9
Im brandroten Licht der Abendsonne leuchtete das Marmorpflaster des Zócalo noch einmal auf, ehe die Nacht ihren Schleier darübersenkte. Zugleich war es, als würde der schimmernde Boden dampfen, als würde Feuchtigkeit in Schwaden verglühen, die den Platz in Schleier hüllten und sein Geheimnis bewahrten.
Der Anblick war eine Augenweide. Palmen überragten die Türme des Palacio Municipal und der Kathedrale, um sich in den flammenden Himmel zu recken. Weiß, blassgelb und rosa verputzte Mauern schimmerten mit den vergoldeten Säulen der Arkaden um die Wette, in der Luft flimmerte Staub, und dazwischen tummelte sich das Leben in seiner quecksilbrigen Tausendfaltigkeit. Auf dem Pflaster vor den Cafés und Geschäften legten Frauen ihre Decken aus, um gewebte und getöpferte Waren feilzubieten, alte Männer richteten auf Handkarren Zigarren und in Maispapier gerollte Zigaretten aus, kleine Jungen dienten sich als Schuhputzer an, und kleine Mädchen verkauften Früchte und Blumensträuße. Maultiere schleppten geduldig ihre Lasten, Straßenköter erbettelten mit Kunststücken Bissen, und vor den Kutschen der Reichen fesselte die Schönheit edler Pferde den Blick.
Dieser Platz, das Herz der Hafenstadt, besaß einen ungewöhnlichen Zauber. Er hatte die Gabe, vor dem Auge des Betrachters Not und Sorge aufzuschlucken und ein paar Stunden lang unsichtbar zu machen, so dass das Leben erschien wie in ein Festkleid gehüllt. Plaza de las armas hieß er, aber er war kein Platz der Waffen, sondern einer der Menschen. Dem quirligen Treiben hätte niemand angemerkt, dass an der Nordgrenze des endlosen Landes ein Krieg entfacht war, der jederzeit wie ein Lauffeuer bis in die Tiefe vordringen konnte. Der Zócalo von Veracruz wusste nichts von Kriegen, nichts von leeren Staatskassen und nichts von Soldaten, die ohne Sold desertieren würden. Der Zócalo von Veracruz wusste einzig, dass das Leben kurz und teuer war und dass man es in vollen Zügen trinken musste, weil der Krug, aus dem es strömte, sich nur einmal ergoss, um dann für immer leer zu bleiben.
Benito trank seinen Kaffee seit langem bitter und schwarz. Carmen hingegen ließ sich schaumige Milch, braunen Zucker und Zimt hineinrühren, um dann mit spitzen Lippen zu probieren. Anschließend blickte sie von der Tasse auf und lächelte ihm mit so viel Seligkeit zu, dass er sich schämte. Nicht zum ersten Mal wünschte er, sie würde sich nicht so unbändig über die kleinste liebevolle Geste von ihm freuen.
Sie konnten sich derlei Extravaganzen – Besuche im Café, von Kellnern servierte Getränke – nicht leisten. Benito arbeitete die Tage über in der Tuchfabrik, was ihm kaum das Nötigste eintrug. Zudem versorgte er die Pferde eines englischen Kaufmanns und hockte des Nachts über Büchern, weil er entschlossen war, in der Tuchhalle nicht sein Leben zu verschleudern. Wenn er einen Centavo übrig hatte, legte er ihn für die Zukunft beiseite, aber Carmen hatte ein bisschen Abwechslung verdient. Sie war ein tapferes Mädchen. Weil ihr Bruder Juan nicht in der Lage war, für ihren Unterhalt zu sorgen, zerschnitt sie sich die Finger beim Zigarettendrehen, war sich für keine Arbeit zu fein und hielt zudem die Hütte der Geschwister so blitzsauber, dass man vom Boden hätte essen können.
Zu alldem ertrug sie einen Lumpen wie ihn, der nicht begriff, was für ein verdammtes Glück er mit ihr hatte. »Wie lange soll denn Carmen noch bei diesem Nichtsnutz von Juan bleiben?«, hatte Miguel ihn erst kürzlich gescholten. »Ich weiß, du bist jung, aber Carmen ist zwei Jahre älter, und sie braucht jemanden, der für sie sorgt. Du kannst doch das arme Ding nicht auf ewig mit Versprechungen abspeisen.« Dabei hätte Carmen sich mit Versprechungen gewiss zufriedengegeben, aber von Benito bekam sie nicht einmal die.
Er wusste, er hatte Carmen nicht verdient. Er sagte es ihr oft genug, doch zur Antwort erhielt er nie etwas anderes als ihren liebevollen Blick, ein Streicheln über die Wange und ein paar zärtliche Worte. »Ich finde, du hast mich hundertmal verdient«, sagte sie und beschämte ihn damit noch mehr.
Eine Frau, eine Ausländerin, die gewiss an die dreißig Jahre alt, aber schön und exquisit gekleidet war, trat am Arm eines enorm beleibten Mannes an einen Tisch. Während sie ihren Rock ausbreitete und sich auf dem Stuhl, den der Ballonbauch für sie abrückte, niederließ, warf sie Benito einen Blick zu, grünäugig wie eine Katze, die eine Schüssel mit Rahm entdeckt. Dass Frauen ihn mit solchen Blicken bedachten, war Benito nicht neu. Helen sah ihn ebenso an, mit demselben unverhohlenen Verlangen. Sie beließ es nicht beim Ansehen. »Auf eure Weise seid ihr durchaus schöne Geschöpfe«, hatte sie heute Vormittag zu ihm gesagt und ihm über die Hüfte gestrichen wie über die Kruppe ihres Rappwallachs. »Hat euer Schlangengott euch nach seinem Bilde geschaffen, so geschmeidig und schlank?« Dazu ließ sie ihr helles Lachen erklingen, das Benito einst so anziehend gefunden hatte.
Er hätte ihr sagen können, dass er Katholik war und nicht an Heidengötter glaubte. Hätte er gewollt, hätte er ihr verbieten können, von seinem Volk zu sprechen wie von einer Pferderasse. Sie war zwar die Frau seines Dienstherrn, aber er hatte eine Hand für Pferde und würde etwas anderes finden. Er sagte nichts, sie war es ihm nicht wert. Mochte sie ihn sich halten wie einen hübschen Affen, sie waren quitt, denn er hielt sie sich nicht anders. Er empfand Verachtung für das, was sie taten, aber er ging dennoch immer wieder zu ihr. »Du bist ein Mann, dir schmeckt die Liebe«, hatte Miguel gesagt. »Und dagegen spricht ja auch nichts, aber deiner Carmen kannst du trotzdem ein Heim geben.«
Benito sah die kaffeetrinkende Carmen an. Sie war Gold wert und er ein Schuft, weil er sie betrog. Er wünschte, er hätte für Carmen empfinden können, was er für Helen empfand, für die rotgelockte Fremde, die vom Nebentisch zu ihm herüberblinzelte. Begierde. Lust. Ein Gefühl, das nicht ausschließlich rein und rechtschaffen war.
Einmal hatte er so für sie empfunden, an dem Tag, an dem er ihr zum ersten Mal begegnet war, aber damals war er noch ein Kind gewesen und hatte seinen Kaffee süß und mit Zimt getrunken.
»Woran denkst du, Schöner?« Sie lächelte noch immer.
»An den Krieg«, log Benito. »An General Paredes.«
Sie waren auf den Zócalo gekommen, um den neuen Präsidenten sprechen zu hören. Mariano Paredes, der nach allen Regeln der Kunst gegen Herreras Friedensbestrebungen gewettert hatte, war zum Jahreswechsel mit einem Heer von sechstausend Mann nach Mexiko-Stadt marschiert und hatte den besonnenen Herrera gezwungen, die Präsidentschaft niederzulegen. Seitdem hatte er selbst das höchste Amt im Staate inne. Es hieß, er wolle die Monarchie wieder einführen, weil nur ein König oder Kaiser darauf hoffen durfte, dass ihm die gekrönten Häupter Europas gegen den Nachbarn im Norden zu Hilfe eilten. In jedem Fall hatte er geschworen, Mexikos Nordgebiete mit Klauen und Zähnen zu verteidigen.
Überall wurden Männer für die Armee geworben. Auch unter Benitos Kameraden waren viele begeistert dem Ruf gefolgt, weil sie hofften, der Kriegsdienst werde sie aus dem Elend der Tuchfabrik erlösen. Benito konnte es ihnen nicht verdenken. Die Arbeiter wurden geschunden wie Sklaven, wer nicht schnell genug war, dem machte die Peitsche Beine, und nicht selten geschah es, dass einer in der Werkhalle zusammenbrach und starb.
In der Armee hingegen lockten Aufstiegsmöglichkeiten, denn wie keine andere Institution in Mexiko sah sie über Rassegrenzen hinweg. Wer hier Mut bewies, konnte erreichen, dass man die Farbe seiner Haut vergaß. General Paredes war das beste Beispiel. Er war Mestize, Sohn einer Nahua, und angeblich stand ihm sein Erbe ins Gesicht gebrannt. Miguel betete den Mann förmlich an, obgleich dieser dem konservativen Lager entstammte und sich bei der Oberschicht lieb Kind machte. Sobald Miguel Parolen vom einig kämpfenden Mexiko hörte, schien er jeden Sachverstand zu verlieren. Natürlich hatte er auch zu den Ersten gehört, die sich freiwillig in Paredes’ Armee gemeldet hatten.
»Mexikaner müssen wir doch erst werden«, hatte er zu Benito gesagt. »Nicht Criollos, Gachupines, Indios und Mestizen, sondern das eine Volk Mexikos, das sich sein Vaterland von keinem rauben lässt. Dieser Krieg wird uns zusammenschmieden.«
Carmen griff über den Tisch und nahm Benitos Hand. Er hatte ihr gesagt, er denke an Krieg und an Paredes, und es war eine Lüge gewesen, aber jetzt war es keine mehr. »Du hast Angst um Miguel, nicht wahr?«, fragte sie.
Benito nickte. So verschieden sie waren, Miguel war der Mensch, den er am meisten liebte. Wann immer der Ältere ihm auf die Nerven ging, wann immer er dessen ewige Propagandareden satthatte und zu einer patzigen Antwort ansetzte, trat ihm ein Bild aus ihrer Kindheit vor Augen. Miguel, wie er selbst von der Mutter fortgeschickt, mit einem Schild um den Hals auf dem Weg zu den Deutschen. Miguel, der ohne den heulenden kleinen Bruder gewiss bessere Arbeit gefunden hätte und dessen Hand der seinen immer wieder entglitt, weil er zu langsam war. Und dann Miguel, der stehen blieb und sich nach ihm umdrehte, der ihm über den Abstand hinweg die Hand entgegenstreckte und ihm zurief: »Hola, kleiner Bruder, nicht weinen. Schau her, ich warte doch auf dich.«
Er würde das nie vergessen. Es war ein Teil von ihm, mit seinem Herzen verwachsen, das Bild der großen Hand, die sich für die kleine öffnete. Zuweilen kam es ihm in diesen Tagen vor, als wären ihre Rollen vertauscht, als müsste er über den Abstand hinweg Miguel die Hand hinstrecken und ihm zurufen: »Hola, großer Bruder, nicht verrennen. Schau her, ich warte doch auf dich.« Stand er nicht dort in jenem Block von Soldaten, der – von einer Unzahl berittener Offiziere kommandiert – die Front der Tribüne bewachte? Das letzte Licht verglomm, und der Platz füllte sich mit Menschen. Im Gedränge war nur schwer ein Gesicht zu erkennen. Dennoch hätte Benito gern den Namen seines Bruders zu dem Mann in der blau-roten Uniform hinübergerufen und die Hand nach ihm ausgestreckt.
Es war Miguel gewesen, der ihn heute Abend herbestellt hatte und der, sobald sein Ausgang begann, zu ihnen stoßen wollte. »Nur diesen einen Abend spricht Paredes in Veracruz. Wir müssen ihn hören, kleiner Bruder, diesen Mann müssen wir von Angesicht zu Angesicht erleben!«
Benito machte sich nichts aus Volksaufläufen, aus dem Geschrei der Redner so wenig wie aus dem erhitzten Gejohle der Menge. Er war Miguels wegen hergekommen. Wer konnte wissen, wann sein angebeteter Paredes ihn von hier abberufen würde und ob sie vorher noch einmal Gelegenheit hätten, miteinander zu sprechen? Plötzlich wünschte er, er wäre ohne Carmen gekommen, aber das wäre grausam gewesen. Er hatte ohnehin nie Zeit für sie, und Carmen störte nicht mehr als ein Schatten. Sie schwieg, wenn er sie schweigend wollte, und beklagte sich nie.
Wie lange wartete sie jetzt schon geduldig, dass er ihr mehr als ein Nicken zur Antwort gab? »Ja«, rang er sich ab, »ich habe Angst um Miguel, aber darauf brauchst du nichts zu geben.«
»Weshalb sollte ich nichts darauf geben, dass du Angst hast?«
»Weil es ja sein kann, dass alles im Sande verläuft. Und weil es kein Thema ist, über das man mit seinem Mädchen spricht.«
Immer neue Einheiten von Soldaten schlugen im Marschschritt eine Schneise in die Menge und bildeten einen Ring um die Tribüne. Wie zuvor kam es Benito vor, als würden sie von viel zu vielen Offizieren zu Pferd kommandiert. Jene trugen Uniformen von geradezu lächerlicher Pracht, während die einfachen Männer in verschlissenes Tuch gekleidet waren, das in Veracruz genügen mochte, jedoch für die Kälte des Nordens untauglich war. In den dreißiger Jahren, während der Kämpfe um Texas, waren Soldaten in Scharen gestorben, weil es niemanden gekümmert hatte, dass sie warme Kleidung und ausreichend zu essen bekamen. Die meisten von ihnen waren Mayas aus den hitzeflimmernden Ebenen von Yucatán gewesen. Indios. Kanonenfutter in den Augen des damaligen Präsidenten Santa Anna, dem an nichts gelegen war als an seiner eigenen Heldenlegende. Der Kerl hatte im Kuchenkrieg einen Unterschenkel verloren und die Stirn besessen, seinem Glied auf Staatskosten ein Grabmal zu errichten.
Wenigstens dieser Glücksritter befand sich inzwischen in Havanna im Exil – aber war Paredes besser, würde er für seine Männer sorgen? Benito hatte gelesen, er betrachte die Ärmsten des Landes mit Verachtung, und dass er Nahua-Blut in den Adern hatte, bedeutete nicht, dass er die eingeborenen Völker liebte. Die Soldaten trugen wie zu Santa Annas Zeiten Gewehre, die die britische Armee abgelegt und billig verkauft hatte; sie waren für Märsche im Bergland zu schwer und außerdem völlig veraltet. Als Benito Miguel einmal darauf angesprochen hatte, hatte der nur wegwerfend erwidert: »Was verstehst denn du von Gewehren?«
Carmen drückte seine Hand, um seinen Blick zu sich zurückzuzwingen. »Bin ich das noch?«, fragte sie.
»Bist du noch was?«
»Dein Mädchen.«
»Warum denn nicht?«, brachte er schnell heraus, wobei ihm nicht entging, dass das keine Antwort war. »Ich weiß, es ist unhöflich von mir, dich herzubringen und dann schweigend dazusitzen. Sei mir nicht böse, ja? Ich bin wohl einfach müde.«
Prüfend musterte sie sein Gesicht. »Ich wünschte, du würdest aufhören, bei diesem Leuteschinder zu arbeiten«, sagte sie nicht zum ersten Mal.
Einer der Kellner in schneeweißer Schürze kam, um sie nach ihren Wünschen zu fragen. Es bereitete ihm sichtlich Unbehagen, Indios zu bedienen, doch er bewahrte Haltung. Benito gab die Frage an Carmen weiter: »Möchtest du Kuchen? Oder Likör?«
Sie schüttelte den Kopf. »Schon dass du Geld für den Kaffee ausgegeben hast, tut mir weh, wenn ich daran denke, was du dafür aushalten musst.«
»Ich muss nichts Schlimmes aushalten.«
»Ich habe immer Angst …«, begann sie und brach ab.
»Das weiß ich. Aber es gibt keinen Grund.« Er tätschelte ihr die Hand. Sie hatte Angst, dass die Aufseher in der Fabrik ihn schlugen. Sie durften Peitschen benutzen, weil unter den Arbeitern entlassene Sträflinge waren, und sie machten nach Herzenslust von diesem Recht Gebrauch. Benito jedoch wurde nie geschlagen. Er blieb für sich, leistete tadellose Arbeit und ließ sich nicht provozieren. »Aber daran liegt es nicht«, hatte einer der Kameraden mit leiser Bewunderung zu ihm gesagt. »Du hast etwas im Blick, das ihnen Angst macht. An dich trauen sie sich nicht heran.«
Er hatte also etwas im Blick. Das war gut. Er hatte auch etwas im Herzen, und er wollte Miguel nicht erklären, was er von Gewehren verstand. Er zog Carmen seine Hand weg. Als Junge war er der Köchin davongelaufen, damit er kein Huhn töten musste, und in manchen Nächten lief er vor schwingenden Schlingen davon. Wie lange würde er dem Töten noch davonlaufen können, wie lange würde es dauern, bis das Töten ihn einholte?
»Pass auf dich auf«, sagte Carmen leise. Dann sprang sie wie die Menge um sie auf die Füße. Ohrenbetäubendes Johlen setzte ein, und ringsum wurden Lampen entzündet, die den Platz in goldenes Licht tauchten. Benito erhob sich ebenfalls. Er war größer als die meisten, so dass er die Kutsche des Präsidenten durch ein Spalier von Soldaten zur Tribüne fahren sah. Die arme Carmen hingegen würde so gut wie nichts sehen. Kurz erwog er, sie sich auf die Schultern zu setzen, wie er es bei seiner Schwester Xochitl getan hätte.
Männer warfen Hüte, und Frauen warfen Blumen, als Präsident Paredes, gesäumt von zwei Beratern, die Stufen hinauf auf das Podium trat. Weshalb ist er überhaupt hier?, fragte sich Benito. Ist er diesen elendig weiten Weg gekommen, nur um auf einer Holztribüne eine Rede zu halten? Kaum hob er zu sprechen an, wurde deutlich, dass seine Stimme nicht trug, obgleich sein Gesicht sich vor Anstrengung rötete. Er reckte sich auf die Zehenspitzen, und das Gejohle der Massen übertönte ihn. Benito hörte »Mexiko« und »Krieg« und »tapferes Veracruz«, alles andere wurde vom Lärm verschluckt. Der kleine Präsident schwankte, als er seine Faust in die Luft schlug. Entweder war er schwach auf den Beinen, oder er hatte sich für diese Rede Mut angetrunken.
Der bleibt nicht lange, dachte Benito. Dem haben sie die Schärpe des Präsidenten umgehängt, bis sie einen besseren finden und ihn in die Wüste schicken. Wer aber würde der Bessere sein? Benito glaubte es zu wissen, und das Wissen bereitete ihm Übelkeit.
Flüchtig wünschte er, sich durch die grölenden Massen zu drängen, sich neben den kleinen Mann auf die Bühne zu stellen und den Leuten zuzuschreien: Seid ihr denn alle verrückt? Was glaubt ihr, was es euch nützt, wenn ihr um Texas oder Kalifornien kämpft? Weiß einer von euch überhaupt, wo diese Länder liegen, wo dieses Riesenreich seine Grenze hat?
Er wollte keinen Krieg. Er wollte nicht für Mexiko sterben, töten oder auch nur leiden müssen, er wollte Geld verdienen und lernen, um eines Tages auf die Universität zu gehen und von niemandem mehr abhängig zu sein. Alles, was ihn dabei störte, wünschte er sich weg. Selbst Carmen manchmal. Selbst Miguel.
Rings um die Tribüne begannen die Menschen zu klatschen, und der Applaus breitete sich in Wellen bis zu ihnen aus. »Haben Sie gehört, was er gesagt hat?«, fragte ihn jemand auf Englisch. Die rothaarige Frau vom Nebentisch war herangekommen. Sie ließ ihren Blick der Länge nach über Benitos Körper gleiten, und der Blick hatte keine Eile, sondern nahm sich Zeit.
»Ich habe einen Hörfehler«, erwiderte Benito und hob einen Mundwinkel. »Wenn jemand leer vor sich hin schwatzt, höre ich nur hohles Geklapper.« Die Frau brach in schrilles, völlig unangemessenes Gelächter aus.
Ihr Begleiter, der Herr mit dem Ballonbauch, war ihr nachgeeilt. »Er hat gesagt, er betrachte das Fort, das General Taylor am Rio Grande errichtet hat, als Kriegserklärung, my dear. Amerikanische Kriegsschiffe würden den Fluss blockieren und mexikanische Städte von der Versorgungsroute abschneiden. Kein Mexikaner dürfe das länger dulden.«
»Sie sprechen vorzüglich Englisch«, sagte die Frau zu Benito, als wäre der Ballonbauch nicht anwesend. »Was sind Sie? Einer dieser bemerkenswerten Mischlinge wie unser Redner?«
»Nein, ich bin ein reinblütiger Affe«, versetzte Benito und ließ seine Augen ihr noch eine andere Antwort verpassen. Die Frau wich zurück und prallte mit dem Rücken in den Ballonbauch. Benito wandte sich ab. Ein wenig erschrak er, als er entdeckte, dass Carmen nicht mehr dem Redner zusah, sondern ihn mit ernstem Blick musterte. »Gehen wir«, rief er ihr unwirsch zu, warf Münzen auf den Tisch, als hätte er derer zu viele, und nahm sie beim Arm.
»Und Miguel?«
»Den finden wir irgendwo dort drüben.« Dass er sich albern benahm, entging ihm nicht – wie wollte er in dem Gedränge um die Rednertribüne irgendwen finden? Das Glück aber kam ihm zu Hilfe, denn genau in diesem Moment beendete Paredes seine Ansprache und wurde von den Beratern die Stufen hinunter und zu seiner Kutsche geleitet. Beim Einsteigen schwankte er von neuem. Benito war nicht der Einzige, der es bemerkte. Hatte eben noch der Eindruck geherrscht, die Versammelten jubelten Paredes einmütig zu, so sah er jetzt Einzelne, die einander in die Seite stießen, auf den Rotgesichtigen zeigten und in Gelächter ausbrachen.
Die Menge löste sich auf. Das Johlen hatte ihnen die Kehlen ausgedörrt, sie brauchten Pulque in schaumigen Strömen, der ihnen die Köpfe noch wirrer und heißer und kriegslustiger machte. Benito schüttelte sich. Und dann sah er aus der sich teilenden Schar seinen Bruder Miguel auf sich zukommen. Er trug die blau-rote Uniform eines Infanteriegefreiten und hatte die Muskete geschultert, war aber offenbar außer Dienst. Sein Lachen hallte über den Platz, er winkte Carmen und Benito zu und hielt ein Mädchen im Arm.
»Ist das euer Ernst? Ihr trinkt euren Kaffee im Las Palomas bei den dickbäuchigen Hombres de bien?«
»Dein Paredes hofiert diese Dickbäuche«, versetzte Benito kalt. »Sie sorgen dafür, dass wir aus unserem Elend nicht herauskrauchen, sondern ihm als Kanonenfutter erhalten bleiben.«
Schon wieder lachend, wandte Miguel sich dem Mädchen zu, das zierlich und auf den ersten Blick nichts Besonderes war, aber etwas im Ausdruck und in den Bewegungen hatte, das Blicke auf sich zog. »Habe ich’s dir nicht gesagt, Corazon? Mein kleiner Bruder ist die Sonnenseite des Lebens in Person.«
Das Mädchen lachte mit, wobei es Benito ungeniert in die Augen sah. »Aber dass er so hübsch ist, hast du mir nicht gesagt.«
»Du schlimmes Tierchen. Jetzt hast du ihn in Verlegenheit gebracht.«
Wütend spürte Benito, wie ihm die Hitze in die Wangen stieg. Carmen schob ihre Hand in seine und streichelte seinen Handrücken, was ihn seltsamerweise noch wütender machte. »Hast du Ausgang?«, fragte er Miguel.
Der Bruder nickte, gab das Mädchen frei und knöpfte die Jacke seiner Uniform auf. »Bis um zehn. Und ich habe uns etwas Feines mitgebracht, um den Abend zu genießen.« Der zurückgeschobene Jackenaufschlag enthüllte eine dunkle Flasche. »Meinst du, wir finden ein Plätzchen, wo uns nicht die halbe Stadt zusieht?«
Ein Plätzchen finden, das bedeutete, dass sie in die Calle de Hidalgo im Hafenviertel gehen würden, wo Benito ein Zimmer bewohnte. Das Haus war eines der wenigen, die nicht der Kirche gehörten, sondern einer Witwe, die den halben Tag lang für den Straßenverkauf kochte. Anders als die meisten Gebäude der Kolonialzeit war es nicht einstöckig um ein Patio gebaut, sondern duckte sich schlank und hoch wie ein deutsches Haus unter Dachgiebel, und unter diesen Giebeln hatte er sein Zimmer. Gerüche nach billigem Essen sammelten sich dort, und während der langen Sommermonate wurde es so heiß, dass er sich wie einer der Schnappbarsche fühlte, die à la Veracruziana gesotten wurden. Dennoch mochte er das Zimmer. Es hatte gelb gestrichene Wände und war seine Austernschale, in die er sich verkriechen konnte. Er nahm nicht gern Menschen dorthin mit, nicht einmal Carmen und Miguel, doch was blieb ihm übrig? Mit einem Schulterzucken wandte er sich zum Gehen.
»Hola«, rief Miguel ihn zurück, »ich habe euch ja noch nicht einmal vorgestellt. Inez, mi Corazon, das ist mein ungehobelter Bruder Benito, über den ich dir die Ohren vollgeklagt habe, und dies ist seine Verlobte Carmen, die langmütigste unter den Frauen.« Er ergriff Carmens Hand und küsste sie. »Benito und Carmen, diese süße Perle ist Inez, die Base eines Kameraden. Und mein herzallerliebstes Mädchen.«
Die letzten Worte unterstrich er mit einem derart seligen Strahlen, dass Benito ihm alles verzieh. Das dumme Gewäsch, die Verehrung für den Schwächling Paredes und die Dreistigkeit, Carmen seine Verlobte zu nennen. So gern er wie ein Weiberheld auftrat, hatte Miguel es mit den Frauen schwer. Er war sichtlich bis über beide Ohren verliebt, und Benito gönnte es ihm. Was immer er sonst sein mochte, Miguel war treu wie kein Zweiter, und er hätte für jeden, den er liebte, sein Leben geopfert. Er hatte es verdient, glücklich zu sein.
Benito streckte Inez die Hand hin. Statt einzuschlagen, klopfte sie ihm auf die Finger und kicherte. »Ihr Bruder sagt, Sie sind ein Stoffel, der nichts als den Staub von Büchern kennt. Aber ich glaube, das ist nicht die Wahrheit …«
»Doch, das ist es«, erwiderte Benito, zog seine Hand zurück und genoss, wie sie vor seinem eisigen Ton erschrak.
»Was ist jetzt mit dem Mezcal?«, warf Miguel ein und klatschte auf die Flasche. »Soll der vergären, oder gehen wir den trinken?«
Sie brachen auf, Benito und Carmen voran, Miguel und Inez hinterdrein. Der Platz hatte sich geleert. Nur die Reichen und Sorglosen, die in den Cafés die Süße der Märznacht genossen, blieben im Lampenschein zurück. Die Übrigen entschlüpften in die Dunkelheit der Gassen, fanden noch eine billige Pulqueria oder legten sich schlafen, weil lange vor Sonnenaufgang die Nacht für sie zu Ende war. Sie hatten eine Viertelstunde zu gehen, und kaum lagen die ersten Schritte hinter ihnen, fiel Benito auf, dass Miguel ihn nicht gefragt hatte, was er von seinem Liebling Paredes hielt. Er musste selbst gemerkt haben, dass dieser betrunkene Schreihals für Mexiko keine Hoffnung darstellte.
Wie selbstverständlich änderte sich irgendwann die Ordnung, Miguel kam zu Benito nach vorn, und hinter ihnen gingen Carmen und Inez. »Benito«, murmelte Miguel so leise, wie er konnte.
Benito merkte auf. Wenn der Bruder ihn bei seinem Taufnamen ansprach, wurde es ernst.
»Hast du dich inzwischen gemeldet?«, fragte Miguel.
Er fing also wieder damit an. Gleich würde er ihn einen Feigling schimpfen, einen Verräter am Vaterland, und zuletzt, wenn das alles nichts half, würde er ihm ins Gesicht schleudern, er sei eine Malinche in Mannsgestalt. Es verblüffte Benito, dass es noch immer weh tat. So wie ihm die linke Hüfte manchmal weh tat, wenn die Luft besonders feucht war und er über lange Strecken ging. Der Schmerz demütigte ihn, er schüttelte ihn ab.
»Benito?«
»Nein, ich habe mich noch nicht gemeldet, und ehe du weiterfragst, ich habe es auch nicht vor.«
Die erwartete Schimpfkanonade blieb aus. Miguels Stimme wurde noch leiser. »Was tust du, wenn sie dich einziehen?«
Benito blieb stehen. Natürlich hatte er davon reden hören, dass im Kriegsfall Männer zu den Waffen gezwungen würden, und natürlich würden als Erste die dran glauben müssen, die sich nicht loskaufen konnten und deren Leben ohnehin nichts wert war. Strafgefangene. Streuner. Und Indios.
War diese Regierung von Wirrköpfen wahrhaftig imstande, sich auf solchen Wahnwitz einzulassen? Die Vereinigten Staaten mochten in der Unterzahl sein, aber sie verfügten über eine Armee, die gut ausgebildet und mit modernsten Waffen ausgerüstet war. Seit Jahren wollten sie Mexiko die Nordgebiete abkaufen, und warum um alles in der Welt ließ man sich nicht darauf ein? Mexiko war bis zum Hals verschuldet, es brauchte Geld, nicht weit entlegenes Land. Geld für Schulen und Universitäten, für die Versorgung von Kranken, für Transportwege und Postverkehr. Gallig lachte Benito auf. »Wenn dieser Staat in den Selbstmord rennt, tut er das ohne mich«, sagte er zu Miguel. »Ihnen zu entwischen dürfte nicht schwerfallen. Mexiko mag einen Krieg führen wollen, aber wie ich es kenne, ist es bereits mit der Erfassung seiner kriegstauglichen Männer überfordert.«
Kein Fluch, nicht einmal eine Ohrfeige hätte Benito überrascht. Wohl aber das, was Miguel stattdessen tat. Er nickte. »Ich dachte mir, dass du so antworten würdest. Ich möchte dich um etwas bitten.«
»Bitten?«, fragte Benito ungläubig. War das Miguels neue Taktik, weil er mit Beleidigungen Benitos Sturschädel nicht bewegt bekam?
»Kümmere dich um Inez.« Miguel blickte auf. Als wüsste er nicht, wohin mit seinen Händen, begann er an seinem Schnurrbart zu rupfen. »Sie ist wie Carmen. Sie hat keine Eltern.«
»Sag nur noch, sie stammt ebenfalls aus Querétaro?«
Miguel nickte. »Ihr Vetter ist Carlos, der den Schuppen hinter dem von Juan hat. Er hat Inez nachgeholt, als ihre Mutter starb. Aber ohne ihn und mich ist sie ohne Versorgung, und er und ich sind ab morgen nicht mehr da.«
»Ihr seid ab morgen nicht mehr da? Willst du mir erzählen, dieser Verrückte Paredes schickt euch ab morgen in den Krieg?«
Der Bruder schüttelte den Kopf. »Sprich leiser. Paredes mag vielleicht nicht sein, was wir uns erhofft haben, aber er ist immerhin ein erfahrener Heerführer. Ihm ist klar, dass wir in einer offenen Schlacht unterlegen wären, schon weil es uns an Artillerie fehlt. Aber wir haben schließlich andere Vorzüge.« Etwas von der alten Begeisterung huschte über sein Gesicht. »Wir werden in kleinen Gruppen als Guerilleros ausgebildet. Und dann in den Bergen stationiert, an den Straßen. Wenn die Gringos es wagen, hier einzumarschieren, lehren wir sie das Fürchten, bis sie sich wünschen, sie hätten nie im Leben mexikanische Erde betreten.«
Vor Benitos Augen tanzten Bilder – die fadenscheinigen Uniformen, die viel zu schweren Musketen, die Versorgungswagen, die in das schroffe Bergland nicht hinaufgelangen würden, und dann Miguels Hand, die sich ihm entgegenstreckte. Hola, kleiner Bruder. Ich warte doch auf dich. Ehe er sich besann, packte er den Älteren am Arm. Zu sagen wusste er nichts. Er wollte ihn nur festhalten, seine Kraft ausspielen und ihn nicht gehen lassen.
Ihre Blicke trafen sich. »Nun, nun«, murmelte Miguel mit verwundertem Lächeln. »Dabei denke ich manchmal, ich bedeute dir gar nichts, so frostig, wie du dich benimmst.«
Benito sagte nichts.
»Wie alt bist du? Neunzehn? Das ist schwer zu glauben. Du solltest eigentlich noch ein Jungchen sein und braunen Zucker lutschen.«
»Mein Leben hat in neunzehn Jahren keinen Platz«, versetzte Benito schroff, damit ihm die Stimme nicht zitterte. »Was ist, gehen wir, dein Gesöff trinken? Ich muss morgen früh aufstehen.« Und für dich gilt vermutlich das Gleiche, fügte er im Stillen hinzu, denn du wirst dich nicht abhalten lassen. Wann werden wir uns wiedersehen? Wird es dir in diesem haltlosen Durcheinander überhaupt gelingen, mir Nachricht zu senden?
Sie gingen weiter. In drei Schritten Abstand folgten ihnen die Mädchen. »Kümmerst du dich um Inez?«, fragte Miguel.
»Ich bin ein armer Schlucker«, erwiderte Benito. »Von meinen paar Centavos müssen schon genug Leute satt werden.«
»Aber du tust es?«
»Bleibt mir denn anderes übrig?«
Entwaffnend strahlte Miguel. »Behandle sie mit Achtung«, sagte er. »Wenn ich zurückkomme, heirate ich sie. Ginge ich zur regulären Truppe, könnte ich sie im Tross mitnehmen, doch bei der Guerilla ist das nicht möglich. Ich werde euch aber meinen Sold schicken, und Carlos ebenfalls, sobald wir welchen erhalten. Nur, du weißt ja …«
»Ja, ich weiß«, erwiderte Benito. »Mit dem Sold kann es dauern, weil euer Paredes erst den Geldsäcken, die ihn an die Macht gebracht haben, die Hände salben muss.«
»So ist es doch nicht …«
»Es soll sein, wie es will, mich interessiert es nicht. Hast du der Mutter und Xochitl gesagt, dass du gehst?«
»Nein«, gestand Miguel kleinlaut. »Ich war gestern bei ihnen, und Mutter hat sich wieder so gebärdet, da habe ich es nicht übers Herz gebracht.«
Ja, Mutter hat sich wieder so gebärdet, dachte Benito. Sie hat dir wieder beteuert, dass du ihr Ein und Alles bist und dass sie ohne dich nicht leben will, und deshalb überlässt du es mir, ihr mitzuteilen, dass ihr Augapfel von neuem seinen Kopf in die Schlinge steckt. Vor Jahren wolltest du gegen die zentralistische Regierung kämpfen, und jetzt kämpfst du mit ihr gegen eine unbesiegbare Macht. Ist es das, was Mexiko krank macht, dass so viele für es sterben und töten wollen, aber keiner für es leben?
»Benito?«
»Ja, ja«, erwiderte er. Sie waren vor dem Haus, in dem er wohnte, angekommen. Ohne hinzusehen, fingerte er den Schlüssel aus dem Gürtel. »Ich gehe zur Mutter und lasse mir den Kopf abreißen, weil ich dich nicht aufgehalten habe. Nur wann ich Zeit dazu finde, weiß ich nicht.«
»Es ist ja nicht eilig.« Miguel strich ihm über die Schulter. »Und dass ich dich feige genannt habe, vergiss, in Ordnung?«
»Ich bin feige«, erwiderte Benito gleichmütig.
»Das ist doch nicht wahr. Du bist nur … nur ein bisschen verzagt, weil diese Schweine dir das angetan und dir den Mut gebrochen haben, aber wenn ich erst wiederkomme …«
»Wenn du wiederkommst, heiratest du deine Inez«, fiel ihm Benito ins Wort und schob die Haustür auf. »Und mich lässt du sein, wie ich bin, mir passt es so nämlich gut.«
Ehe er einen Schritt in den dunklen Hausflur setzen konnte, stürmte ihm seine Wirtin entgegen. Doña Esmeralda war eine Billardkugel von Frau, die auf winzigen Füßen trippelte und ihm nur knapp bis zur Brust ging. »Don Benito«, rief sie, und als sie hinter ihm Carmens Gesicht auftauchen sah, schlug sie die Hände über dem Kopf zusammen, »Doña Carmencita, ich fühle mich schuldig, aber ich habe alles versucht. Die junge Dame ließ sich nicht abwimmeln.«
Die junge Dame? Wer sollte das sein? Vermutlich würde kein Mensch Helen, die über dreißig war, so nennen, und außerdem käme Helen nicht hierher. Wer war es dann? Die Wirtstochter aus dem Perro Sucio? Naña, die Mulattin, die auf der Plaza Chilis verkaufte? Beide hätte Doña Esmeralda kaum als Damen bezeichnet, und zudem kannte sie ihre Namen. Sie waren im Barrio geradezu berühmt.
Benito drehte sich nach Carmen um. Die stand reglos im Türrahmen, nur in ihrem Gesicht stand zu lesen, wie verletzt sie war. Falls irgendwer hier eine Dame war, dann sie, und wenn sie hundertmal dunkle Augen und Haut wie feuchter Ackerboden hatte. »Sag nichts«, gebot sie ihm. »Rede dich nicht heraus. Ich könnte es nicht ertragen, wenn du das vor mir nötig hättest.«
»Carmen …« Er brach ab. Sie hatte einen Besseren verdient, keinen Neunzehnjährigen, der sich wie hundert fühlte, keinen Wüstling, der nicht lieben konnte.
»Wenn du willst, gehe ich.«
Er schüttelte stumm den Kopf. Inez kicherte. »Wo ist denn nun diese Dame?«, fragte Miguel in einem hilflosen Versuch, sich nützlich zu machen.
»Ich wollt sie doch wegschicken!«, jammerte Doña Esmeralda. »Aber sie bestand darauf, sie habe Don Benito etwas Wichtiges mitzuteilen, und sie gehe nicht eher, als bis sie’s ihm gesagt hat. Dort oben auf dem Absatz hockt sie.« Sie wies die gewundene Treppe hinauf.
An Miguel vorbei begann Benito die Stufen zu erklimmen. Das Haus besaß drei Stockwerke, und er musste fast bis nach oben steigen, ehe er die Füße der Besucherin zu sehen bekam. Sie steckten in ordentlich gewienerten Schnürschuhen. Von den Beinen in weißen Strümpfen ragte zu viel unter dem Saum hervor, wie es bei kleinen Mädchen vorkommt, die nicht darauf achten, beim Setzen ihre Röcke zu drapieren. Aber die Besucherin war kein kleines Mädchen. Sie war Zoll für Zoll eine Dame, auch wenn sie das Haar in geflochtenen Zöpfen trug und den Leib der erblühenden Frau in einem Kinderkleid versteckte. Der Strohhut mit dem Gazeschleier, den Mädchen wie sie zu tragen pflegten, lag achtlos hingeworfen neben ihr.
Benito nahm die letzten drei Stufen im Sprung und blieb vor der Besucherin, die auf der Schwelle saß, stehen. Wie ein Speer schoss ihm der Schmerz in die Hüfte. Das Wort war seinen Lippen entwichen, ehe er es aufhalten konnte: »Ichtaca.«