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Eisacktal, Kronland Tirol

Es gab Morgenstunden, da lag das gesamte Tal in einem Netz aus Nebeln und Sonnenlicht. Der Bach gurgelte stürmisch, das Gras richtete sich nach der Dürre des Sommers noch einmal auf, die Goldnesseln blühten am Gefälle; und am Sauerdorn glänzten wie Blutstropfen letzte Beeren. Wenn Valentin Gruber, Vizeleutnant des Tiroler Jägerregiments, den Blick hob, grüßten ihn vom Vorberg die Wälder, rotgolden im Laub und bald schwarz in den Tannenwipfeln, derweil die Gipfel ihn wie Wächter überragten.

Valentin sog die nach Frische und Reife duftende Luft in seine Lungen und zügelte sein Pferd. »Kannst du mir sagen, Toni«, wandte er sich an den Gefährten, der neben ihm ritt, »warum mich dieses herrliche Land nicht hält?«

Anton Mühlbach, sein Kamerad seit der Kadettenzeit, lachte. »Das Land? Mich wundert mehr, warum dich das zuckrige Geschöpf, mit dem du verlobt bist, nicht hält. Weißt du Glückspilz überhaupt, dass jeder Mann der Kompanie grün vor Neid auf dich ist?«

»Und ob ich das weiß.« Valentin ließ seinen Fingern die Zügel entgleiten, dass der Goldfuchs den Hals recken konnte, und wandte den Blick nach den Weinbergen, die seine Verlobte, die Erbin des Baron von Spaur, ihm einbringen würde, sobald sie verheiratet wären. Natürlich wusste er, dass ihm die Kameraden die reizende, gerade sechzehnjährige Veronika ebenso wie ihre üppige Mitgift neideten, er hätte an ihrer Stelle nichts anderes getan. Auch das Erbe von der mütterlichen Seite mochte in manchem, der wie Toni nichts zu erwarten hatte, Neid erwecken. Valentins Mutter war eine geborene von Tschiderer, und da ihr Bruder kinderlos war, würde er, ihr einziger Sohn, nach dessen Tod Herr über das Gut werden, auf dem er und Toni ihren Urlaub verbrachten. Er hatte allen Grund, seinem Schicksal dankbar zu sein, und doch schickte er sich an, das alles aufs Spiel zu setzen.

Es ist mir in den Schoß gefallen. Wie soll man sein Herz an etwas hängen, das so leicht zu bekommen war?

»Solferino«, vernahm er an seiner Seite Toni, der ebenfalls seinem Pferd die Zügel schießen ließ. »Das sitzt uns im Blut. Nach einer solchen Demütigung verlangt es einen Mann nach einer Herausforderung, mit der er die Scharte auswetzen kann.«

Das war gut gesprochen. Die Niederlage gegen die sardischen Truppen und ihre französischen Verbündeten lag zwei Jahre zurück, aber die Erinnerung an die erlittene Schmach brannte mit unverminderter Kraft. Sie hatten nicht nur ihren Kaiser enttäuscht, dem Valentin, wenn er ehrlich war, wenig Liebe entgegenbrachte, sondern vor allem ihr verehrtes Idol – Erzherzog Max, des Kaisers jüngeren Bruder.

Maximilian von Habsburg war der Oberbefehlshaber der Kriegsmarine, einst ein maroder Haufen unbrauchbarer Scharteken, den er dank seiner Talente in eine moderne Kriegsflotte verwandelt hatte. Galt der Kaiser als konservativer Spießer, der jeden Hauch von Fortschritt in seinem Reich erstickte, so herrschte dort, wo Erzherzog Max die Bühne betrat, der Wind der neuen Zeit. Er war nur wenig älter als Valentin, und zuweilen glaubte dieser den bewunderten Mann so inwendig zu kennen wie sich selbst. Beide träumten sie von Ferne und Abenteuer, vor allem aber von einer Gelegenheit, sich vor der Welt zu beweisen – von einer Aufgabe, die nicht leicht und banal war, sondern sie über ihre Grenzen trieb.

Wir hätten Freunde sein können, dachte Valentin mit dem Bild des Erzherzogs vor Augen, hätte meine Geburt mich an einen anderen Platz gestellt.

Das nämlich war der Stachel, der tiefer als jede Niederlage in seinem Fleisch bohrte. Seine Mutter mochte dem ältesten Tiroler Adel entstammen, sein Vater jedoch war ein bürgerlicher Wiener Beamter gewesen, der Frau und Kinder bei seinem Tode mittellos zurückließ. Als Bittstellerin hatte die Mutter in ihr Elternhaus zurückkehren müssen. Valentin selbst hatte sich im Heeresdienst vom ersten Tag an ausgezeichnet. Befehlshaber lobten seinen Schneid, und nach Solferino war er für seine Tapferkeit dekoriert worden. »Sie sind ein Aushängeschild für Ihr Regiment, Gruber«, hatte sein Hauptmann gesagt, doch einen Titel würde er erst tragen, wenn es dem Onkel einfiel, seinen Platz zu räumen.

Es sei denn, ich darf mir den Titel selbst erringen. An der Seite von Max, bei einer Aufgabe, die dem Rest der Welt unlösbar scheint.

»Woran denkst du denn, Vally? An deine Veronika? Lange werdet ihr beide ja mit der Hochzeit kaum warten wollen.«

Der bloße Gedanke verursachte Valentin Magengrimmen. Gewiss liebte er Veronika und war sicher, dass sie allein würdig war, die Mutter seiner Kinder zu werden. Aber für diese Dinge war es noch zu früh. Die Unruhe, die ihm im Herzen wühlte, der Wunsch, nach den Sternen zu greifen und etwas wahrhaft Großes zu vollbringen, musste erst befriedigt sein.

»Toni«, sagte er, nahm die Zügel wieder auf und brachte den Goldfuchs zum Stehen, denn er wollte mit dem anderen reden, ehe sie das Torhaus des Guts erreichten. »Du bist mein Freund, nicht wahr?« Dass Toni sich mit größtem Stolz seinen Freund nannte, wusste er, auch wenn er selbst insgeheim noch immer auf den Mann, den er als Freund empfand, wartete.

»Aber ja doch. Warum fragst du? Soll ich für dich die Kastanien aus dem Feuer holen?«

»So ähnlich.« Sein Lachen war nicht echt. »Du sollst heute Abend meiner Großmutter, meiner Mutter und meinen Kletten von Schwestern erklären, warum ich nicht mehr da bin. Der Onkel wird nicht fragen, den kümmert auf der Welt nur, dass er seine Pfeife rauchen kann. Und für Veronika gebe ich dir einen Brief.«

»Ja, aber – wo willst du heute Abend denn sein?«, platzte Toni dümmlich heraus. »Vor nächstem Freitag brauchen wir uns doch nicht zurückzumelden.«

»Ich gehe nicht nach Wien zurück«, erwiderte Valentin und war froh, die Worte auszusprechen und sie damit zu besiegeln. Er hatte den Entschluss gefasst, nachdem er schriftlich um Veronikas Hand angehalten und die Zustimmung ihres Vaters erlangt hatte. Statt als glücklichster Mann des Reiches hatte er sich jäh wie lebendig begraben gefühlt. Und statt von der reizenden Braut, die ihn vergötterte, träumte er in jener Nacht von Erzherzog Max.

In der Schlacht von Solferino war die Lombardei, deren Gouverneur Max gewesen war, dem Reich verlorengegangen, und seither lebte der kostbarste Spross des Hauses Habsburg enttäuscht und tatenlos auf seinem Schloss in Triest. War es nicht, als wäre in ihrer beider Leben eine Flaute eingetreten, als wäre es an der Zeit, ihre Kräfte zu vereinen, um neuen Zielen entgegenzusegeln? Wenn diese Erwägung von einer Spur Größenwahn zeugte, so machte es Valentin nichts aus. Wer der Banalität entkommen wollte, musste große Gedanken hegen. Im Staub pickten Hühner, keine Kerle.

»Hast du mich nicht gehört, Vally? Ich habe dich gefragt, ob du den Verstand verloren hast?«

»Ich fand nicht, dass die Frage eine Antwort verdiente«, erwiderte Valentin. »Ich habe mich zur Kriegsmarine nach Triest gemeldet. Mein Wagen ist bestellt, ich reise heute noch ab.«

»Aber du bist ein Kaiserjäger! Ein Tiroler!« Dem braven Toni blieb der Mund offen stehen und das letzte Wort im Halse stecken.

»Nicht länger«, widersprach Valentin gleichmütig. »Von heute an bin ich Vizeleutnant der österreichischen Kriegsmarine unter Seiner Hoheit, Erzherzog Maximilian. Morgen früh trete ich meinen Dienst auf der Salamander an.«

»Auf der Panzerfregatte?« In Ehrfurcht senkte sich Tonis Stimme. Die beiden Panzerfregatten Salamander und Drache, die vor Triest lagen, waren die modernsten Kriegsschiffe der Flotte, und es mochte im gesamten Heer keinen Mann geben, dem das Herz bei ihrer Erwähnung nicht höherschlug.

Valentin nickte. »Sofern du mir den kleinen Dienst erweist und meine Damen in Kenntnis setzt.«

Noch immer um Fassung ringend, sandte ihm Toni einen Blick. »Ist das nicht reichlich feige für einen Offizier, der die silberne Tapferkeitsmedaille zweiter Klasse auf der Brust trägt?«, fragte er. »Vor einer Horde Damen den Schwanz einzukneifen?«

»Das Wort feige habe ich überhört«, verwies Valentin ihn scharf. »Ansonsten müsste ich Konsequenzen ziehen.«

»Es war ein Scherz, Vally.«

Daran zweifelte Valentin nicht, aber Scherze, die an seiner Ehre kratzten, würde er nicht einmal von Toni dulden. Zudem hatte der Kerl mit seinen drei Brüdern keine Ahnung, wie es war, als einziges männliches Geschöpf in einem Haufen von Frauen aufzuwachsen. »Der Wunsch nach einem Sohn ist vieler Töchter Vater«, hatte sein Vater zu sagen gepflegt, und Valentins Schwestern, seine Mutter und Großmutter hatten kein Hehl daraus gemacht, dass er für sie die vollkommene Erfüllung dieses Wunsches darstellte.

Von keiner Strafmaßnahme hätte Valentin sich schrecken lassen, doch vor den Tränen der sieben Frauen kapitulierte er. Sie hatten gehofft, er würde jetzt, da er verlobt und immerhin fünfundzwanzig war, daran denken, den Dienst zu quittieren oder zumindest um seine Versetzung in die Heimat zu bitten. Stattdessen hatte er sich auf ein Kriegsschiff verpflichtet, das bei der brenzligen internationalen Lage jederzeit zum Einsatz kommen konnte.

»Nun schön, ich entschuldige mich.« Toni langte hinüber und zupfte ihn am Ärmel. »Ich dachte, du wüsstest, dass du auf der Welt der letzte Mann bist, dem ich einen Funken Feigheit unterstellen würde. Du wirst mir fehlen, weißt du das?«

»Fang nicht an wie Veronika oder meine Schwestern. Niemand hindert dich daran, dich ebenfalls zu melden.«

»Mir fehlt dein Abenteurergeist«, entgegnete Toni kleinmütig. »Auch wenn ich viel darum gäbe, dabei zu sein, wenn Erzherzog Max sich von der Schlappe erholt hat und aufsteht, um sich seinen Platz zu erstreiten. Sein Bruder wird ihm freiwillig ja keinen Fuß Boden zugestehen, aber unser Max, der wird sich schon noch als der leuchtende Stern erweisen, als der er geboren ist.«

Valentin straffte die Schultern und schloss die Schenkel um den Leib des Pferdes. Das edle Tier hatte sich ausgeruht und schien vor Energie zu bersten. Seinem Reiter erging es nicht anders. Er hatte genug vom Gerede, es verlangte ihn nach Taten. »Du hast mir noch nicht gesagt, ob du mir gefällig sein willst oder nicht«, rief er im Antraben über die Schulter zurück.

»Das weißt du doch.« Toni trieb seinen Gaul ebenfalls in Trab. »Es gibt nicht viele Leute, die dir etwas abschlagen können, und ich gehöre nicht dazu.«

»Werde mich bei Gelegenheit revanchieren«, murmelte Valentin hastig, dann gab er dem Pferd die Sporen und galoppierte durch die letzten sich lichtenden Morgennebel zum Torhaus.