27

Katharina hatte Benito die Zeit geben wollen, um die er sie gebeten hatte, aber es tat ihr weh. Er war für sie da gewesen, als sie um Jette, Luise und Sievert geweint hatte, er hatte sie getröstet, sooft sie sich über Jos Schicksal zerfleischt hatte, aber er erlaubte ihr nicht, für ihn da zu sein, wenn er um seinen Bruder trauerte.

Es ist schön zu wissen, dass ich bei dir schwach sein darf. Aber es wäre auch schön, für dich stark sein zu dürfen. Sie hegte nie Zweifel daran, dass Benito sie liebte, sie fühlte sich von ihm unendlich geliebt. Aber das nahm ihr nicht den Wunsch, von ihm gebraucht zu werden, nicht nur Geliebte zu sein, sondern auch Gefährtin. Der Gedanke, dass er mit dem Schmerz, den sie in seinem Gesicht gelesen hatte, allein war, zerriss ihr das Herz.

Sie wollte sich nicht über seine Bitte hinwegsetzen, als würde sie seine Entscheidung nicht respektieren. Aber sich fernzuhalten, ohne ihn wissen zu lassen, dass sie mit ihm fühlte, kam ihr noch grausamer vor. In der Zwischenzeit stürmten die Probleme der Familie auf sie ein, die immer knapper werdenden Mittel, die Untätigkeit der Männer und dann der Tag, an dem sich ihre Mutter durchrang, ohne Traudes Wissen Helene aufzusuchen und mit ihr wegen der Entschädigung zu sprechen, die der Konsul für seine Landsleute eintreiben sollte. Der Krieg war schließlich so gut wie vorbei, Santa Anna, den Benito einen Verbrecher nannte, seines Amtes enthoben und ein Friedensangebot im Gespräch.

Mit einer niederschmetternden Nachricht kehrte die Mutter zurück. »Konsul Eyck kann uns nicht helfen. Nicht jetzt und nicht später. Dieses Land ist so tief verschuldet, dass es keinen Ausländer entschädigen kann, auch nicht, wenn die Vereinigten Staaten für die Nordgebiete eine Abfindung zahlen. Es hat sich zugrunde gerichtet. Und uns mit ihm.«

Die Familie schien wie vom Donner gerührt. Einzig Katharina konnte sich auch jetzt des Gefühls von Zuversicht nicht erwehren – es würde schon weitergehen, sie waren nicht allein auf der Welt, und sie hatten ein Dach überm Kopf, wenn ihnen auch gelegentlich die Mägen knurrten. Die Kette der Hiobsbotschaften aber war damit noch nicht an ihrem Ende.

Wie an jedem Abend besuchte sie Josephine. Seit auf dem Brauereigelände das Entsetzliche aus ihr herausgebrochen war, hatte die Base kein Wort mehr gesprochen. Sie lag in ihrem Bett und starrte an die Decke, ließ sich wohl ein paar Bissen einzwingen, rührte aber von sich aus nichts an. Katharina hatte auch an diesem Abend nichts als quälendes Schweigen erwartet, doch kaum schloss sie die Tür hinter sich, begann Jo zu sprechen.

»Ich muss dir etwas sagen, Kathi.«

»Jo«, rief Katharina erleichtert, »geht es dir besser?« Ein Blick in Jos Gesicht verriet ihr jedoch, dass das Gegenteil der Fall war. Auf den bleichen Zügen stand nackte Angst.

»Das Bluten, Kathi – das, was man nicht in den Mund nimmt …«

»Was redest du denn? Man nimmt überhaupt kein Bluten in den Mund. Kannst du nicht deutlich sagen, was du meinst?«

»Das Bluten«, wiederholte Jo, »das, was Frauen haben«, und dann brauchte sie nicht weiterzusprechen. Katharina wurde kalt.

Sie wusste es, seit Benito sie wie eine Frau liebte. Er hatte es ihr erklärt. Davon, dass sie einander in den Armen lagen, dass sie eins wurden, weil alles andere nicht nah genug war, bekamen Frauen Kinder. Deshalb mussten sie sich im Taumel losreißen, und dennoch hatte er Sorge und fragte sie jeden Monat, ob sie blute. Das Bluten war das untrügliche Zeichen. Wenn eine Frau zu bluten begann, bedeutete das, dass sie ein Kind empfangen konnte. Wenn das Bluten aussetzte, bedeutete es, dass sie eines bekam.

Doch nicht Katharina bekam ein Kind, weil sie einen Mann über alle Maßen liebte und von ihm geliebt wurde, sondern Jo, die keinen liebte und von keinem geliebt worden war. Das Leben ist ungerecht, hatte Benito gesagt. Aber wie konnte es so hart sein – gegen Jo, die aller Welt nur Gutes wollte? »Ich helfe dir«, versprach sie der Base, auch wenn sie keine Ahnung hatte, wie sie das anstellen wollte.

»Ich kann es dem Vater nicht sagen«, schluchzte Jo, »er ist doch schon so verzweifelt wegen alldem.«

Darin gab Katharina ihr recht. Onkel Christoph versank in Schmerz, als wäre nicht Jo, sondern er selbst vergewaltigt worden, und die Übrigen, die Mädchen einredeten, man nähme »das Bluten« nicht in den Mund, taugten als Helfer ebenso wenig. Katharina packte der Zorn. Sie drückte die Base an sich. »Es gibt Wege, Jo. Verlass dich auf mich.« Ob es solche Wege wirklich gab, wusste sie nicht, aber dass das Schwein, das Jo das angetan hatte, ihr Leben zerstörte, durfte nicht sein. Wenn es Wege gab, so wusste sie, wer Manns genug war, sie zu gehen. »Ich frage Benito«, sagte sie zu Jo. »Er wird uns helfen, das verspreche ich dir.«

»Wird er mich nicht für Dreck halten? So wie unsere Männer? Zu mir kommt keiner mehr, nicht mein Vater und nicht meine Brüder, als hätte ich die Pest.«

Katharina überlegte, dann strich sie Jo übers Haar. »Nein, Süßes. Benito hält den für Dreck, der das getan hat. Wenn ihn jemand in dieses Haus ließe, würde er als Erstes sehen wollen, wie es dir geht.«

»Hab ihn lieb, Kathi«, sagte Jo, hielt sich an Katharina fest und weinte. »Er hat’s verdient. Hab ihn lieb.«

In dieser Nacht fand Katharina keinen Schlaf. Sie wollte zu Benito gehen und ihm sagen, dass sie seine Hilfe brauchte. Im nächsten Atemzug aber fiel ihr ein, dass er um seinen Bruder trauerte – vielleicht wurde ihr in dieser Nacht erst klar, wie sehr.

Während sie im Dunkeln wach lag, sah sie die Kinder vor sich, die die beiden gewesen sein mussten. Weshalb hatte Benitos Mutter ihre Söhne zu Fremden gegeben, die sie im Stall schlafen ließen, ihren Stolz verletzten und sie mit Lederriemen prügelten, wenn sie die viel zu schwere Arbeit nicht schafften? War es das, was Armut bedeutete? Aber ihre Familie war jetzt auch arm, und dennoch schliefen sie in ihren eigenen Betten, hatten ihre Kinder bei sich, und niemand misshandelte sie.

Sie hatte immer geglaubt, Benito hätte sie zum Trost gehabt, aber in Wahrheit hatten Benito und Miguel nur einander gehabt. Wenn er mit Striemen auf dem Rücken im Stroh lag, schlief ich in meinem Bett. Wenn er sich einsam fühlte und vor Angst nicht schlafen konnte, war Miguel bei ihm, nicht ich. Ich kam erst am Morgen, ein tapsiges Kind, das ihn mit Kinderproblemen überhäufte. Es ist kein Wunder, dass Miguel spuckt, wenn er mich sieht. Aber Miguel spuckt nicht mehr. Miguel ist tot.

Katharina stieß das Moskitonetz beiseite und riss den Fensterladen auf. In Veracruz war der Morgen meist diesig, doch heute erschien er ihr so klar wie ihr Entschluss. Benito war ein Mann, der sein Leben anpackte, kein Kind, das ihr Mitleid brauchte, und dennoch hatte er es verdient, dass sie seiner Trauer Raum ließ. Sie wollte ihn um Hilfe bitten, aber sie wollte ihm auch zeigen: Ich bin für dich da, so wie du für mich. Und dein Schmerz tut mir weh.

Die Lösung war einfach, wie bei den meisten Dingen, die man erst einmal durchblickte: Es war der 2. November. Der Dia de los Muertos. Benito hatte ihr von der Mole Poblano erzählt, die sein Bruder liebte wie Jette Heißwecken, und sie wusste, wo Händler diese Mole verkauften. Sie würde zum Haus seiner Mutter gehen und sagen: »Ich bin Katharina, ich habe Miguel gekannt und bringe etwas, um es ihm zu Ehren zu essen.« Über Jo würden sie sprechen, sobald sich die Gelegenheit ergab.

Am liebsten wäre sie aufgebrochen, kaum dass sie sich in Eile angekleidet hatte. Aber auch darin wollte sie erwachsen sein. Er hatte sie beschworen, nicht allein durch die Stadt zu laufen, und hätte sie die Warnung nicht in den Wind geschlagen, so hätte Jo nicht das Kind eines Vergewaltigers im Bauch. Vor Fietes Haus vertrat sie Stefan den Weg. Es war Feiertag. Als er behauptete, er müsse zu den Temperleys, winkte sie ab.

»Deine Temperleys sind Schwestern von La Llorona. Sie spuken. Für deine Lügerei bist du mir etwas schuldig, Stefan. Ich brauche Geld, um Mole Poblano zu kaufen, und ich will, dass du mich zu den Alvarez’ in die Vorstadt bringst. Danach geh zu deiner Georgia oder wohin es dir passt. Benito bringt mich nach Hause.«

Stefan sträubte sich nicht. Wie sie besaß er kaum Geld, aber zusammen hatten sie genug, um sich auf dem Malecon einen Topf mit Mole füllen zu lassen. Am Stand gegenüber waren Zuckerschädel zu einer Pyramide gehäuft, es duftete nach Fisch und Salz und frisch gemahlenem Pfeffer, nach Zimt und Vanille und in Chili-Öl geröstetem Fleisch. »Kauf mir für Luise und Jette zwei von diesen Schädeln«, sagte Katharina. »Es ist der Dia de los Muertos, und die beiden mochten Süßes fast so gern wie ich.«

Stefan hüstelte. »Sind die Schädel nicht für Mexikanerinnen?«

Katharina, die sich überwach und erfüllt von seltsamer Ruhe fühlte, erwiderte: »Ich bin Mexikanerin. Meine Base ist als Mexikanerin vergewaltigt worden, und der Mann, der mein Schwager geworden wäre, ist für Mexiko gestorben. Ich habe mir Mexiko verdient.«

Sie ließen sich die Schädel in Ölpapier schlagen und machten sich auf den langen Weg. Gewiss eine halbe Stunde gingen sie schweigend, ehe Stefan sich umständlich räusperte und dann herausbrachte: »Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll, Kathi.«

»Gar nicht«, schnitt Katharina ihm das Wort ab.

»Aber du weißt doch nicht, was ich dir sagen will.«

»Doch. Dass dir die Lügerei leidtut und dass Benito kein Spielzeug ist. Das Erste weiß ich, aber es erklärt nichts. Und das Zweite kann Benito mir selbst sagen, dafür brauchen wir nicht dich.«

»Darf ich jetzt trotzdem sprechen?«, fragte Stefan.

»Ich bin’s nicht, der anderen den Mund verbietet.«

Stefan räusperte sich noch einmal und rieb seine Stirn. »Wir gehen weg«, sagte er. »Aus Veracruz. Meine Mutter hat gestern Fiete bestätigt, dass der Konsul uns auch privat nicht helfen kann. Der Konsul ist so bankrott wie wir. Sein jüngerer Sohn ist von Geburt an krank, er blutet, wenn er sich an einem Kaktus sticht, und die Arztkosten verschlingen all ihr Geld. Helfen kann nur Claudius von Schweinitz. Helenes Mann geht zu ihm nach Mexiko-Stadt, und die Familie hat beschlossen, mitzugehen. Es gibt dort eine deutsche Gemeinschaft, sie haben ein Haus der deutschen Kultur gegründet, und einen Pfarrer haben sie auch. Meine Mutter freut sich darauf. Vielleicht sollten wir uns auch freuen.«

»Und was ist mit deinem Mädchen?«, fragte Katharina. Ich gehe ohne Benito nirgendwohin, dachte sie. Aber Benito würde nach Mexiko-Stadt gehen. Vielleicht würde alles leichter werden, als sie gedacht hatte, gewiss würde Micaela von Schweinitz ihnen helfen, und eines Tages konnten sie hierher zurückkehren, in ihr Veracruz, das nach Schokolade und Meeresfrüchten duftete.

Die Häuser der Stadt hatten begonnen sich zu lichten. Soldaten standen in Gruppen an Straßenecken, warfen ihnen träge Blicke zu, hielten sie aber nicht auf. »Katharina«, sagte Stefan.

»Ja, so heiß ich.«

»Dass man jemanden liebt, heißt nicht immer, dass gut ist, was man tut. Wenn man den, den man liebt, um alles bringt, was ihn ausmacht, ist es nicht gut. Ich weiß, ich habe dich belogen, und was ich sage, hat für dich keinen Wert. Aber der junge Mann, den du dir in den Kopf gesetzt hast, ist ein verdammt feiner Kerl, und er hat durch unsere Familie Leid genug erfahren. Es kann ein Beweis von Liebe sein, auf den Geliebten zu verzichten, Kathi. Und ich versichere dir, du bist nicht die Einzige, die das tun muss.«

Katharina hörte nicht mehr zu. Sie war nach all den Jahren wieder hierhergekommen, sah die weite Ebene, die sich vor ihr erstreckte, die dunklen Wälder und die Gipfel der Berge. Sie erlaubte ihrem Blick zu wandern, entdeckte den Berg im Norden, der mit seiner schneeweißen Spitze das Glasdach des Himmels berührte. Konnte ein einzelner Berg wahrhaftig so hoch sein? Und dann gingen sie noch ein Stück weiter, und die Vorstadt begann.

Die Häuser wurden kleiner, standen eng beieinander und bildeten keine Ordnung mehr. Katharina fand sie hübsch, die zusammengewürfelten Hütten mit ihren mit Maisblättern gedeckten Dächern und den Fassaden in undefinierbarer Farbe. Wie Spielzeughäuschen, die man aufheben und versetzen konnte. An einer Häuserwand, auf einem Sonnenflecken, saß ein grüngelb schimmernder Gecko, aber dies war kein Kindermärchen mehr. Die Katharina, die heute herkam, war eine andere. Durch mich erfährst du kein Leid mehr, schwor sie sich.

»Von hier kann ich allein gehen, Stefan«, sagte sie.

Was er tat, bekam sie nicht mit, weil sie in diesem Moment Benito entdeckte, der aus der Hütte trat, sich unter der Tür hindurchduckte und von der Feuerstelle etwas holte. Er sah aus wie immer und doch anders, trug einen weiten, gemusterten Sarape über dem Hemd und bewegte sich mit ruhiger, fremder Würde. Es ist seine andere Seite, dachte sie fasziniert und rief seinen Namen. Er hob einen Bräter aus der Grube, bemerkte sie nicht und kehrte in die Hütte zurück.

Aber das Mädchen bemerkte sie, die junge Frau, die nach ihm aus der Tür getreten war und ihr Haar in einem Zopf über der Schulter trug. Sie schob sich die Schüssel, die sie aufgehoben hatte, auf die Hüfte und kam ihr entgegen. »Katharina, richtig?«

Katharina nickte.

»Ich bin Carmen«, sagte die Frau. »Wenn Sie zu Benito wollen, kommen Sie mit mir.«

»Ich will ihn nicht stören«, stammelte Katharina.

»Das müssen Sie selbst entscheiden«, sagte die Frau. »Dass Sie ihn stören, ist schon möglich, aber wenn er mein Liebster wäre, ließe ich ihn heute nicht allein.« Nebeneinander gingen sie zur Hütte. In der Tonschüssel auf Carmens Hüfte häuften sich schimmernde Früchte, Pitayas, Avocados, Mangos und Kaktusfeigen, dazwischen Blüten in leuchtendem Orange. »Für die Ofrenda, den Altar. Die Früchte vertreten das Element der Erde und nähren die Seelen der Toten. Die Blumen sind Vertreter des Windes.« Sie hob eine Handvoll aus der Schüssel und zeigte Katharina, dass sie an einen hauchdünnen Faden geknotet waren und in jedem Windstoß flattern würden.

Carmen schob die Tür auf und wies Katharina an, einzutreten. Ihr Herz jagte. Sie saßen im Kreis, die Mutter, das Mädchen Inez, der arme Soldat mit dem zerschossenen Bein und etliche andere, die Katharina nicht kannte. Benito hatte den Bräter, dem der Duft von Koriander entstieg, auf einen Altar in der Mitte gestellt und zündete ringsum Kerzen an.

»Vertreter des Feuers«, erklärte Carmen leise. »Eine für jeden Toten und eine für alle Toten, die wir vergessen haben.« Von der Tür bis zum Altar begann sie die leuchtenden Blüten auszustreuen. »Damit die Toten ihren Weg finden.«

Viele der Gäste musterten Katharina ungeniert und voll Neugier. Sie wirkten kein bisschen bedrückt, sondern geradezu freudig erregt. Ein Mann hielt eine Gitarre auf den Knien und spielte wie in Träumen vor sich hin.

»Das ist Katharina«, sagte Carmen. »Benitos Mädchen. Sie bringt uns Mole Poblano, der Jungfrau sei Dank, denn ohne Mole ist es ja keine Barbacoa für Miguel.«

Mehrere klatschten. Carmen winkte sie heran und zeigte ihr, wo sie den Topf hinstellen sollte. Benito, der einen Wasserkrug danebenstellen wollte, verharrte in der Bewegung. Sie war sicher, er hatte sie nie so angesehen, so als könnte er jetzt erst glauben, dass es sie gab und dass sie ihm gehörte. Mit bebenden Händen stellte sie den Topf zu Wasser und Fleisch. In kleinen Schalen dazwischen verbrannte Harz und erfüllte die Luft mit einem Rauch, der scharf und reinigend roch. Sie tastete in ihrem Beutel nach den Zuckerschädeln. Als Benito sah, dass ihre Finger noch immer bebten, kam er ihr zu Hilfe und legte die Schädel auf den Altar. »Für Jette und Luise?« Er kniete nieder und ritzte mit dem Finger die Namen in die Schädel. Sie waren zu Klumpen geschmolzen, aber Jette und Luise hätten sie ohnehin gleich verschlungen.

Carmen rief etwas und hieb ein Messer in das Fleisch im Bräter. Lauter Jubel brach aus. Die Anwesenden sprangen auf und drängten sich um den Altar, hielten Carmen ihre Tonschalen hin und ließen sie sich mit dem würzigen Fleischgericht füllen. Benito nahm ein seltsam gewinkeltes, nach Zimt und Orangen duftendes Brot und brach es in Stücke, die er an die Gäste verteilte. Der Mann mit der Gitarre hob an, ein lautes Stück mit wilden Läufen und Sprüngen zu spielen, und ein kleiner Mann mit einem Mausgesicht packte das Mädchen Inez und warf es in den Tanz. War das ein Totengedenktag? Es erschien Katharina so lebensfroh wie kein Fest ihrer eigenen Familie.

»Haben wir nichts zu trinken?«, brüllte ein Mann. »Seit wann hätte Miguel uns bei Wasser sitzen lassen, noch dazu, wo das Haus voll schöner Mädchen ist?«

Hinter dem Altar standen Kannen mit Pulque, um die die Männer sich zu balgen begannen. Ein Kreischen und Spritzen entstand wie unter Kindern im Bad. »Gib mir auch!«, rief Katharina, griff sich einen Becher und hielt ihn in die Höhe. Ihr war wehmütig und selig zugleich zumute, als wäre wahrhaftig der Tod zu Gast und würde sie auffordern zu feiern, dass sie noch am Leben waren.

Geschmeidig umrundete Benito den Altar, bückte sich nach einer Flasche und stand im nächsten Moment wieder vor ihr. »Wenn du allein gekommen bist, bin ich dir böse«, sagte er. Er sah so aus, wie sie sich fühlte, wie die Musik klang, wie der Raum geschmückt war – todtraurig und voll Sehnsucht nach Leben.

»Ich bin nicht allein gekommen. Stefan hat mich gebracht.«

»He, Benito!«, brüllte der Mann, der die halbe Gesellschaft mit Pulque begossen hatte, »gibst du uns davon nichts ab?«

»Keinen Tropfen, Jorge«, rief Benito zurück. »Dir ist ohnehin egal, was du säufst, an dich ist das teure Zeug verschwendet.«

»Dein Bruder war nicht so geizig!«

»Mein Bruder war ein edler Mensch, und ich bin keiner.« Er wandte sich wieder Katharina zu, goss die goldene Flüssigkeit in ihren Becher und presste mit der Hand eine halbe Limone aus.

»Was ist das?«

»Der edelste Mezcal. Aus dem Herzen der blauen Agave, mit Zucker gebräunt. Zu ihm sagt man: Goldener Tequila, geh mir nach oben, nach unten, in die Mitte und ins Herz.«

»Trinkst du nichts?«

»Nein«, antwortete er, »ich bin zu feige. Trink du für mich.«

Die Flüssigkeit war bitter, scharf und süß und ließ Herz und Puls rasen, so dass man am ganzen Körper Leben spürte.

Benitos Mutter hatte sich zwischen den Tanzenden hindurchgekämpft. Katharina hatte sie weder so klein noch so alt in Erinnerung. Sie war eine winzige Trockenfeige, und es schien kaum fasslich, dass sie einen Mann wie Benito hervorgebracht hatte. »Schick sie weg«, zischte sie ihm zu. »Dein Bruder hätte nie erlaubt, dass sie an seinem Tisch steht und trinkt.«

»Er hätte auch nie erlaubt, dass du an seinem Tisch stehst und streitest«, versetzte Benito. »Was soll’s, Mutter? Wir hätten ihm nie erlaubt zu sterben, aber er hat’s trotzdem getan.« Er riss Katharina den Becher weg und trank. »Auf dich, Miguel!«

»Ich habe keinen Sohn mehr«, schrie die Mutter. »Mein Sohn ist tot, und das ist deine Schuld – du bist kein Sohn von mir.« Sie schrie, bis Carmen kam und sie wegführte.

Die Gitarrenmusik wurde lauter, dazwischen klapperten Becher und Geschirr. »Benito«, sagte Katharina, »ich weiß, ich darf dich hier nicht küssen, aber in Gedanken küsse ich dich, bis du mich anflehst, aufzuhören.«

Er sah ihr in die Augen, als hätte er keine Wahl. Vielleicht hatte er keine. Jäh packte er sie, zog sie an sich und begann mit ihr zu tanzen. Der springende, wilde Rhythmus hatte nichts mit der Polka oder dem Schottischen gemein, die sie daheim gelernt hatte, und das, was Benito mit ihr tat, erst recht nicht. Er presste sie an sich, dass sie seine harten Hüften spürte, bog ihr den Rücken und beugte sich mit ihr, wie um sie vor all diesen Leuten zu lieben. Als wären wir nackt, durchfuhr es Katharina. Der Tanz war nackt, er kannte keine Scham und hob die Grenze zwischen ihren Körpern auf. Es war der Tanz, den der gefiederte Schlangengott den Menschen geschenkt hatte, weil er sie liebte und keine Rache kannte.

Tief hinein in die Bögen der Takte wiegte er sich mit ihr, machte sie zum Teil der Musik und sah ihr dabei unverwandt in die Augen. Durch ihren Leib zuckten Ströme, die es ihr kaum erlaubten zu atmen. Sie tanzten gegen die Furcht vor dem Tod an und tanzten sich ins Leben zurück. Was immer Katharina Benito zugetraut hätte, sie hatte nicht geglaubt, dass er tanzen konnte.

Es war seine andere Seite, fremd und atemberaubend und unwiderstehlich.

 

Frauen trugen schlafende Kinder heim in ihre Hütten, Männer suchten in rollenden Bechern nach Neigen vom Pulque, Alte lehnten die Köpfe an die Wand und schliefen ein. Benito streute Salz in die verlöschenden Flammen der Kerzen, um die Luft zu reinigen. Das Mädchen Carmen hatte begonnen aufzuräumen.

Benitos Mutter war auf dem Boden eingeschlafen, ihr runzliges Gesicht von Tränen verschmiert. La Llorona, dachte Katharina. Arme, müde Llorona, die um ihre Kinder weint. Benito hob sie auf und trug sie ins Hinterzimmer. Dann kam er wieder zu ihr. »Ich bringe dich jetzt nach Hause, Katharina Lutenburg.«

»Benito, kannst du …«

»Nein«, sagte er und küsste sie, »ich kann nichts, ich liebe dich.«

Sie setzte noch einmal an, aber er legte ihr den gemusterten Sarape um, biss und küsste sie in den Nacken und schob sie hinaus in die Nacht. »Diesen gibst du mir aber wieder, ja? Sonst laufe ich irgendwann ohne Kleider herum.«

Sie hatte ihn fragen wollen, ob er einen Wagen für sie auftreiben könnte, sie wollte ihn zurück in sein Haus schicken, irgendetwas, vermutlich die Erinnerung an jenen Tag, erfüllte sie mit Angst. Damals hatte es geregnet, heute war alles dunkel und still. Das Firmament war eine hohe Kuppel, übersät von Sternen. Benito legte seinen Arm um sie, und sie spürte die Wärme seines Körpers, den starken Atem und das pulsierende Blut. Du bist mein Ein und Alles. Mich hat nie ein Mensch so sehr angenommen, mir hat nie ein Mensch so viel geschenkt wie du.

»Geht es dir nicht gut, meine Kaktusblüte? Haben wir verrückten Mexikaner dir mit unserem Totentanz Angst gemacht?«

Sie schob eine Hand unter sein Hemd, fuhr über das kalte Metall der Pistole hinweg und liebkoste seine Haut. »Überhaupt nicht, Liebster. Ich glaube, ich habe noch nie etwas so Schönes gesehen. Es hat mich gesund gemacht.«

»Du«, sagte er und sah sie mit seinen dunklen, funkelnden Augen wieder an. »Du hast heute mich gesund gemacht.«

Er war größer als sie und hatte prächtige Schultern. Ihr Wunsch, ihn zu beschützen, war töricht, aber dennoch schlang sie die Arme um ihn und wünschte, sie wüsste einen Ort, an den sie mit ihm gehen konnte, an dem sie und ihre Liebe sicher waren.

»Du zitterst«, sagte er.

»Das ist nichts. Nur Müdigkeit.« Ihre Zähne klapperten.

»Arme Rosenkehlelfe. Du gehörst ins Bett.«

»Nein, Benito, lass uns noch einen Augenblick bleiben.« Sie hielt ihn so fest, als würde jemand im Dunkeln lauern, um ihn aus ihren Armen zu reißen. »Ich muss über Jo mit dir sprechen und über Mexiko-Stadt. Benito, ich halte es nicht aus, wenn nur einer von uns geht und der andere nicht.«

»Dann halte es nicht aus«, sagte er. »Dann müssen wir eben zusammen gehen und die gefiederte Schlange bitten, uns die Ohren dafür nicht allzu lang zu ziehen. Aber nach Mexiko-Stadt kann ich nicht, Ichtaca. Ich muss das, was von meiner Familie übrig ist, nach Querétaro bringen, ich muss dort ein Stück Land auftreiben, und was danach wird, weiß ich nicht.«

»Das ist mir egal!«, rief sie und lehnte erleichtert den Kopf an seine Brust. »Ich weiß nicht mehr, was ich tue, wenn du nicht da bist, ich weiß nicht mehr, wer ich bin.«

Er grub die Hände in ihr Haar. »Du bist Katharina Lutenburg, die alles bekommt, was sie will. Auch einen unmanierlichen Mexikaner mit leeren Händen und ohne einen einzigen guten Anzug, wenn dir nichts Besseres einfällt.«

»Nein. Mir fällt im Leben nichts Besseres ein.«

»Was ist jetzt mit Jo?«

»Nicht heute«, sagte sie und küsste die bloße Haut dort, wo sein Hemd am Hals offen stand. »Heute brauche ich dich für mich allein.«

Als sie sich wieder umarmten, dachte Katharina: Wir werden uns hier unter dem weiten Himmel auf die feuchte Erde legen und uns lieben, und dann wird das Zittern aufhören und die Angst, und wir können nach Hause gehen und morgen unser Leben beginnen. Querétaro ist ein schönes Wort. Seine Lippen schmeckten nach Schnaps aus dem Herzen der Agave, und die Erde war fest, nicht feucht. Und dann hörte sie Schritte und Rufe, und alles war vorbei.

»Da vorn sind sie! Die verdammte Indio-Hure hatte recht!«

»Katharina, der Kerl hat Katharina!«

Sie sah sie im Dunkeln auf sie zueilen, erst nur das blendende Licht der Laterne, dann die Gestalten, Hermann vorneweg, dahinter Fiete, Torben, Friedrich, ihren Vater und ihre Mutter. Hermann trug eine Stange über der Schulter und Torben eine Heugabel. Wie auf ein Zeichen fiel ihr Vater in Laufschritt und drängte die Übrigen zurück. Katharina sah seine erhobene Hand und das Silber, das darin blitzte. Wenn noch einmal ein Nahua es wagt, dieser Familie zu nahe zu kommen, wirst nicht du es sein, der ihn kaltmachen muss.

In der Erinnerung dauerte es nicht länger als einen Atemzug. Katharina sprang auf und stieß Benito, so fest sie konnte, auf den Boden zurück. »Nicht!«, brüllte sie aus Leibeskräften und rannte mit erhobenen Händen auf ihren Vater und die Mündung der Pistole zu. »Ich gehe, wohin ihr wollt, aber tut ihm nichts!«

Im Laufen löste sie das Band des Sarapes und warf ihn zu Boden. Eine Taube schrie, dann hallte der Schuss durch die Stille der Nacht.