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Weder Martina noch Katharina hatten zur Weihnacht des Jahres 1862 ihren Eltern von ihren Heiratsplänen erzählt. Der Krieg gegen die Franzosen hatte jäh an Schrecken und Gewalt gewonnen, und im Dezember tauschte Martina ihre Krinolinenkleider gegen eine aus Männerhosen geschneiderte Uniform und zog als Ärztin ins Feld. »Es kommt mir nicht richtig vor, jetzt Verlobung zu feiern«, hatte Katharina zu Stefan gesagt. »Lass es uns wie geplant mit Martina zusammen tun, wenn wieder Frieden herrscht.«

»Wie du willst«, hatte er erwidert. »Ich hoffe nur, es dauert nicht mehr allzu lange mit dem Frieden, denn jünger werden wir ja nicht.«

In den Monaten, die folgten, hatte Katharina sich manchmal gefragt, warum er nicht darauf bestand, dass sie ihre alberne Idee, auf Martina zu warten, verwarf und ihn mit ihrem Vater sprechen ließ. Martina traf in der Zwischenzeit ihren schönen Guerillaoffizier wieder, behandelte seine Wunden und erwies ihm vermutlich noch manch anderen Dienst, denn als sie auf ein paar Tage Erholung in ihr Palais zurückkehrte, zweifelte sie an der ganzen Heiratsidee.

Unter den duftenden Bäumen der Alameda gingen die beiden Frauen spazieren. Martina sah erschöpft aus, beinahe grau im Gesicht. »Wenn man dieses Leid sieht«, sagte sie, »die verbrannten Dörfer, die Witwen, die Toten, dann will man es sofort tun – heiraten, Kinder bekommen, für neues Leben sorgen. Aber dann wieder frage ich mich, ob ich dafür überhaupt geboren bin, ob ich lernen kann, treu und sesshaft zu werden, oder ob ich meinen Mann ins Unglück stürzen würde.«

»Warum heiratest du eigentlich nicht deinen Offizier?«, fragte Katharina nicht ohne Spott.

Martina lachte. »Kluge Frage! Weil ich ihn nicht mit Haut und Haar besitzen und zwingen kann, nach mir toll zu sein. Weil er es mit der Treue noch weniger genau nimmt als ich. Weil er nicht für mich gedacht ist, Kathi. Den, der für mich gedacht ist, den kenne ich, und vielleicht sollte ich einfach alle Bedenken über Bord werfen und ihm mein Jawort geben, denn wer weiß, wie viel Zeit uns allen bleibt.«

»Ja, vielleicht solltest du das«, murmelte Katharina, fasziniert von der Gewissheit der Freundin. War Stefan für sie gedacht? Sie verstanden sich, übten mit Leidenschaft denselben Beruf aus und dachten über vieles gleich. Es gab nur zwei Dinge, die sie sich mit Stefan nicht vorstellen konnte, und auf beide verzichtete sie schon so lange, dass sie kaum noch für möglich hielt, sie einmal geliebt zu haben. Sie würden liebevolle Eltern sein, auch wenn es Katharina nie gelang, sich ein anderes Kind vorzustellen als Felice.

»Und ihr?«, hörte sie wie befürchtet Martina fragen. »Du und Stefan, wie steht es bei euch?«

»Wir fanden es nicht richtig, dich zu meiner Brautjungfer zu machen, da ich doch deine sein sollte.«

»Bist du von allen guten Geistern verlassen?« Mit seltenem Ernst sah Martina sie an. »Hör zu, wenn du irgendwo einen glutäugigen Herzensbrecher versteckt hast, wenn du ein böses Mädchen warst wie ich, kann ich dir alle Zweifel nachfühlen. Wenn du aber nichts als diesen lächerlichen Grund ins Feld zu führen hast, dann bestellt morgen euer Aufgebot. Himmel, Kathi, da draußen sterben Frauen in Scharen die Männer weg, dieser Krieg hat noch lange kein Ende, und ihr beide hockt geborgen in der Austernschale und nutzt euer Glück nicht aus? Wenn es am Geld fehlt, vergiss es. Ich erlaube mir, meinen Freunden die Hochzeit auszurichten, ob es euch passt oder nicht. Und ich sage euch, auf dieser Hochzeit werden Champagner und Tequila ineinanderfließen, denn wo der Tod herrscht, muss man die Liebe feiern.«

Spontan schloss Katharina die Freundin in die Arme. Ihr Mangel an Takt ließ Martina zuweilen jünger erscheinen, als sie war, aber sie hatte die tiefe Menschlichkeit ihrer Eltern geerbt, und was ihr jetzt noch fehlte, würde ihr Leben sie lehren. »Der Mann, der dich bekommt, ist ein Glückspilz«, sagte sie. »Und der, der nicht mit Haut und Haaren nach dir toll ist, ist ein Idiot.«

Martina lachte. »Ein Idiot ist vor allem dein Stefan, wenn er dich nicht vor den Altar schleift. Richte ihm das von mir aus.«

»Ich werde es tun«, entgegnete Katharina und war allen Ernstes dazu entschlossen.

Dann aber hatten die Franzosen Puebla eingenommen, die Regierung Juárez war aus dem Palacio Nacional ausgezogen und nach Norden geflohen, und Tage später war die französische Armee in die Hauptstadt einmarschiert. Eine Interimsregierung unter dem konservativen Santanista-General Almonte wurde ebenso ernannt wie eine Versammlung von Notabeln, die die Errichtung einer Monarchie auf mexikanischem Boden beschloss. Dass keine dieser eiligst geschaffenen Körperschaften zu solchen Beschlüssen die Befugnis besaß, dass aus dem In- und Ausland Proteste eintrafen und dass Juárez noch immer der gewählte Präsident Mexikos war, spielte für die selbsternannten Herren keine Rolle. Auf öffentlichen Plätzen wurde die Fotografie eines Mannes mit heller Haut, blondem Haar und prächtigem Bart angeschlagen, der, so aberwitzig es klang, den Titel Maximilian I., Kaiser von Mexiko trug.

»Wenn er herkommt, erschießen wir ihn!«, schmetterte Felice in den Klassenraum, während Katharina sich bemühte, den Mädchen die Zusammenhänge zu erklären. Als sie das betretene Schweigen um sich bemerkte, fügte Felice trotzig hinzu: »Was habt ihr denn? So ist es nun einmal in Mexiko – wer bei uns den Kaiser geben will, den erschießen wir.«

Damit spielte sie auf Agustin Iturbide an, der kurz nach der Unabhängigkeitserklärung als Kaiser über Mexiko geherrscht hatte, gestürzt und zum Tode verurteilt worden war. Immerhin hatte sie in den Lektionen in mexikanischer Geschichte, auf die die meisten Mädchen keinen Wert legten, aufgepasst.

»Felice muss Schläge kriegen«, forderte Helenes Tochter Hanne altklug. »Ein Dutzend Schläge mit dem Rohrstock, so wird es in richtigen Schulen gemacht.«

Erregt begannen alle Mädchen durcheinanderzuschwatzen. »Und wenn ich Schläge kriege, habe ich immer noch recht!«, rief Felice tollkühn über sämtliche Stimmen hinweg. »Mexiko braucht keinen Kaiser! Es braucht seinen Präsidenten, der vor der Not nicht die Augen verschließt, und Menschen, die aufbegehren, wenn Unrecht geschieht.«

»Ruhe!«, brüllte Katharina. »Setzt euch wieder auf eure Plätze, oder ich jage euch im Dauerlauf ums Haus. Hier bekommt niemand Schläge dafür, dass er seine Gedanken ausspricht, auch nicht, wenn die Gedanken dumm sind, denn solange er sie für sich behält, kann ihn niemand korrigieren. Eine Strafe hast du allerdings verdient, Felice. Von unserem Ausflug in die Alameda morgen wirst du ausgeschlossen, damit du lernst, nicht leichtfertig vom Erschießen von Menschen zu schwatzen.«

»Da wollte ich sowieso nicht hin!« Der gekränkte Blick des Mädchens ging ihr bis ins Mark, und das hämische Kichern der Kameradinnen machte es nicht besser. Sie alle wussten, dass Felice der Liebling ihrer Lehrerin war, was ihrer Beliebtheit so wenig aufhalf wie ihr eigensinniges, kompromissloses Wesen. Katharina hätte ihr Scharen von Freundinnen und die Unbefangenheit eines jungen Mädchens gewünscht, aber sie wusste, dass derlei ihrer Patentochter nicht gegeben war. Die schmächtige Felice besaß das Herz einer Löwin, und nur zu gern hätte Katharina sie gefragt, wie sie auf das, was sie über die Regierung gesagt hatte, gekommen war.

Stattdessen würde sie ihr noch strenger einschärfen müssen, nichts dergleichen mehr öffentlich auszusprechen. Die Häscher der Besatzungsmacht schreckten nicht davor zurück, auch Frauen und Kinder zu verhaften, die sich ihnen widersetzten. Gerade deshalb hatte sie geplant, ihre Klasse in die Alameda zu führen, wo ein französisches Militärorchester für Spaziergänger aufspielte. Sie wollte den Besatzern eine fröhliche Gruppe europäischer Mädchen zeigen, die über jeden Verdacht erhaben war.

Eine Schülerin der Klasse war noch unbeliebter als Felice. Gesine, eine Mestizin wie Martina, die jedoch weder über Martinas Ausstrahlung noch über das väterliche Vermögen verfügte, das die Tochter vor Erniedrigungen schützte. Gesines Vater hielt sich mehr recht und schlecht über Wasser, und das Mädchen hatte grausame Quälereien auszustehen. Einmal hatte sie tränenüberströmt in einer Ecke des Klassenraums gehockt und sich standhaft geweigert, preiszugeben, wer ihr die pechschwarzen Zöpfe abgeschnitten hatte. Gesine machte in der Klasse kaum je den Mund auf. Jetzt aber platzte sie, ohne den Finger zu heben, heraus: »Der Kaiser sieht wunderschön aus! Wie Quetzalcoatl.«

Der Name des Gottes, wenn er auf Nahua-Weise ausgesprochen wurde, ging Katharina durch und durch. Einst hatte sie sich gewünscht, die Sprache zu lernen, aber dazu gekommen war sie nie. »Warum sagst du das?«, fragte sie Gesine so behutsam wie möglich.

»Er ist groß und stark und hat goldene Haare«, erwiderte das Mädchen eifrig. »Und vielleicht stimmt es ja doch, dass Quetzalcoatl wiederkommt, sich an den bösen Menschen rächt und macht, dass alle Guten reich und glücklich sind.«

Das Gekicher schwoll von neuem an, und Katharina hätte sich am liebsten die Ohren zugehalten. »Das müssen wir selbst machen«, vernahm sie Felices Stimme. »Dabei hilft uns kein Kaiser und schon gar kein Gott.«

»Schluss damit!«, rief Katharina. »Holt eure Hefte heraus, löst eure Aufgaben, und dabei will ich keinen Mucks mehr hören.« In ihren Jahren als Lehrerin hatte sie sich selten so hilflos gefühlt.

 

»Ich glaube, es ist keine gute Zeit zum Heiraten«, sagte sie am Abend zu Stefan, als sie beim Tanztee im kleinen Saal des Deutschen Hauses saßen. Sie gingen oft zu diesen Tanztees, auch wenn sie nie tanzten. Es war eines von zwei Dingen, die sie sich mit Stefan nicht vorstellen konnte.

»Ich will dich nicht drängen«, erwiderte er, einen Satz, den sie unzählige Male von ihm gehört haben musste. Ein wenig klang er dabei wie Juliane, Hermanns Frau, die zwar weinerlich über alles klagte, aber nie gegen etwas Widerspruch einlegte.

»Hättest du es denn jetzt gern getan?«, versuchte sie ihn zu reizen, als ritte sie der Teufel, derweil die Tanzkapelle ihren schläfrigsten Rheinländer spielte.

»Um mich geht es doch nicht«, erwiderte Stefan friedfertig. »Ich dachte eher an unsere Eltern. Im Geschäft gab es heute wieder Wirbel. Wir sind auf einem kompletten Posten Schürzen sitzengeblieben, weil uns die mexikanischen Kunden weglaufen. Außerdem fehlt irgendwelches Geld, das Claudius von Schweinitz im letzten Jahr einbezahlt hat und für das die Ware nie geliefert wurde. Hermann verdächtigt Sigmund, weil Helene und meine Mutter nie mit ihrem Geld auskommen. Und als wäre das nicht genug, sind heute Nachmittag zwei französische Offiziere in der Burg einquartiert worden. Natürlich hätten wir längst damit rechnen müssen, aber unsere Mütter sind außer sich.«

»Stefan«, sagte Katharina, sobald er verstummte, »haben all diese Greuelnachrichten, die du mir aufgezählt hast, etwas mit unserer Hochzeit zu tun?«

Er hätte zurückfragen können, was Martina und ihre Probleme mit ihrer Hochzeit zu tun hatten, aber er zuckte mit den Schultern. »Ich dachte eben, die Alten könnten eine gute Nachricht brauchen.«

Die Musik wechselte abrupt. Aus dem behäbigen Rheinländer erwuchsen sinnliche, schwingende Klänge, für die das Orchester nicht richtig besetzt war. Wie von selbst sprang Katharina auf. Es war keine Musik, um sitzen zu bleiben, sondern eine, deren laszive Bögen sie wie mit Armen umschlangen und deren Rhythmus in die Knochen ging. Auf der Tanzfläche hatte sich noch kein Paar gebildet, doch am anderen Ende des Saals erhob sich der Vater einer Schülerin und steuerte auf sie zu. Auf einmal wollte sie nichts mehr, nur Habanera tanzen. Ehe er sie auffordern konnte, rief eine der Frauen, deren Komitee die Tanztees veranstaltete: »Aufhören! Das wollen wir hier nicht.« Die Musik verstummte.

Stefan stand ebenfalls auf. »Tut mir leid«, murmelte er.

Katharina, die in den Muskeln der Waden noch immer ein Zucken verspürte, ließ die Arme sinken. »Macht nichts. Gehen wir nach Hause? Ich weiß ohnehin nicht, warum wir immer herkommen, obwohl uns doch beiden nichts am Tanzen liegt.«

Sie trafen in der Burg ein, als das Drama dort seinen Höhepunkt erreichte. Vielleicht entbehrten solche Dramen nie einer Spur von Komik, und vielleicht war die Komik daran zugleich das Traurigste. Im rechten Vorderzimmer, das sowohl die Lutenburgs als auch Onkel Christophs Familie als Wohnraum nutzten, stand Katharinas Mutter. Sie hatte das mächtige Bett, in dem sie ihr Eheleben verbracht hatte, in Teile zerlegt und allein herübergeschleppt, weil einer der Franzosen ihre Schlafstube für sich beanspruchte. Am Ende ihrer Kräfte, starrte sie auf die Teile, die sich nicht wieder zusammenfügen ließen. Katharinas Vater lehnte neben der Tür und starrte so hilflos auf seine Frau wie jene auf ihr zerfallenes Bett.

Vermutlich hatten die beiden schon so dagestanden, als Traude mit Helene aus dem anderen Flügel herbeigestürmt war und zu schreien begonnen hatte wie alle Furien der Hölle. Man bezichtige sie des Diebstahls, ihr Sohn lasse sie wieder einmal im Stich, und somit sei es an Marthe, den infamen Ankläger in die Schranken zu weisen. Wie üblich verlieh Helene den Worten ihrer Mutter ein Echo, und wie üblich klebten sowohl Hanne und Grete als auch Sigmund an ihr, als hätte sie nicht zwei, sondern drei Kinder. Hermann ließ nicht lange auf sich warten, sondern drängte samt Fiete, Juliane und Hille in den Raum. Nach wie vor bestand Fiete darauf, seine Mutter überallhin mitzunehmen. Da er sie aber selbst nicht mehr schleppen konnte und Dörte seit dem Unglück schlecht zu Fuß war, lud man sie kurzerhand Juliane auf.

Juliane gehörte zu den bedauernswerten Frauen, die äußerlich stark wie Ochsen erscheinen, im Inneren aber die Seele einer Mimose bergen. Mit der Alten auf dem Rücken schien sie fortan zu einem Doppelwesen verwachsen, dessen Anblick zum Lachen reizte, auch wenn der Trägerin die Tränen in den Augen standen. Heute jammerte sie, sie habe in der Nacht La Llorona gehört, wieder einmal habe das grausige Geheul sie um dringend benötigten Schlaf gebracht. »Manchmal glaube ich schon, ich bin selbst dieses arme Geschöpf! Wer als ich hätte schließlich so viel Grund, um seine verlorenen Kindchen zu weinen?«

Soweit Katharina wusste, hatte Juliane nie ein Kind geboren, aber hatte sie nicht trotzdem recht? Sie mochte um die erträumten Kinder weinen, die ihr vielleicht den Respekt ihres Mannes eingetragen hätten. Niemand schenkte ihrer Klage Beachtung, sie waren alle in Streit um den vermeintlichen Diebstahl vertieft. Hermann versetzte seiner Frau sogar einen derben Klaps auf den Hintern und fuhr sie an: »Gib Ruhe, du Plage.« Hätte er eine Gerte benutzt, hätte man annehmen können, er schlage einen Gaul.

Stefan zuckte zusammen, und Katharina verspürte eine Woge Wärme. Sie ergriff seine Hand. Er war ein feiner Mann, einer, der litt, wenn eine Frau gedemütigt wurde, auch wenn ihm der Mut, dagegen anzugehen, fehlte. »Ich habe nicht dich beschuldigt«, schrie Hermann jetzt Traude an, »ich beschuldige überhaupt keine Frauen, in meinem Geschäft haben Frauen nichts zu suchen. Dieses Geld geht nur Sigmund und mich etwas an, auch wenn er es für dich entwendet hat!«

Traude brüllte Katharinas Mutter an, sie solle gefälligst ein Urteil sprechen, und Helene packte ihren Mann und schüttelte ihn. »Du mach deinen Mund auf, oder willst du auf dir sitzenlassen, dass man dich einen Dieb schimpft, so wie du die Franzosen in unser Haus gelassen hast?«

»Ich habe ja von nichts eine Ahnung«, erwiderte Sigmund weinerlich. »Ich dachte, das Geld sei dem Lieferanten gezahlt worden, ich hatte mit dem Geld nichts zu tun. Ich weiß, dass Christoph es übernommen hatte …«

»Zum Teufel, seid still!«, schrie Katharinas Mutter und presste sich die Hände auf die Ohren. »Seid nur einmal in eurem gottverfluchten Leben still!«

Während die Mutter Atem holte, ertönte lautes Klirren und Splittern. Durch den Raum, keine Armlänge vor ihrem Gesicht, flog ein Geschoss, traf etwas, das auf der Anrichte stand, und löste dort noch einmal, viel leiser, ein Klirren und Splittern aus.

Geschrei gellte Katharina in den Ohren und mischte sich mit den Schritten weiterer Familienmitglieder, die herbeigeeilt kamen. »Es ist die Taube!«, schrie ihre Mutter, stürzte auf die Knie und hämmerte mit den Fäusten auf die Trümmer ihres Bettes ein. »Es ist wieder die verdammte Taube, der Tod, der Tod!«

Katharina glaubte die Wiederholung einer Szene zu erleben, die sie durch ihre Kindheit verfolgt hatte. Ihr Vater stand unbeweglich an der Wand, auch sie selbst stand unbeweglich und starrte auf ihre starke, beherrschte Mutter, die als schreiendes Bündel auf dem Boden lag. Es war Onkel Christoph, der eingriff – Onkel Christoph, der seiner eigenen Tochter nicht hatte helfen können und der für keinen sonst je die Stimme erhob. Er ging neben der Mutter in die Knie und streichelte sie. »Es ist doch gut, Marthe. Es war ja keine Taube. Jemand hat uns einen Stein ins Fenster geworfen, weil er zornig auf die Fremden in der Stadt ist. Es hat mit uns nichts zu tun, wie du immer sagst, nur mit Mexiko.«

Die Schreie der Mutter gingen in ein Weinen über. »Das Kartenhaus bricht zusammen«, brummte die alte Hille auf Julianes Rücken. »Erstaunlich lange hat’s ausgehalten, aber am Ende ist doch alles auf Sand gebaut.«

Katharina musste Stefans Hand mit aller Kraft drücken, um nicht selbst loszuschreien. »Sag’s ihnen«, entfuhr es ihr. »Sag meinem Vater, dass wir heiraten wollen, mach diesem Irrsinn ein Ende.«

Sie gab seine Hand frei. Unendlich langsam löste er seine Finger aus ihren und setzte einen Schritt in den Raum. Es war, als überschritte er eine Grenze, als wäre jäh etwas Wirklichkeit geworden und etwas anderes unwiederbringlich vorbei. Im Geschrei und dem Weinen glaubte sie auf einmal Klänge der abgebrochenen Habanera zu vernehmen. Es wird gut, sprach sie sich beruhigend zu. Stefan war klug und freundlich, er würde nie ihre Würde verletzen, wie Hermann und Helene es mit ihren Ehepartnern taten, und er würde sie nicht im Stich lassen, wie ihr Vater es mit ihrer Mutter tat. Er wusste sie zu schätzen. Nur eine Seite von mir!, begehrte eine Stimme in ihr auf. Zugleich flog ihr Blick hinüber zur Anrichte, auf den Gegenstand, der von dem Stein zerschlagen worden war. Es war das Glas vor dem Bild, das dort gestanden hatte, die alte Daguerreotypie aus Veracruz.

Endlich öffnete Stefan den Mund. »Ich würde gern mit dir reden, Onkel Peter«, sagte er. Obwohl er nicht laut sprach, brachte er den Lärm zum Verstummen. Verlegen warf er einen Blick in die Runde, ehe er rührend unbeholfen in die Knie ging. Es war diese Geste, die Katharinas Fassung den Rest gab, die das Bild heraufbeschwor, das sie auf immer verbannt hatte. Das Bild eines blutjungen Mannes mit schwarzem, von ihren Händen zerzaustem Haar und leuchtenden dunklen Augen. Ich nütze dir nicht einmal auf Knien, also kann ich auch sitzen bleiben, hörte sie ihn sagen. Mein liebstes, verrücktes Mädchen, wenn der Krieg je ein Ende hat, gehe ich auf die Universität.

»Kathi und ich«, sagte Stefan, räusperte sich und begann noch einmal von vorn. »Kathi und ich möchten gern heiraten, Onkel Peter. Ich bitte dich dafür um dein Einverständnis.«

Die Stille, die folgte, war der pure Segen. Sie gab Katharina Zeit, wie eine Erstickende nach Luft zu schnappen. Dann hörte sie ihren Vater stammeln: »Ja, Stefan, du lieber, guter Junge …« Er eilte geradewegs auf Stefan zu und zog ihn an beiden Händen in die Höhe.

Gleichzeitig rappelte ihre Mutter sich auf, lief durchs Zimmer und fiel Katharina um den Hals. Über ihr ohnehin nasses Gesicht strömten neue Tränen. Sie presste es an Katharinas Schulter und murmelte: »Danke, meine Kathi. Mein Schatz, mein Liebstes. Das ist der glücklichste Tag in meinem Leben.«

Dann ist es das wert, dachte Katharina. Was immer es gekostet hat, es ist es wert.

In der Zwischenzeit hatte Fiete einen der Nachtkästen des zerlegten Bettes zu sich herangezogen, war hinaufgeklettert und verkündete, wenn auch mit brüchiger, vor der Zeit gealterter Stimme: »Liebe Familie, ich habe heute die Freude, euch die Verlobung meines lieben Neffen Stefan Kurt Hartmann mit meiner lieben Nichte Katharina Lutenburg bekanntzugeben …«

»Nein!«, brüllte eine Stimme in den Raum. Nach all dem Geschrei hätte ein weiteres Brüllen niemanden mehr erschüttern sollen, aber dieses ging durch Mark und Bein. »Nein«, brüllte Traude wie eine Frau, die um ihr Leben schrie, »alles, nur das nicht, nicht mein Junge und die Tochter des Mörders!«

Dann ließ der dumpfe Schlag, mit dem ein Mensch zu Boden ging, die Wände erzittern. Ob Traude sich niedergeworfen oder das Bewusstsein verloren hatte, war nicht auszumachen.