20

Die Windstille war ein untrügliches Vorzeichen. Binnen Stunden brach ein Sturm los, wie Veracruz ihn seit Jahren nicht gesehen hatte. Dort, wo sie lagen, fanden sie unter den Kronen der dichtgedrängten Zypressen zumindest ein wenig Schutz vor dem peitschenden Regen. Capitán Ruiz befahl ihnen, sich auf Taschen, Gurte und Büchsen zu legen, um die kostbare Munition vor Nässe zu bewahren. »Das Wetter ist unser Segen«, bellte der Capitán durch Prasseln und Pfeifen. »Solange es anhält, bringen die Gringos keine Kanone vor die Stadt. So bald wie möglich rücken wir aus und greifen an. Zerstreute Ordnung! Darauf verstehen die sich nicht. Wir machen ihnen die Hölle heiß.«

Der Gefreite Carlos Ximénes kroch zurück in die Grube unter den verzweigten Damianasträuchern, wo Miguel Alvarez auf ihn wartete. Da Carlos keine Schwester hatte und Miguel mit seiner Base verlobt war, war er so etwas wie ein Schwager für ihn. Er mochte ihn gern. Einen so herzlichen, offenen Kerl wie Miguel, noch dazu einen, der ihm die Sorge um Inez abnahm, hätte Carlos ohnehin gemocht, aber in einem Krieg, in dem man nebeneinander in Gruben lag und dazwischen Platz für den Tod machte, mochte einer den anderen noch mehr, auch wenn er ihm auf die Nerven ging. Immer, wenn sie etwas zu trinken hatten, gelobten sie einander feierlich, dass der eine sich um des anderen Familie kümmern würde, falls dieser für Mexiko sterben sollte.

»Und wenn wir beide sterben, Miguel?«

»Wir sterben doch nicht beide! Wir kommen als Helden zurück, ich heirate meine Inez, und du führst sie mir zum Altar. Und dann gehen wir heim nach Querétaro und kaufen uns ein Stück Land. Unser eigenes Land, mein Carlos. Sag, wird das nicht besser als das Himmelreich Omeyocan, besser als der Sonnenweg?«

»Aber ja«, erwiderte Carlos, dem es nie gelang, sich so vollendet zu betrinken wie Miguel. »Aber wenn wir nun doch sterben …«

»Dann begleiten wir die Sonne auf ihrem Weg vom Zenit bis zur Morgenröte wie alle tapferen Mexica-Krieger.« Miguel grinste, doch gleich darauf befiel ihn das Zittern, an dem er immer häufiger litt, und er musste noch mehr trinken. Carlos gab ihm den Rest aus seinem Napf. »Und überhaupt«, stammelte der Freund mit klappernden Zähnen, »um deine Base brauchst du dich, selbst wenn wir sterben, nicht zu sorgen, denn dann kümmert sich mein Bruder um sie. Und was in meinem kleinen Bruder steckt, das weißt du nicht, das weiß kein Mensch außer mir. Wenn der was anfängt, kannst du drauf wetten, dass er’s ordentlich zu Ende bringt.«

Das beruhigte Carlos. Jedes Mal aufs Neue. Miguels Bruder war zu Höherem bestimmt und würde schneller Offizier sein als sie alle. Wenn Miguel ihm Inez ans Herz gelegt hatte, würde es dem widerspenstigen Fohlen an nichts mangeln.

»Ich hab ihn aufgezogen, weißt du?«, murmelte Miguel und starrte auf seine Hände, die in den schönen Reithandschuhen steckten. »Bei den verdammten Deutschen. Das ist das Einzige, was mir im Leben gelungen ist.«

»Ist dir gut gelungen, Miguel. Wirst einen prächtigen Vater abgeben.«

»Ja, das hab ich vor. Zwei kräftige Burschen, wie mein Bruder und ich es waren, und ein Mädchen wie meine Schwester, das würde mir gefallen. Carlos?«

»Miguel?«

»Meine Handschuhe – bringst du die zurück, wenn doch was passiert? Sind ein Geschenk von meinem Paten Vicente, mächtig feines Leder. Mein kleiner Bruder, der könnte die gut brauchen.«

»Versprochen«, rief Carlos, und dann wurde ihr Gespräch im Tosen des Sturms zu mühevoll. Ihre Kleider waren durchnässt, und die Nacht war kalt. Dennoch schlief Miguel ein. Er ermüdete schnell. Im Grunde war er zu schwach und vor allem zu langsam, um zu kämpfen, doch welche Wahl blieb ihm? Vielleicht wütet der Sturm noch für Tage, bis den Belagerern der Proviant ausgeht, hoffte Carlos. Wenn sie abgezogen sind, vielleicht versetzt man uns auf eins der Forts, wo es trocken ist.

Die Stadt so nahe zu wissen, steigerte die Sehnsucht. Die Männer hatten erwartet, höher hinauf, an eine Straße in die Hauptstadt, geschickt zu werden, doch stattdessen hatten sie in den Waldungen vor Veracruz Deckung gesucht. »Wir fallen den Gringos in den Rücken«, hatte Capitán Ruiz getönt. Er war ein Prahlhans, der vom Krieg nicht mehr als seine Männer verstand, aber kein Kerl ohne Herz. Carlos hätte ihn um Ölzeug für Miguel gebeten, hätte er nicht gewusst, dass der Capitán selbst nichts besaß. Er legte dem Freund die Hand auf die Stirn. Trotz der Kälte glühte die Haut. Wie lange war Miguel schon krank?

Ihr Versteck lag hinter dem Waldsaum. Wäre der Regen nicht so dicht gewesen und hätte er sich ein Stück weit hinauswagen dürfen, hätte er Dächer und Türme von Veracruz sehen können. Ein Stück Befestigungsmauer vom nördlichen Fort Concepcion. Und davor die Zelte der Gringos, denen es unter Generalmajor Scott gelungen war, eine Belagerungslinie von sieben Meilen um die Stadt zu ziehen. Fünfzehntausend Menschen lebten hinter der Linie. Wie erging es ihnen in dieser Nacht? Rückten sie in ihren Häusern zusammen, hielten sie einander fest, machten sie Liebe aus Angst vor dem Tod? Wir sind hier, um die Menschen in der Stadt zu schützen, versuchte Carlos sich Mut zuzusprechen, aber in der schlammigen Grube, neben einem Mann, der im Fieber lallte, kam ihm diese Vorstellung ebenso lachhaft wie traurig vor.

Vor dem Morgengrauen verebbte der Sturm. Es nieselte nur noch, und damit erfolgte der Befehl zum Ausrücken. In Paaren sollten sie sich halten und mit ihren ungenauen Waffen so schnell und so oft sie konnten auf die Wachposten feuern. Plänkeln wurde diese Taktik genannt. Sie sollte den Gegner aufstören und seine Ordnung brechen, damit die Kompanien aus den Forts leichtes Spiel hatten. Falls Kompanien aus den Forts überhaupt zur Verstärkung einrücken würden. Verständigung, so schien es Carlos, hätte das Blatt dieses Kriegs wenden können, aber wer war er, um das zu beurteilen? Er musste Miguel wach rütteln, ihm Regenwasser ins Gesicht spritzen, damit er zu sich kam. »Ich glaub, mein Carlos, das Teufelszeug gestern war zu viel für mich«, flüsterte er und rieb sich die glühenden Wangen. Sie folgten dem ersten Paar in fünf Schritten Abstand. Durch das Dickicht liefen sie geduckt, die nassen Kleider hingen klamm um die Glieder, und in die Sandalen, die sie trugen, seit ihnen die Stiefel von den Füßen gefallen waren, drang Schlamm. Einen Herzschlag lang verhielten sie, ehe sie aus der Deckung ins Freie tauchten.

Aus den Morgennebeln schälten sich die Zelte der Gringos, ihre Feuer und Pferde heraus. Dann die Umrisse der Wachposten. Vielleicht wurde den Männern erst jetzt klar, dass es diesmal um keine Übung ging, bei der ein paar Kameraden sich Mützen mit dem Sternenbanner aufsetzten und am Ende alle miteinander Maisgrütze aßen. Diesmal war es ernst. Mancher von denen, die über die dünne Grütze geschimpft hatten, würden keine mehr essen. An seiner Seite zitterte Miguel. »Jetzt raus«, flüsterte Carlos, ehe das Begreifen und die Angst überhandnahmen.

Vor dem Angriff mussten sie die Musketen einmal leer abfeuern, um die Zündpfannen vom feuchten Pulver zu befreien. Das war der gefährlichste Augenblick. Der Lärm würde den Gegner auf sie aufmerksam machen, und alles hing davon ab, wie schnell jeder Einzelne den Ladestock aus der Halterung löste, Projektil und trockenes Zündkraut nachstopfte und erneut bereit war zu feuern. All dies musste im Laufschritt geschehen, immer fünf Schritte hinter dem ersten Paar her und um drei Schritte seitlich versetzt.

Carlos hatte sich im Training nicht übel angestellt. Vielleicht wäre es ihm gelungen, hätte er weder auf den schwankenden Miguel geachtet noch auf das, was sich vor seinen Augen aus den Nebeln schälte. Der Schrecken, an den sie nicht hatten glauben wollen wie Kinder, die beharren, es gebe keine Dämonen, keine Tzitzimime, bis sie das erste Mal von ihnen träumen. Hinter der südlichen Stadtgrenze sah er die Mastspitzen von Schiffen, die schleichend näher kamen. Aber das war nicht das Schlimmste. Ebenfalls aus südlicher Richtung rollten die Tzitzimime, der Stadt entgegen. Carlos machte mindestens drei Steilgeschütze aus, etliche Haubitzen und die größte Kanone, die er je gesehen hatte. Sie kamen zu spät. Die Artilleriebatterien der Vereinigten Staaten schlossen die Schlinge um Veracruz.

Das vorderste Paar gab seine Schüsse in die Luft ab. Die Detonation des feuchten Pulvers klang wie der Husten einer kranken Lunge. Jetzt wir, jetzt wir! Carlos feuerte, aber neben ihm hallte kein Schuss auf. Miguel schien Probleme zu haben, doch er durfte nicht auf ihn achten. Nur den Ladestock aus den Ringen ziehen, das Pulver auf die Pfanne schütten und die Kugel in den Lauf rollen lassen. Auf das Schießpflaster, das die Kugel sicherte, verzichtete ihre Einheit schon lange, weil kein Nachschub mehr geliefert wurde. Damit die Kugel nicht aus dem Lauf rollte, musste man den Lauf aufwärtsrichten und traf damit meist übers Ziel hinweg. Jetzt aber waren sie ohnehin von ihren Zielen, den feindlichen Wachen, viel zu weit entfernt.

Nicht denken. Spannen und feuern. In dem Augenblick, in dem Carlos den Abzug betätigte, explodierte in seinen Ohren die Welt. Der Rückstoß der Waffe war enorm, weil von dem minderwertigen Zündkraut die doppelte Menge benutzt werden musste. Hören konnte er nichts mehr, doch er spürte das Pfeifen der Geschosse. Nicht Miguel, schrie es in ihm, nicht Miguel. Ohne Unterlass fielen weitere Schüsse, die Morgenstille hatte sich ins Getöse der Hölle verwandelt. Würden die Menschen in der Stadt sie hören, Miguels Liebste Inez, Miguels kleiner Bruder, den er so sehr verehrte?

Explosionen zerfetzten Gedanken. Die Handschuhe!, durchfuhr es ihn. Ich muss die Handschuhe holen. Als er versuchte sich fallen zu lassen, bemerkte er, dass er bereits auf seinen Knien lag. Er wollte die Hände ausstrecken, aber diese pressten sich wie angeleimt auf seinen Leib. Wie durch Spinnweben starrte er darauf. Die Hände waren rot, Blut lief über sie und tropfte auf seine Schenkel und sickerte ins zertretene Gras. Der Schmerz kam erst jetzt. Und gleich darauf kam das Schwarz.