59

Die Frau saß in einem Lehnstuhl. Sie hatte Haare, die so lang waren wie ihre eigenen, und das weißeste Gesicht, das sie je gesehen hatte. Sie war mager wie ein Gerippe – die Knochen unter der papiernen Haut würden genauso weiß sein.

Die Augen erkannte Katharina sofort. Sie sah sie an, und die Frau brauchte nichts mehr zu sagen. Es waren die Augen, von denen die Lise ihr erklärt hatte, sie seien hübsch und ein Ausgleich für das grässliche Haar. Die Augen, von denen Onkel Christoph gesagt hatte, sie erinnerten ihn an ein Gedicht von Goethe: Ich denke dein, wenn mir der Sonne Schimmer vom Meere strahlt.

Sie stand im Raum und war jeder Fähigkeit beraubt. Hellwach und dennoch wie in einem Traum gefangen, in dem man nicht selbst entschied, was man tat oder ließ. Benito schob ihr einen Stuhl hin und half ihr, sich zu setzen. »Ich gehe jetzt«, sagte er.

Das brach den Bann des Traums. »Bitte bleib hier.«

Aus der Ecke mit dem Lehnstuhl drang die Stimme der Frau. »Sind Sie zurück, Don Benito? Ist der Krieg zu Ende? Ich wünsche Ihnen ein langes Leben in Frieden. Bleiben Sie bei uns. Wenn mir die Stimme bricht, müssen Sie meiner Katharina den Rest erzählen.«

Meiner Katharina.

»Sehr wohl«, sagte Benito, der vielleicht doch zu lange Soldat gewesen war, und trat zurück an die Wand.

Katharina und die Frau starrten einander an. Ob sie das sieht?, fragte sich Katharina, ob sie sieht, dass ich ihre Augen habe?

»Du bist so schön«, sagte die Frau. »Marthe hat mir Zeichnungen von dir geschickt, aber ich wusste trotzdem nicht, dass du so schön bist. Du hast Vicentes Haar.«

Katharina packte eine der schwarzen Strähnen und sah sie an. Sein Pate Vicente, den er vergöttert hat, hörte sie Carmen sagen. Das war der Name ihres Vaters. Vicente. Sie hatte sein Haar.

Gleich würde die Frau den Satz aussprechen, den sie nicht hören wollte, weil etwas daran falsch war. Ich bin deine Mutter. Sie wollte ihr sagen, dass sie es wusste, aber zu der Frau zu sprechen war unvorstellbar. Zugleich fielen andere Teile an ihren Platz. Sie griff wieder nach ihrem Haar und dachte an Benitos Haar im Nacken, das sie im Lazarettzelt gestreichelt hatte. Es war so glänzend, unmöglich in Wellen zu legen und so schwarz wie ihres. Sie starrte auf ihr Haar und dann in die Augen der Frau. Ich bin eine wie Martina, benannt nach Martin, dem ersten der vermischten Mexikaner. Ich bin eine aus zwei Hälften. Eine halbe Nahua.

»Ich bin Marthes Schwester«, sagte die Frau. »Christophs Schwester. Ich war Peters Verlobte. Geht es Marthe, Christoph und Peter gut?«

»Ich glaub«, flüsterte Katharina und sehnte sich nach Marthe, Christoph und Peter. »Ich glaub.«

»Dass Peter und ich verlobt werden sollten, hat die Familie entschieden«, sagte die Frau. »Onkel Sievert war bankrott wegen der Silberbergwerke, und dann wurden wir ihm übers Meer geschickt und mussten durchgefüttert werden. Die Lutenburgs waren reich, mit ihrem Geld hätten sie Onkel Sievert retten können. Onkel Sievert hatte keine Tochter – aber plötzlich hatte er mich. Ich habe diese Worte eingeübt, weißt du das? Wenn man so lange nicht spricht, zersplittert einem die Sprache. Ich habe mir diese Worte aufgeschrieben und sie eingeübt für den Tag, an dem du kommst. Ich wollte, dass du uns alle verstehst. Verstehst du mich?«

Katharina nickte.

»Onkel Sievert starb«, fuhr die Frau fort. »An derselben Krankheit, an der jetzt ich sterbe, an etwas, das im Magen sitzt und frisst. Deshalb hat er die Geschäfte Kurt übertragen. Kurt war sein ältester Sohn, er hatte eine Frau und zwei kleine Kinder.«

Onkel Fietes Bruder. Stefans und Helenes Vater. Tante Traudes Mann.

»Kurt starrte mir nach, wenn ich im Haus umherging. Aber er brauchte Geld, um seine Familie vor Not zu bewahren. Er konnte Frauen nicht widerstehen, doch auf mich übte er Verzicht – ich sollte Peter Lutenburg heiraten, um die Familie zu retten.«

Die Frau hustete und rang nach Atem. Benito ging zum Tisch, füllte aus einem Krug einen Becher mit Wasser und gab ihr zu trinken. Er musste ihr den Becher an die Lippen halten, so schwach waren ihre Hände. Als der Becher halb leer war, brachte er den Rest Katharina. Sie hob ihn an die Lippen und konnte nicht trinken, weil der Gedanke, dass die Lippen der Frau dort gelegen hatten, überwältigend war.

»Peter war der netteste Mann, den man sich denken konnte«, fuhr die Frau fort. »Er behandelte mich wie einen kostbaren Schatz, und er liebte mich sehr. Don Benito, dürfen wir Sie noch einmal bemühen? Können Sie dies hier meiner Katharina bringen? Ich glaube, wir beide wagen das noch nicht – nah beieinander zu sein.«

Die Frau löste sich etwas vom Hals. Benito ging, nahm es ihr aus den zitternden Händen und brachte es Katharina. Es war eine schmale Kette mit einem Amulett in Form einer Taube.

»Das hat Peter mir geschenkt«, sagte die Frau. »Ich war seine Taube. Ich hätte gern, dass du es trägst.«

»Und der Ring!«, rief Katharina und hob ihre Hand in die Höhe, dass die blauen Steine im Halbdunkel glitzerten.

»Den Ring hat Vicente mir geschenkt«, erwiderte die Frau. »Christoph sollte ihn für dich aufheben. Ich mochte Peter gern, aber ich konnte ihn nicht lieben. Ich habe Vicente so geliebt.« Sie musste Atem holen und ihre Gedanken sammeln, vielleicht auch sich Zeit nehmen, um den Schmerz von damals noch einmal auszuhalten. »Die anderen haben gesagt, Vicente ist ein Verbrecher. Aber das war nicht wahr. Es war sein Freund, der uns entführt hatte. Vicente wollte studieren und Anwalt werden. Er hat seinen Freund dazu gebracht, uns gehen zu lassen, und als der Freund von der Hafenwacht erschossen wurde, hat er für dessen Frau und ihre drei Kinder gesorgt. Er hat zu mir gesagt: Es wird lange dauern, bis ich Geld habe und wir heiraten können. Dein Vater war kein Verbrecher, Katharina.«

Und wenn er einer gewesen wäre, hätte es keinen schlechteren Menschen aus mir gemacht, dachte sie. Es macht keinen schlechteren Menschen aus meinem Benito.

»Wenn man verliebt und glücklich ist, vergisst man so viel«, sagte die Frau. »Auch die anderen Menschen. Ich hatte meine Schwester Marthe vergessen. Arme Marthe. Sie hat sich mit Menschen immer so schwergetan, sie hatte nur Christoph und mich, und seit dem Überfall war sie vor Schrecken wie gelähmt. Ich hätte nicht Marthe vergessen dürfen, ich hätte nicht nur an Vicente und mich denken dürfen, dann wäre so vieles nicht geschehen.«

In Wirklichkeit, Kathi, glaubte sie Josephines Stimme zu hören, denkst du Tag und Nacht nur an dich. Aber es war keine Sünde, jung und verliebt zu sein und für kurze Zeit die Welt zu vergessen. Dass dadurch Schreckliches geschah, stand in keinem Verhältnis zu dem lässlichen Vergehen.

»Marthe liebte Peter«, sagte die Frau. »Sie wollte ein einziges Mal einen Menschen für sich. Dass es für sie so aussah, als nähme ich ihr Peter weg, habe ich nicht einmal bemerkt. Sie hatte mich immer so liebgehabt, aber all die Liebe schlug in Hass um. Sie wollte mir so weh tun, wie ich ihr weh tat, und weil sie mondsüchtig war und ich auf sie achtgeben sollte, trafen wir eines Nachts alle zusammen, Marthe, Vicente und ich. Ihre Schwester mit einem Wilden, einem von den Mördern, der totgeschlagen gehörte. Ihre Schwester, die Schande über die Familie brachte. All das schrie sie mir ins Gesicht, und vier Tage später, als sie Peter sagte, sie liebe ihn, und er ihr sagte, er liebe mich, da schrie sie es ihm ins Gesicht. Das war auf Christophs Hochzeit. Meine arme Marthe. Mein armer Christoph. Armer Peter.«

Pfeifend und keuchend rang sie nach Luft. Im Nu war Benito mit dem Krug bei ihr, stützte ihr den Rücken und gab ihr zu trinken. Da er keinen Becher mehr hatte, goss er das Wasser in seine Hand und träufelte es ihr in den Mund. Irgendwann nahm sie seine Hand, klopfte ihm darauf und bedeutete ihm mit einem Blick, sie könne weitersprechen. Benito kehrte an die Wand zurück.

»Es war nicht Peter, der mich beschimpfte und etwas von Wollust mit Affen schrie«, fuhr sie mit rasselnder Stimme fort. »Es war Kurt, dem ich alles kaputtgemacht hatte. Seine Pläne vom Geld der Lutenburgs, seine Rettung – und zu allem hatte ich mich von einem bestialischen Wilden entehren lassen. Kurt bestand darauf, mich in seinem Kontor einzusperren, damit ich den Ruf der Familie nicht länger beflecken konnte. Das Kontor war ein einstiges Gefängnis – in der Kolonialzeit hatte man darin die viehischen Halbmenschen eingesperrt und ausgepeitscht. Ich sollte dort bleiben, bis ich versprach, meinen viehischen Halbmenschen nicht wiederzusehen und Peter Lutenburg zu heiraten. Protestiert hat niemand. Nur Peter. Nicht meine Vera, hat er gesagt.«

Katharina fuhr ein Schmerz in den Leib, der sie zwang, sich vornüberzubeugen. Viehische Halbmenschen, dröhnte es ihr im Kopf. Blutrünstige Affen, die Menschen opfern, verschlagene Wilde mit stumpfen Sinnen. Sie wünschte sich, die Hand nach hinten zu strecken und Benito zu berühren, ihm durch das Zimmer zuzurufen: Ich weiß, wer du bist. Und ich liebe dich.

»Nach all dem Geschrei war ich allein in dem Kontor. Ich war verzweifelt, aber ich wusste, Vicente würde mich finden. Überall auf der Welt. Er würde kommen, und zusammen würden wir alles wieder in Ordnung bringen. Wir würden den anderen sagen, dass ich sein Kind im Bauch trug, und das Leben würde wieder heil sein. Als die Tür, die so schrecklich knarrte, aufgeschoben wurde, dachte ich, es sei Vicente. Ich lief ihm entgegen. Aber es war Kurt.«

Wieder fuhr der Schmerz in Katharinas Leib, zwei-, dreimal, wie Stiche mit einem Messer.

»Er hatte diese Machete in der Hand. Diese riesige Klinge. Siehst du das?, hat er gesagt. Damit wollte dein Wilder deinen Geschwistern die Hälse durchschneiden. Und dann warf er die Machete beiseite und kam und wollte mich.«

Die Frau bedeckte ihr Gesicht mit den Händen. Sie weinte nicht, vielleicht hatte man, wenn man so krank war, keine Tränen mehr. Weder Katharina noch Benito hätten zu ihr gehen können. Sie warteten ab, bis sie den Kopf wieder hob und ihnen entgegensah.

»Ich habe ihn getötet«, sagte sie. »Ich habe irgendwie die Machete erwischt und ihn getötet. Ich habe so geschrien, aber niemand hat mich gehört. Ich will den Rest nicht erzählen. Don Benito, können Sie es für mich tun?«

»Nein«, sagte Benito vollkommen tonlos. »Nur, dass Vicente kam, dass Sie beide geflohen sind, dass Ihre Schwester und Ihr Bruder Ihnen gefolgt sind, dass die Polizei kam und dass Sie alle das Kind retten wollten. Katharina. Sie wollten alle, dass Katharina nicht stirbt. Ich kann den Rest nicht erzählen, Doña Vera. Ich habe ihn nie verstanden. Sie tun mir alle leid, ich wünschte, jemand hätte Ihnen geholfen und es hätte kein Menschenopfer gebraucht.«

Katharina drehte sich um. Benito stand starr, wie versteinert an der Wand. »Bitte erzähl mir, was mit meinem Vater geschehen ist.«

»Er ist gehängt worden«, sagte Benito. »Für Mord. Er hatte ein starkes Genick. Es ist nicht schnell gebrochen, und seine Glieder haben in der Luft gezappelt.« Sie hörte ihn würgen. Mit einem Satz war sie bei ihm und tat, was er vorher bei der Frau getan hatte, schüttete Wasser in ihre Hände und träufelte es ihm in den Mund. Während sein Atem sich beruhigte, strich sie ihm schweißnasses Haar von der Schläfe. »Danke«, flüsterte er.

Sie schüttelte den Kopf, drückte fest seine Hand und setzte sich wieder hin.

»Ich war nicht bei mir«, sagte die Frau. »Ich wollte nur eins – mein Kind gebären und dann sterben. Mein Kind sollte Marthe nehmen und im Schutz der Familie aufziehen. Sie sollte Peter sagen, dass ich gestorben sei und ihn als Vater für mein Kind wolle. Peter und die anderen wussten ja nicht, dass ich, nicht Vicente, Kurt getötet hatte. Peter würde mich weiter lieben, er war ein guter Mensch, und er würde meinem Kind ein guter Vater sein.«

Katharina krümmte sich noch einmal, aber der Schmerz in ihrem Leib ebbte ab. Sie sehnte sich nach Peter. Nach ihrem Vater. Sie sehnte sich danach, ihm zu sagen, dass er ihr ein guter Vater gewesen war, und mit ihm zu singen: Es wird ja alles wieder gut. Nur ein kleines bisschen Mut.

»Ich wollte dort sterben, wohin ich mit Vicente hatte fliehen wollen, obwohl wir kaum aus Veracruz herausgekommen waren – in Querétaro. Josefa Ortiz war auch dort gestorben. Vicente hat Josefa Ortiz so verehrt. Meine Josefa, hat er zu mir gesagt. Meine Frau, die stark genug ist, viele Männer zu tragen. Josefa Ortiz war auch eingesperrt, und dennoch ist es ihr gelungen, Leben zu retten. Ich habe Leben zerstört. Das Leben des Mannes, den ich liebte. Daran gestorben bin ich nicht. Ich musste damit leben.« Ihr Blick flog zum Fenster, obwohl der Laden verriegelt war. »Wie ich hergekommen bin, weiß ich nicht mehr. Die Leute hier, Vicentes Leute, sprachen nicht mit mir, aber sie gaben mir zu essen. Einmal im Jahr schickte Marthe ein Päckchen. So hatten wir es vereinbart. Einmal im Jahr sollte sie mich wissen lassen, wie es meinem kleinen Mädchen geht.«

Sie beugte sich vor und griff mit ihren kraftlosen Händen nach einem Korb. Katharina lief hin und half ihr. Auf einmal war sie ihr nah, streifte die knochige Hand ihr Gesicht. In dem Korb lagen die buckligen Päckchen vom Malecon, aufgerissen und wieder umwickelt. Heraus quollen Haarsträhnen, Briefe, ihre Kinderzeichnungen, ein Taschentuch, das sie ungeschickt umhäkelt hatte, ein gepunktetes Band, das sie im Haar getragen hatte.

»Dafür habe ich gelebt«, sagte die Frau. »Für diese Päckchen von meinem Mädchen, und als irgendwann keine mehr kamen, habe ich einmal im Jahr die alten geöffnet. Sie darf es nie wissen, hat Marthe gesagt, denn wie soll ein Menschenkind das ertragen? Sie wird es gut bei uns haben, sie wird geliebt und behütet sein und wissen, wohin sie gehört. Das hat sie gehalten, nicht wahr? Das hat sie gehalten?«

»Ja«, antwortete Katharina mit den Händen im Korb. »Sie hat es gehalten. Ich hatte es gut, ich war ein glückliches Kind.«

Als sie aufblickte, sah sie die Mundwinkel der Frau nach außen zucken, wie ein Rest von einem verstorbenen Lächeln. »Ich habe ihr versprochen zu schweigen«, krächzte sie. »Um dein Leben nicht zu zerstören. Aber bevor ich sterbe, muss sie wissen, wer ihre Mutter ist, habe ich gebettelt. Wer ihre Eltern waren.«

Katharina wusste, sie hätte etwas sagen sollen, die Frau über das Entsetzliche, das sie erlitten hatte, trösten, doch ihr fehlte die Kraft. Sie hätte sich von der Nabelschnur lösen müssen und aus den Trümmern ihres Lebens einem Morgenstern entgegensteigen, aber sie war nicht mehr als ein erschöpfter Mensch mit einem vaterlosen Kind im Bauch, mit einem schmerzenden Herzen und Angst vor dem kommenden Tag. Sie konnte gar nichts sagen. Nur stillhalten, als die Frau sie noch einmal berührte.

»Du musst jetzt gehen, kleine Taube. Ich habe zu viel von dir verlangt.«

Katharina hielt still. Die Skeletthand strich über ihr Gesicht.

»Don Benito«, sagte die Frau, »bringen Sie meine Katharina wieder ins Tal? Geben Sie auf sie acht, lassen Sie sie zu Kräften kommen. Wann wird sie zu Marthe und Peter zurückreisen? Marthe und Peter werden sie doch nicht verstoßen?«

»Niemals«, erwiderte Benito. »Katharina kann jetzt nicht reisen. Sie bleibt hier, bis nirgendwo mehr gekämpft wird und sie die Kraft dazu hat.«

»Wissen Peter und Marthe, wo sie ist?«

»Wir geben ihnen Bescheid. Machen Sie sich keine Sorgen.«

»Das ist gut.« Tief erleichtert atmete die Kranke, die Vera hieß, auf. »Hab Dank, Katharina. Hab Dank, dass du da warst. Gehen Sie jetzt, Don Benito, bringen Sie mein Mädchen an einen Ort, wo sie sich ausruhen kann.«

Katharina blickte auf. In der Hütte war kaum noch Licht, und sie suchte nach Benito, der ihr auf die Füße helfen würde. Aber Benito kam nicht zu ihr.

»Darf ich Ihnen noch etwas sagen, Doña Vera?«, fragte er. »Ich weiß, Sie sind müde, doch die Sache kann nicht warten.«

»Aber nur zu«, krächzte die Frau namens Vera. »Das bin ich Ihnen ja wohl schuldig. Sprechen Sie.«

Mit zwei Schritten trat er in den Raum und fiel auf seine Knie, dass die Dielen bebten. »Ich möchte Ihre Tochter heiraten«, sagte er. »Sie liebt mich nicht, sie liebt einen bildschönen blonden Tiroler, der Valentin Gruber heißt, aber ich will sie trotzdem. Ich verspreche, ich sperre sie nicht in Lagerhäuser, wenn sie mich nicht nimmt – aber wenn sie mich nimmt, darf ich sie dann haben?«

Die Stille im Raum war greifbar, die Luft so stickig, dass jeder Atemzug schwerfiel. Katharina hörte, wie Vera versuchte etwas zu sagen, und gewiss hörte Vera dasselbe von Katharina.

»Natürlich frage ich Herrn Lutenburg auch«, erklärte er.

»Das darfst du nicht«, schrie Katharina. »Er schlägt dich tot.«

»Ich glaube nicht«, entgegnete Benito. »Es ist so viel Zeit vergangen. Außerdem muss einer von uns deine Familie wissen lassen, dass du wohlauf bist, und du kannst vorläufig nicht reisen.«

»Don Benito«, sagte Vera, und ihre Mundwinkel zuckten heftig. »Finden Sie nicht, wenn meine Tochter nicht Sie, sondern einen schönen blonden Tiroler liebt, dann sollte sie den bekommen?«

»Nein«, erwiderte Benito. »Ich finde, Sie sollte keinen blöden blonden Tiroler bekommen und auch niemanden sonst. Sie ist mein.«

Vera sah von ihm weg und ihrer Tochter ins Gesicht. »Was soll ich mit diesem Mann nur tun?«, fragte sie, und das Zucken ihres Mundes glich jetzt wahrhaftig einem Lächeln.

»Nichts«, antwortete Katharina und stand auf. »Ich tu’s.«

Mit einem Ratschen zerriss ihr Kleid, das am Stuhl festhing. Sie zerrte den Fetzen vom Saum und warf ihn weg. Im Vorbeigehen öffnete sie die Tür der Hütte und ließ die klare Luft ein, den Duft des hohen Frühlings und das Singen der Nacht. Dann ging sie zu Benito und schloss die Arme um ihn. »Was ihr alle dazu meint, schert mich nicht«, sagte sie. »Von jetzt an zählt nur noch, was er mit mir tut und was ich mit ihm tue.« Unter ihren Händen spürte sie, wie seine Schultern sich entspannten und wie er den Kopf erlöst an ihren Leib lehnte. Der gefiederte Schlangengott soll uns die Ohren nicht allzu lang ziehen, dachte sie und streichelte sein Haar. Aber so kleinlich wird er nicht sein. Er hat uns den Pulque gegeben, damit wir tanzen.