mochte sich mit einem Flittchen eingelassen haben, weshalb der Bullige ihm nachspionierte. Nun, er würde bald etwas Pikanteres bekommen, um seine Zähne hineinzuschlagen. Davon abgesehen war jener Hermann nicht mehr als ein kleiner Ganove, der Weiber und Greise beraubte. Meist hatte er zwei halbstarke Burschen im Schlepptau, die sich als seine Handlanger verdingten.

Inez frohlockte. Der Dia de los Muertos stand bevor, und von ihr wurde erwartet, dass sie daheimhockte und zu Ehren ihres Verlobten eine alberne Mole braute. Zuvor wollte sie ihren Plan in die Tat umsetzen, auf dass sie beim Erwachen nicht mehr das Elend der Welt über sich zusammenstürzen fühlte, sondern die Hoffnung lachen hörte. Es wird mir mehr weh tun als dir, mein Liebster. Ich hätte es dir gern erspart, doch wer nicht hören will, muss fühlen.

Dass Hermann Hartmann vorgab, ihr nicht zu glauben, dass er sie eine stinkende Indio-Hure nannte, machte ihr nichts aus, denn sie wusste, sie hatte ihre Saat gesät. Ihre Worte hatten begonnen in seinem Kopf ihr Werk zu verrichten. An einem der nächsten Tage würde der Bullenbeißer sich seiner Base an die Fersen heften, und wie alle Feiglinge würde er es nicht alleine tun.