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Carmen kochte Suppe aus verdünnter Milch, Amarant und Cilantro und füllte sie in eine steinerne Schüssel, eine Metate, in der sie nur langsam auskühlen würde. Zusammen mit einer Flasche Sirup, den sie aus Zuckerrohr, Zimt und Weißdornfrüchten bereitet hatte, stellte sie sie in ihren Korb und trug ihn hinauf zur Grauen am Berg. Von dem Sirup, der Kraft gab, würde die Kranke kaum trinken können, aber Carmen wollte nichts unversucht lassen.

Der Frühling kam spät in diesem Jahr. Für den Weg den Hang hinauf legte sie einen Sarape um. Es war Carlos’ Sarape. Sie liebte seinen Geruch. Auf dem Pfad zwischen den Sträuchern des Bergkaffees musste sie lächeln, denn sie alle hatten grün und kräftig ausgeschlagen. Vor einem Jahr, zum Setzen der Pflanzen, hatten sie Carlos ins Freie getragen, damit er seine Hände in die Erde senken konnte und die Wurzeln der jungen Pflanzen spürte, obgleich in seinen Händen nur noch wenig Gefühl war. Sie hatten ihm eine Schaufel gegeben und auf die Schaufel Erde gehäuft. Anfangs hatte er protestiert, er komme sich albern vor und wolle die Arbeit nicht aufhalten. Carmen aber hatte darauf bestanden. »Du musst. Wirf Erde in die Gruben. Wenn die Sträucher drei Mann hoch sind, will ich Miguels Kindern sagen: Diese Pflanzen hat euer Großvater eingegraben.«

Sie würden gedeihen, dessen war Carmen sicher. Der Boden war gut, und Xavier hatte sich mit Sorgfalt vorbereitet. Die Pflanzen würden Früchte wie rote Perlen tragen und reiche Erträge bringen, sobald wieder Händler über Land reisten und Menschen vor ihren Häusern in der Sonne saßen, um Kaffee mit Zucker und Zimt zu trinken. Bis dahin hatten die jungen Pflanzen Zeit zu wachsen.

Carlos war in einer Nacht im Winter gestorben. Am Abend hatte er noch mit ihnen in der Sala gesessen und mit den schlaffen Händen Karten gespielt, doch beim Hinübertragen hatte er Carmen gebeten: »Bitte leg dich nicht schlafen. Bitte sitz noch bei mir.« Weil er dergleichen sonst nie tat, sondern stets darauf bestand, dass sie ihren Schlaf bekam, wusste sie, dass es in dieser Nacht bevorstand, und saß voll Furcht an seinem Bett.

Er machte es ihr leicht. Wie er ihr alles leichtgemacht hatte. Lange lag er still da, so dass man annehmen konnte, er schliefe, wenn man nicht auf den gequälten Atem hörte. Sie glaubte, er werde keine Kraft mehr zum Sprechen finden, versuchte verzweifelt sich zu erinnern, was er als Letztes zu ihr gesagt hatte, und wollte weinen, weil es ihr nicht einfiel. Dann aber drückte seine Hand, die wie leblos in ihrer lag, noch einmal zu. Aus weit geöffneten Augen sah er sie an und sagte: »Ich liebe dich, Carmen.« Dann machte er die Augen zu und starb.

Carmen stapfte weiter den Pfad hinauf, ließ sich den schneidenden Wind ins Gesicht wehen und sandte ihrem Mann einen Gruß. Auch wenn sie nicht wusste, wo er sich samt all der Liebe, die er für sie und ihr Kind gehegt hatte, befand, fühlte sie sich ihm näher, wenn sie auf den blauen Zackenkamm der Gipfel und den Himmel zustieg. Als sie Carlos geheiratet hatte, war sie für ihre Güte gepriesen worden. Sie werde eine junge Witwe sein und noch einmal heiraten können, hatte ihr der Arzt versichert, denn der Verletzte werde es nicht mehr lange machen. Sollte ich nicht dankbar und glücklich sein, Carlos? Mir war nichts versprochen, und ich bekam fünfzehn Jahre. Anderen ist ein Leben versprochen, und sie bekommen nichts. Ich bin dankbar und traurig, mein Liebster. Du fehlst mir.

Die Hütte der Grauen stand allein im Schutz einer Felsnase, das einzige Haus des Dorfes, das bei einem Aufstieg nicht zu sehen war. Als wäre die Graue nicht da, als würde sie nicht zum Dorf gehören, und so war es. Wer wollte, dass sie dazugehörte, konnte zu ihr hinaufsteigen, und die Übrigen störte sie nicht. Eine Hälfte der Hütte verschwand hinter einer gewaltigen Agave, die ihre meterhohen Blütenstände über das Dach hinausreckte. Agaven blühten nur einmal im Leben, und die Graue hatte Carmen erzählt, die ihre habe fünfunddreißig Jahre gebraucht, um ihre Blüten zu bilden.

Carmen klopfte nicht. Die Graue hörte jeden Schritt. Als die Besucherin die Tür aufschob, hatte sie sich bereits aus ihrem Lehnstuhl gekämpft und kam ihr entgegen. »Doña Carmen«, sagte sie und ließ beide Mundwinkel zur Seite zucken. Das war alles Lächeln, was sie zustande brachte, und wer nicht wusste, dass es ein Lächeln war, der erkannte es nicht. »Danke, dass Sie mich besuchen.«

»Ich bringe Ihnen Suppe und Sirup.«

Wieder zuckte der Mund der Grauen. »Haben Sie Dank. Ich esse es später. Wollen Sie Tee?«

Sie war zum Skelett abgemagert, ihr Gesicht ein mit Haut bespannter Totenschädel. Ihre Krankheit sitze im Magen, sagte der Arzt und verschrieb ein Tonikum nach dem anderen, weil die Familie ihn dafür bezahlte. Helfen würde keines. Die Graue konnte immer weniger essen und würde irgendwann verhungern. Vielleicht war es Schmerz, der ihr den Magen zerfraß, vielleicht war es Schuld. Trotz der Krankheit stand sie Tag für Tag auf und hielt sich und das kleine Haus blitzsauber. Sie trug ein blaues Kleid, das ihre Augen zum Leuchten brachte. Carmen fand sie immer noch schön. Ihre Wogen von Haar hatten die Farbe von Eisen. Die Alten im Dorf sagten, der Schrecken habe es ihr in einer Nacht grau gefärbt, wie er auch ihren Mund gelähmt hatte. Gesehen hatte es jedoch niemand, denn es war nicht hier geschehen.

Carmen wollte keinen Tee. Sooft sie in diesem Haus war, wollte sie sofort wieder nach unten laufen und ihren Sohn in die Arme schließen. Dennoch blieb sie. Jahrelang, so erzählten die Alten, hatte kein Mensch mit der Grauen gesprochen, und als endlich jemand es tat, war es, als müsste sie die Worte neu lernen. »Lasst sie nicht wieder die Sprache verlieren«, hatte Benito sie gebeten. Carmen setzte sich.

Die Graue hatte ein Feuer brennen, da sie immer fror. Sie hängte den Kessel darüber und füllte Teeblätter in eine Tonkanne. Jede ihrer Bewegungen vollzog sich schleppend. »Haben Sie Nachricht?«, fragte sie mit einer Spur von Hoffnung.

»Einen Brief«, sagte Carmen. »Aber er ist bald acht Wochen alt. Es ist jetzt nicht leicht mit der Post.«

»Geht es gut in der Hauptstadt?«, fragte sie beinahe stimmlos.

Eine Welle von Mitleid erfasste Carmen. »In der Hauptstadt« sagte die alte Frau, weil sie sich nicht einmal erlaubte, den Namen des Menschen, den sie liebte, auszusprechen. »Ja«, antwortete sie schnell. »Es geht gut.«

»Mehr wissen Sie nicht, nicht wahr?« Sie stellte einen Becher vor Carmen hin und goss mit zitternden Händen Tee ein. So sauber sie sich hielt, ihr Atem roch übel nach der Krankheit.

Carmen schüttelte den Kopf. »Es ist ja Krieg. Es fällt Benito schwer genug, uns Nachricht zu senden, zumal ganz Querétaro in der Hand des Habsburgers ist und Briefe abgefangen werden.«

Die Graue setzte sich wieder auf den Stuhl und schloss flüchtig die Augen. »Wann kommt Don Benito wieder her?«

»Wenn der Krieg zu Ende ist«, erwiderte Carmen.

»Und ist er bald zu Ende?«

»Ich weiß es nicht«, sagte Carmen. »Die Franzosen ziehen ihre Truppen aus Mexiko ab, bis zum Ende des Jahres sollen alle Einheiten verschifft sein. Der belgische König, der den Habsburger stützte, ist zu Weihnachten gestorben. Und die Union verkauft unseren Leuten jetzt Waffen, sogar schwere Geschütze. Xavier sagt, wir sollen beten und verstohlen feiern, denn es besteht ein wenig Hoffnung. Aber wie lange es dauert und wer dann noch übrig ist – wer weiß das schon?«

Die Graue nickte. Sie trank ihren Tee nicht, wärmte sich nur die Hände daran. »Ich glaube, ich werde nicht übrig sein, Doña Carmen. Don Benito hat zu mir gesagt: Wenn es an der Zeit ist, soll ich es ihn wissen lassen. Es ist jetzt an der Zeit. Aber wissen lassen kann ich es Don Benito wohl nicht.«

»Nein«, sagte Carmen und stand auf, weil Mitleid mit der Frau sie überwältigte. Sie trat hinter sie und legte ihr eine Hand auf die Schulter. Unter der Berührung zuckte die Graue zusammen. »Ich denke, wir müssen eine Zeitlang mit unseren Sorgen allein fertig werden, wir können sie nicht auch noch Benito aufbürden. Ich habe ihm nicht einmal geschrieben, dass mein Mann gestorben ist. Für den Krieg muss alles warten. Auch der Tod.«

Noch einmal nickte die Graue. »Es ist nur – wenn ich tatsächlich nicht durchhalte, bis der Krieg zu Ende ist, können Sie Don Benito dann sagen, er soll selbst tun, was ich nicht mehr kann?«

Die Graue weinte nie. Die Alten im Dorf sagten, bei dem Schrecken, bei dem ihr Haar grau geworden und ihr Lächeln erstarrt sei, seien auch ihre Tränen versiegt. Ihre Stimme aber war schlimmer als Weinen. Sie klang, als würde sie zerbröckeln. Mit steifer Hand strich Carmen ihr über das Haar, das sich weich wie das Haar eines Mädchens anfühlte. »Sie müssen darum keine Angst haben. Wenn Ihnen keine Zeit bleibt, mit Katharina zu sprechen, wird Benito es tun.«

Bei der Nennung des Namens war die Graue erneut zusammengezuckt. Carmen fürchtete sich immer ein wenig, ihn auszusprechen, aber etwas in ihr war sicher, dass es die alte Frau glücklich machte. »Don Benito lässt sie nicht im Stich, nicht wahr?«

»Bestimmt nicht.« Um ein Haar hätte Carmen gelacht.

»Wird sie es aushalten? Wird sie nicht daran zerbrechen?«

»Ich kenne sie nicht«, erwiderte Carmen, die auch die Geschichte der Grauen nicht bis in die letzten grausamen Einzelheiten kannte. »Aber ich glaube, sie wird mit der Wahrheit besser leben als im Ungewissen. Und sie wird nicht allein sein.«

Die Graue schloss die Augen. Ihre Mundwinkel zuckten.

»Ich muss jetzt gehen«, sagte Carmen. »Danke für den Tee.«

»Kommen Sie wieder, wenn Sie etwas hören?«

»Natürlich«, antwortete Carmen. »Vielleicht ist ja auch der Krieg bald vorbei.«

»Ja, vielleicht. Haben Sie meine Agave gesehen?«

»Sie blüht«, sagte Carmen, ging und schloss die Tür hinter sich. Als sie die Felsnase umrundet hatte, hielt sie inne, sah hinunter auf ihr Haus mit den grünen Türen und sandte ein Gebet in den Wind: Gott, wer immer du bist, lass es nach dem Krieg nicht zu spät sein. Schenk all denen, die warten, nach dem Krieg noch fünfzehn Jahre Zeit.