21
Am Morgen, als der Sturm sich legte, gingen alle ihrer Wege – die Männer zur Arbeit, die Frauen, um Lebensmittel zu beschaffen, die Jungen in ihren Unterricht, Stefan zu den Temperleys, Jo zu der ewigen Gerlinde und Luise in Begleitung ihres Bruders Sievert zu den Eycks. Nur Katharina ging nirgendwohin und wurde nirgendwo erwartet. Seit kein Wind mehr tobte und kein Regen mehr prasselte, waren aus der Ferne wieder Schüsse hörbar. Es klang, als würden die nordamerikanischen Soldaten ihre Waffen ausprobieren.
Der Himmel blieb verhangen, trübe wie ihr Gemüt. Gegen Mittag ertrug sie die Leere nicht länger und beschloss, spazieren zu gehen. Besser, das Leben der Stadt zu spüren, als zwischen schweigenden Wänden zu hocken und sich vor jedem Gedanken zu fürchten.
Nach ein paar Schritten kam ihr Felix entgegen. Er trug sein Zeichenbrett und die Schachtel mit Kreiden unterm Arm und wollte die Gasse hinunter, die aus der Siedlung führte. Felix war sonderbar. Zierlich von Wuchs und noch ganz Kind, nicht wie Torben und Friedrich, die längst Mädchen auf die Röcke glotzten. Andererseits aber weder so albern noch so gesellig wie Kinder. Er lebte in einer Welt für sich. Auf einmal war Katharina froh, gerade ihn zu treffen – er wirkte so einsam wie sie selbst, schien aber damit zurechtzukommen.
»Wohin gehst du?«, fragte sie.
»Auf die Plaza«, erwiderte Felix, »den Zócalo. Zum Zeichnen.«
»Ist das klug?«, fühlte sie sich als ältere Base verpflichtet zu fragen. »Bis die Soldaten abgezogen sind, soll doch, wer kann, zu Hause bleiben.«
»Ja«, stimmte Felix ihr zu, »aber ich kann nicht.«
»Und warum nicht?«
»Ich will Angst zeichnen«, antwortete Felix unverblümt wie zuvor. »So viel Angst wie jetzt bekomme ich nicht wieder zu Gesicht.«
Vielleicht hätte sie ihn schelten sollen, doch stattdessen bewunderte sie ihn. Wie schaffte er es, so genau zu wissen, was er wollte? Da hatte sie einen Einfall. »Wäre es dir recht, wenn ich mitkäme? Ich verstehe nichts vom Zeichnen, ich würde dir gern zusehen.«
Zum ersten Mal musste Felix vor einer Antwort überlegen. »Ich glaube, zeichnen, wenn du zusiehst, kann ich nicht«, sagte er. »Aber wenn du nur nicht allein sein willst, komm mit. Hätte ich dich letzte Woche getroffen, hätte ich gefragt, ob ich dich zeichnen darf.«
»Warum das?«, fragte Katharina verblüfft.
»Letzte Woche habe ich Traurigkeit gezeichnet«, erklärte Felix.
Katharina ging mit ihm. Während sie durch seltsam leergefegte Straßen dem Herz der Stadt entgegenzogen, verstärkte sich das Geschützfeuer. Vielleicht war es auch Donner. Vielleicht kam der Sturm zurück.
Als sie den Zócalo erreichten, war Katharina froh, dass Felix sie nicht länger bei sich haben wollte, denn der Anblick des marmorgepflasterten Platzes mit seinen Arkaden, den verliebten Paaren und den Bettlern, die zur Gitarre sangen, schnürte ihr die Kehle zu. Sie war kaum je hier gewesen – im letzten Herbst mit Benito, weil sie ihn so sehr bestürmt hatte. Wie damals schien das quirlige Leben auf dem Platz vom Rest der Stadt abgeschirmt. Bis hierher drangen Sorgen nicht vor. Für die Angst, die er zeichnen wollte, hatte sich Felix den denkbar schlechtesten Ort ausgesucht.
Auch ihm fiel es auf. »Ich glaube, ich gehe ein Stück in Richtung Hafen«, sagte er. »Du kommst allein zurecht?«
Vermutlich war er das einzige männliche Wesen, das ein Mädchen in diesem Trubel verlassen würde, und sie war ihm dankbar. »Darf ich heute Abend deine Zeichnungen sehen?«
»Wenn du magst.«
Dann war sie allein mit ihren Erinnerungen. Mit der Fülle der Bilder, an die sie nicht hatte denken wollen. Sie ging an den Tischen mitsamt den lärmenden Gästen vorbei und dachte: Hätte Felix mich damals gezeichnet, hätte er Glück zeichnen können. Jetzt aber hatte er Luise und den Ichsager dafür.
Männer vertraten ihr den Weg oder riefen ihr anzügliche Komplimente zu. Auf eine böse, schmerzhafte Art gefiel es ihr. Wenn ich für dich nicht genug bin – für andere bin ich es hundertmal. Ein Mann im grünen Gehrock mit wie zerknautschtem Gesicht fragte sie, ob sie durstig sei. Sie ließ sich einladen. In das Café mit der rosa Fassade, in dem Luise mit dem Ichsager gesessen hatte. Der Grünrock bestellte, ohne sie zu fragen, und zählte ihr anschließend seine Verdienste und Vorzüge auf. Die Belagerung kümmere ihn nicht – er wisse in jeder Lage, wie man sich die Genüsse des Lebens verschaffe. Dazu lächelte er Katharina vieldeutig an. Die bemerkte es kaum.
Die Glocke der Kathedrale schlug vier. In pyramidenförmigen Gläsern wurde ihnen ein perlendes Getränk serviert. Katharina nahm ihr Glas in beide Hände und stürzte den Inhalt wie Wasser hinunter. Der Grünrock lachte.
Im nächsten Augenblick zerbrach die Zeit. Es war die Rache der gefiederten Schlange, der weiße Berg Orizaba, der sein Inneres ausspuckte und die Erde platzen ließ. Aus dem geborstenen Marmor des Pflasters stoben Wolken von Rauch und Staub, und in der Mitte loderte eine Flamme auf. Der Donner, mit dem Mauern einstürzten, zerrissen von Schreien, war ohrenbetäubend.
Katharina sah noch, dass keine zehn Schritte von ihr entfernt ein Krater sich auftat, dass Menschen brüllend flüchteten und dass ein Körper sich am Boden krümmte. Dann schlug das zweite Geschoss ein, Staubpartikel spritzten ihr in die Augen und raubten ihr die Sicht. Sie sprang auf und tastete blind ins Leere. Drei Detonationen zählte sie, danach ging eine in die andere über, und in ihren Ohren war nur noch Getöse und Geschrei. Der Rauch biss sich in ihre Kehle, sie musste husten und brach in die Knie.
Sie wusste nicht, wie viel Zeit verging, bis die Schüsse sich entfernten und sie die schmerzenden Augen wieder öffnete. Das Geschrei war zu Geheule geworden, als zögen hundert Lloronas über den Zócalo von Veracruz. Der Platz war in Schwaden gehüllt, in denen hier und da Flammen glommen. Der Palacio und die Kathedrale waren unversehrt, doch von den Häusern auf der Frontseite brannte eines, und ein weiteres war nur noch zur Hälfte da. Die zweite Hälfte lag in Brocken am Boden. In dem Haus waren Menschen gewesen – wo waren sie jetzt?
Katharinas Blick flog zur Seite. Tische und Stühle waren umgeworfen, dazwischen lagen eine Damenhandtasche und ein zerdrückter Hut. Der Grünrock war verschwunden.
Warum sie sich aufrappelte und aus dem verwüsteten Garten des Cafés auf den Platz stolperte, wusste sie nicht. Nach wenigen Schritten fand sie den Grünrock. Sein Gesicht war vom Hals weggedreht, als wäre es nicht länger daran befestigt, es war um sich selbst geschraubt und starrte sie an. Der Leib, der zu dem Gesicht gehörte, war aufgeplatzt, und das, was darin gewesen war, quoll schwärzlich aufs Pflaster. Der nächste Schrei, der ihr in den Ohren gellte, war ihr eigener. Gleich darauf erfolgte eine neue Detonation. Katharina rannte.
Wovor sie floh, vor dem entsetzlichen Anblick, vor den Granaten, dem Feuer, spielte keine Rolle. Nur nicht nach hinten schauen, nur weiterlaufen. Instinktiv rannte sie den Weg zurück, den sie vor Stunden mit Felix gekommen war, nach Hause, dorthin, wo sie hätte bleiben sollen. In eurer Nische ist eure Siedlung sicher. Kanonendonner zerfetzte die Luft. Menschen brüllten. Irgendwo zu ihrer Linken ertönte das grässliche Gepolter, mit dem ein Haus einstürzte.
Was waren das für Waffen, die man nirgends sah und deren Geschosse doch überall zugleich einschlugen? Der kleine Felix mit dem Zeichenbrett fiel ihr ein, Josephine auf dem Weg von Gerlinde, die Männer ihrer Familie in den Kontoren beim Hafen. Waren sie alle heimgekommen, waren sie in Sicherheit? Noch eine lange Straße und noch eine kurze, dann würde sie die Dächer sehen. Doch die Straße, die sie einschlagen wollte, gab es nicht mehr, sie war versperrt von Bergen aus Trümmern, aus denen Flammen züngelten und Glieder von Toten ragten. Schreiend sprang Katharina zur Seite und raste blindlings in eine Seitengasse weiter. Ihre Lungen rangen nach Atem, ihre Sohlen trommelten wie von fremder Hand bewegt.
Welcher Weg war das? Der Himmel war schwarz vom Rauch, doch über den Dächern leuchtete ein greller Schweif auf wie ein Bote der Abendröte. Sie rannte darauf zu, zwang ihre Beine, die wie Zündhölzchen einknicken wollten, sich weiter zu quälen, schnappte mit aller Kraft nach Luft und bekam doch nicht genug. Wo waren die Menschen, die hier wohnten, warum traf sie keinen? Warum kam ihr nicht ihr Vater entgegen und brachte sie in Sicherheit? Der helle Schweif beschrieb einer Sternschnuppe gleich einen Bogen und verschwand mit einem Krachen zwischen Dächern.
Gleich darauf loderte der Himmel brandrot auf.
Mit verzweifelter Kraft lief Katharina weiter, so laut eine Stimme in ihrem Kopf auch schrie, sie solle umkehren. Verkohlte Fetzen und Holzspäne trieben ihr durch die raucherfüllte Luft entgegen. Sie musste husten und brach endlich nieder. Zu ihrer Linken hallten neue Schüsse. Statt liegen zu bleiben, robbte sie auf allen vieren weiter auf das brennende Gebäude zu. Auf ihres Vaters Brauerei.
Eine Stimme, lauter als alles, brüllte ihren Namen. Zwei Hände packten ihre Schultern, Arme umschlangen sie und hoben sie auf. »Nicht weiter, Ichtaca. Nicht weiter.«
Er zerrte sie den Weg zurück. Halb trug und halb schleifte er sie, dann fand sie Tritt und stolperte ein Stück weit selbst. Sie brauchte ihren Schritt nicht zu lenken, er hielt sie an sich gepresst und führte sie. Dicht an ihrer Seite spürte sie festes Fleisch und Wärme und Bewegung. Leben. Sie rannten weiter. Irgendwann glaubte sie die Häuser der Engländer zu erkennen. Schüsse und Schreie schienen ferner, und der Rauch war nicht mehr so dicht.
Benito schloss eine Tür auf und zog Katharina mit sich ins Dunkel einer Remise. Zwischen zwei hohen Wagen schob er sie hindurch, kniete nieder und öffnete eine Klappe im Boden. »Dorthinunter.« Sein Atem ging schwer. »Ich gehe voran und helfe dir.«
Kurz ließ er ihr Zeit, um keuchend und hustend nach Luft zu ringen. Dann umfasste er ihre Handgelenke, zog sie dicht zu sich und begann die Leiter hinab in die Tiefe zu steigen. Dabei sprach er nicht, sondern sah sie nur an. In fast völliger Finsternis hielt sich ihr Blick an seinen Augen fest.
Unten half er ihr, sich auf einen Stapel leerer Säcke zu setzen, und ging noch einmal nach oben, um die Klappe zu schließen. Schwärze umfing sie. Die Angst von vorhin, die entsetzliche Angst, der letzte lebende Mensch zu sein, packte sie erneut. Die Bilder des zerfleischten Grünrocks, der zerstückelten Leichen vereinten sich in ihrem Kopf. »Benito!«, rief sie mit dünner, fremder Stimme. Er war mit einem Satz bei ihr, zog sie an sich, grub sein Gesicht in ihr Haar.
Sie weinte lange und erlösend, ohne sich zu fragen, um wen und um was. Benitos Körper zu spüren half gegen die Kälte und das Grauen. Sie presste sich an ihn und legte das Ohr an seinen Hals, an die Ader, in der sein Leben pochte. Später begann sie ihn zwischen Stößen des Weinens auf den Hals zu küssen, dann den Hals hinunter auf den Ansatz des Schlüsselbeins und unter dem Hemd auf die schweißnasse Schulter. Mit ihren Lippen fühlte sie das Beben, das von Zeit zu Zeit durch seinen Körper rann.
»Ich mache Licht«, sagte er rauh an ihrem Ohr. »Willst du trinken? Mit dem Wasser müssen wir sparen, aber es gibt hier unten Wein.«
»Wo sind wir?« Wieder küsste sie seine Schulter. Sie war so froh, ihn bei sich zu haben, sie wollte ihn küssen ohne Ende.
»In einem Lagerkeller. Bei dem Haus der Leute, für die ich früher gearbeitet habe.«
»Helen?«
»Ich habe ihr den Schlüssel nie zurückgegeben. Unter der Erde sind wir sicherer als irgendwo sonst.«
»Hat sie dir erlaubt, herzukommen?«
»Sie ist nicht mehr hier«, erwiderte er. »Die Engländer waren klüger als wir, sie haben die Stadt verlassen, ehe Scotts Schiffe mit ihren verdammten Zweiunddreißigpfündern kamen. Vielleicht waren sie auch nicht klüger, sondern hatten einfach einen Ort, an den sie gehen konnten.« Er löste sich aus ihren Armen, tastete über eins der Regale und zündete einen Kerzenstumpen an. Im blassen Licht erfasste Katharina die Konturen des Raums, Regale, eine Kiste, zwei Fässer. Von einem Brett nahm Benito einen weiteren Stapel leerer Säcke, kam zurück und schlang sie in das harte Leinen. Es kratzte und wärmte. Sie wollte, dass er bei ihr blieb.
Er ging zu einem der Fässer, stach es an und füllte ein Tongefäß. Von oben hörte sie eine Detonation, dann aber hörte sie nur noch das Glucksen, mit dem der Wein in den Krug rann, und sah Benito, der vor dem Fass hockte, die Wirbel seines Rückens, die sich durch den Hemdstoff abzeichneten, seinen Nacken und sein Haar, das er kürzer als alle Männer seines Volkes trug. Über ihren Köpfen brannte ihre Stadt. Hier unten brannte der Wunsch zu leben, sich aneinanderzuklammern und den Schrecken auszulöschen. Sie rief sehr leise seinen Namen. Schweigend, den Wein in der Hand, kam er zu ihr zurück.
Der Krug war groß. Sie tranken aus der Tülle, abwechselnd und in gierigen Zügen. Zwischendurch gab sie Benito Küsse auf die Lippen und schmeckte noch mehr Wein. Nicht denken. Nur trinken. Nicht nach morgen fragen. Sie hatte mit ihm in sein Zimmer unterm Dach steigen und das Geheimnis erkunden wollen, dessen Namen niemand aussprach. Jetzt lag sie auf einem Bündel Säcke, unter einer Stadt, die sich in Todesschreien wand. Aber das änderte nichts. Sie zerrte ihm das Hemd von den Schultern, die gerade und fest waren, straffe Muskelstränge, bedeckt von schimmernder Haut. Als sie ihre Hüften an seine schmiegte, bohrte sich etwas Hartes in ihr Fleisch. Sie griff danach, zog es heraus und hielt eine silbrig glänzende Pistole in der Hand.
Er wollte etwas sagen, doch sie verschloss ihm den Mund und warf die Pistole zur Seite. Dunkel stöhnte er auf, ließ den leeren Krug in die Säcke fallen und schloss die Arme um sie.
Katharina hatte manches über die Liebe zwischen Mann und Frau gehört, von dem ihre Mutter glaubte, es werde ihr Gemüt verletzen, so wie vermutlich die Mutter vieles gehört hatte, von dem deren Mutter dasselbe geglaubt hatte. Sie hatte die verbotenen Worte gehört, die ihre Vettern, um zu prahlen, nachplapperten, sie wusste, dass Männer dafür Geld zahlten und Romanheldinnen sich ins Unglück stürzten, und zuletzt hatte sie Luise gehört, die sich vor der Hochzeitsnacht fürchtete, weil es Frauen unsäglich weh tun sollte.
Es hatte weh getan. Einen Herzschlag lang auf der Spitze, als sie kaum hörbar schrie und sich dabei wünschte, den Schmerz festzuhalten, um für immer zu wissen: Das bin ich. Ich habe so sehr geliebt und war so sehr am Leben. Ich hatte diesen herrlichen Mann in den Armen, Haut, Muskel, Knochen, wendige Hüften, pulsierendes Blut, schwerer Atem, ein Leuchten in den Augen, ein Duft, der überwältigt, und der Geschmack nach Salz. Und er hatte mich in den Armen, ich war in seinen Armen so unwiderstehlich wie Süßwein und so stark wie der Vulkan. Liebe mit Benito war nicht wie irgendetwas, das die Mutter, die Vettern oder Luise ihr zuvor erzählt hatten. Sie besaß kein Zuvor. Sie war einzig und neu, geschaffen aus Katharina und Benito, von keinem anderen je besessen. Nichts und niemand würde sie ihnen nehmen können.
Er zog Teile ihrer Kleidung über sie, damit sie nicht fror, aber sie fror ja nicht. Sie hielt ihn im Arm, fühlte auf seinem Rücken, wie sein Atem sich beruhigte, stützte den Kopf in eine Hand und betrachtete ihn. Neben der ihren war seine Haut so dunkel, dass es sie erschreckte und entzückte. Sein Körper war sehnig und kraftvoll. Er mochte gefährlich sein, doch zugleich kam er ihr in einer Weise schutzlos vor, die sie berührte. Über seine Schulter und die schlanke Hüfte hinunter gruben sich tiefe Narben, die sie inwendig schaudern ließen.
Er warf sein Hemd darüber. »Nicht.«
Sie strich es ihm wieder hinunter und küsste seine Schulter.
»Willst du noch Wein?« Ohne ihre Antwort abzuwarten, ging er mit dem Krug zum Fass und füllte ihn.
Seine Silhouette im Kerzenschein ließ ihr Herz jagen. Sie hätte ihm hinterherpfeifen wollen, wie ein Gassenjunge es bei einem schönen Mädchen tat. »Ich liebe dich.«
Er drehte sich um und hob eine Braue. »Jetzt immer noch, Ichtaca? Auch wenn du weißt, dass ich das nicht hätte tun dürfen?«
Was hättest du nicht tun dürfen? Mich umarmen, mich lieben, mich aus der sterbenden Stadt holen und im Leben halten? Dich mir ausliefern, nachdem ich dich verurteilt habe, ohne dich anzuhören? »Komm wieder zu mir«, bat sie. Er kam, setzte sich neben sie und sah hinunter in ihr Gesicht.
»Benito?«
Statt zu nicken, senkte er die Lider.
»Warum bist du zurückgekommen?«
Seine Schulter zuckte.
»Sag’s mir.«
»Weil du meinen blöden Stolz nicht liebhast«, antwortete er. »Weil meine Stadt brennt und eine Stimme in mir gebrüllt hat: Sag mal, du Idiot, wie vernagelt bist du eigentlich? Du liebst dieses verrückte Mädchen, weißt, sie rennt irgendwo zwischen Congreve-Raketen herum, und du lässt sie rennen wegen einer läppischen Ohrfeige.«
Du liebst dieses verrückte Mädchen. Mich.
Sie rappelte sich auf und berührte seine Wange, strich mit zwei Fingern über straff gespannte Haut. »Gedemütigt werden ist nicht läppisch«, sagte sie. »Du hattest recht, ich habe dich behandelt wie meinen Knecht, der, wenn er nicht kuscht, eben Schläge bezieht. Und deinen blöden Stolz habe ich unendlich lieb, weil er die Größe hatte, darüber hinwegzusehen. Ich bitte dich um Verzeihung, Benito. Aber ich bitte dich auch, mir zu glauben, dass ich keinen Moment lang so gedacht habe. Die Ohrfeige kam von keiner Herrin, die dich verachtet, sondern von einem dummen Mädchen, das dir verfallen ist und vor Eifersucht schäumt.« Als sie sah, wie verstört er war, zog sie seinen Kopf auf ihre Schulter und streichelte ihm den Nacken, die glatte Haut, die allmählich erkaltete. Oben wurde wieder Kanonendonner laut, aber wie durch Polster gedämpft. »Ich schäme mich, weil ich nie dagegen aufbegehrt habe, dass du in meinem Elternhaus geschlagen wurdest. Für das, was ich jetzt sage, musst du mich hassen – es schien mir immer selbstverständlich zu sein.«
Er küsste ihren Hals und richtete sich auf. »Danke.«
»Wofür?«
»Dafür, dass du es mir gesagt hast.«
»Davon heilt ja nicht, was meine Familie dir getan hat«, rief sie heiser vor Scham.
»Doch«, entgegnete er ruhig, »davon heilt es. Und einmal hast du aufbegehrt. Wegen eines Jungen auf dem Malecon.«
»Das weißt du noch?« Sie hatte geglaubt, nur sie allein müsse noch immer daran denken. »Damals warst du wütend auf mich. Du hast drei Wochen lang nicht mit mir gesprochen.«
»Ich bin ein Idiot. Vergiss es. Für mich war es auch selbstverständlich, und für einen Großteil meines Volkes ist es das noch. Zu meinem Bruder habe ich gesagt: Sei doch still. Sie schlagen uns kaum je grundlos und nicht besonders hart. Ich musste erst meine Knochen splittern hören, um mir zu schwören: Wenn mich noch einmal jemand schlägt, schlage ich zurück.«
»Tu’s!«, rief sie und hielt ihm ihr Gesicht hin. »Schlag zurück.«
Er lachte und küsste sie. »Nicht mit der Hand. Auch nicht mit der Machete, wie es zu uns Wilden passt. Ich wollte unbedingt schießen lernen, fechten und töten, und weißt du eigentlich, dass wir beide verrückt sind? Wir erzählen uns lauter Zeug, das wir vor der Welt geheim halten wollten. Wenn wir hier unten sterben, mag das in Ordnung sein. Aber was, wenn wir durchkommen und es bitter bereuen?«
»Ich bereue es nicht«, erwiderte Katharina und vermied einen Blick auf die Pistole, deren Lauf zwischen den Säcken hervorblitzte. »Und ich habe dir nichts erzählt, um zu sterben, sondern weil ich mit dir weiterleben will.«
»Du bist noch verrückter als ich, Ichtaca.«
Sie zerraufte sein Haar. »Hast du’s gelernt?«
»Was?«
»Schießen, fechten und töten.«
»Schießen und fechten ja.« Jetzt war er es, dem der Blick nach der Pistole entglitt, und nur wer ihn sehr gut kannte, hätte das Flattern der Lider bemerkt. »Das andere hatte ich noch nicht nötig. Ich möchte nicht allzu gern wissen, ob ich’s kann.«
Sie zog ihn an sich, unterdrückte den Anflug von Beklommenheit. »Ich werde dich immer lieben, Benito. Weißt du das?«
»Nein«, sagte er, »das kann ich ja nicht wissen. Aber dass du es glaubst, ist schön. Wir müssen uns jetzt in diese Säcke wickeln, damit uns die Kälte nicht fertigmacht. Und mehr Wein sollten wir auch trinken, damit wir nicht beginnen nachzudenken. Wenn es aber gutgeht, wenn wir da draußen noch etwas vorfinden, mit dem wir weiterleben können – willst du es dann versuchen, selbst wenn uns die Llorona holt? So tun, als wärst du nicht meine Herrin und ich nicht dein Knecht und als ginge uns das, was irgendwer vor uns getan hat, nichts an, sondern nur das, was du mit mir tust und ich mit dir?«
Sie sagte lange nichts, sondern genoss jedes seiner Worte, wiederholte sie sich, bis sie vor Glück auflachte. Wie konnte man so glücklich sein inmitten von so viel Verzweiflung? Oder konnte man nur inmitten von Verzweiflung glücklich sein, weil man es sonst vergaß? Übermütig packte sie ihn bei den Ohren. »Hör mal, mein Liebster, wenn das eure Nahua-Art ist, solche Frage zu stellen, dann lass dir gesagt sein: Der Ichsager ist dafür auf die Knie gegangen, und du schuldest mir mindestens dasselbe.«
»Ich nütze dir nicht einmal auf Knien, also kann ich auch sitzen bleiben«, entgegnete er. »Mein liebstes, verrücktes Mädchen, wenn der Krieg je ein Ende hat, gehe ich auf die Universität. Ich werde etliche Jahre studieren und keinen Centavo besitzen, du verlierst deine Familie, und meine wird nicht nett zu dir sein, und als wäre das alles nicht genug, habe ich meinem Bruder versprochen, mit ihm als Bauer nach Querétaro zu ziehen …«
»Nach wo?« Dunkel erinnerte sie sich – es war das schöne Wort.
»Das ist genug jetzt«, sagte er und küsste ihre Augen. »Trink Wein. Für einen einzigen Tag ist das genug.«
»Wein will ich. Aber in dieses Querétaro gehe ich trotzdem mit dir. Wenn es sein muss, sogar mit deinem Bruder oder mit dem Mädchen, mit dem du bei den Temperleys turtelst.«
»Inez«, unterbrach er sie. »Miguels Verlobte. Ehe ich mit der turtle, hänge ich mir eine Grubenotter um den Hals. Ich muss ein Auge auf sie haben, also habe ich sie dort untergebracht.«
»Bei Stefans Georgia?«, fragte Katharina, der alle Georgias und Inez’ der Welt gleichgültig waren.
Er überlegte. »Ja«, sagte er zögernd. »Bei Stefans Georgia.«
Müdigkeit befiel sie. Sie schloss die Augen und lehnte sich an ihn. Er breitete Säcke und Kleider um sie und gab ihr Wein, damit sie schlafen konnte. Weit entfernt hörte sie Schüsse und noch einmal einen Schrei. »Das Wort ist so schön«, sagte sie.
»Welches? Georgia?«
»Querétaro«, murmelte sie, küsste ihn auf den Mund und schlief ein.