5

»Ich find’s nicht richtig«, hatte Katharina zu Josephine gesagt, »dass er mich so lange hinhält, obwohl wir Freunde sind, und dass er jetzt überhaupt nicht mehr mit mir spricht. Ich find’s einfach hässlich von ihm.«

Dass Josephine sie nicht begreifen konnte, war Katharina klar. Die arme Jo verstand ja nichts von Freundschaft. Ihre Zwillingsbrüder lebten in einer Welt für sich, und mit den Vettern und Basen wusste sie wenig anzufangen. Onkel Fietes Kinder mit ihrer lärmenden Ruppigkeit machten ihr Angst, Tante Traudes Stefan hatte nur seine Bücher im Kopf, und seine Schwester Helene war eine böse Zunge, die jeden verpetzte, um sich bei den Erwachsenen lieb Kind zu machen. »Eigentlich habe ich niemanden als dich«, hatte sie Katharina einmal gestanden.

Das war lieb gesagt, doch es machte Katharina Sorgen, weil Jo, so gern sie sie mochte, in ihrem Leben nie so wichtig werden konnte wie Ben. Es war nicht recht, ausgerechnet Jo ihr Leid über Ben zu klagen, aber irgendwem hatte Katharina es erzählen müssen. Es wühlte seit Wochen in ihr und wollte endlich hinaus. Jo, die gute Seele, die stumm zuhörte und ab und an nickte, war das beste Opfer dafür.

»Ich weiß jetzt, was ich tue«, hatte Katharina ausgerufen, denn tatsächlich war es ihr während des Redens eingefallen. »Ich gehe und suche selbst das Haus, wo seine Mutter wohnt. Und dann frage ich eben die Mutter, ob sie weiß, warum Ben auf einmal so hässlich zu mir ist und warum ich sie nie mit ihm besuchen durfte.«

»Das kannst du nicht tun«, murmelte Jo und wurde ausnahmsweise nicht rot, sondern noch bleicher, als sie von Natur aus war. Was hätte sie auch sonst sagen sollen? Die Arme war ja so besessen von dem Wunsch, es allen recht zu machen, dass sie vor Angst vor einem falschen Schritt lieber gar nichts tat. Vielleicht musste man so werden, wenn man die Tochter vom traurigen Onkel Christoph war und nur ja nicht schuld daran sein wollte, dass er noch trauriger wurde.

Katharina hingegen waren im Augenblick sowohl Onkel Christoph als auch die übrigen Erwachsenen egal. Mit ihrer Mutter war über Ben sowieso nicht zu reden, und ihr Vater, wenn sie ihn darauf ansprach, strich ihr wie einem Wickelkind über den Kopf und beteuerte, Ben sei eben ein Fremder, den könne sie nicht begreifen, und das Beste sei, ein jeder bleibe in seiner Welt.

Aber was ist denn meine Welt? Katharina hätte die Frage niemals laut gestellt, denn das wäre sinnlos gewesen. Die Eltern hätten ihr sofort versichert, dass ihre Welt natürlich die Heimat sei und dass sie eines Tages dorthin zurückkehren würden. Die Frage aber keimte immer wieder in ihr auf: Wie bitte kehrt man an einen Ort zurück, an dem man nie gewesen ist?

Sie warf den Kopf in den Nacken. Dicke Strähnen lösten sich aus ihren Zöpfen. Wütend packte sie sie und flocht sie sich so fest, dass es ziepte. Für gewöhnlich richtete die Lise ihr das Haar, weshalb sie sich nicht sonderlich geschickt anstellte, aber der Wunsch, für Bens Mutter hübsch auszusehen, ließ sie ihr Bestes versuchen. Als sie sich schließlich geschlagen geben musste, riss sie kurzerhand ihr schönstes Tuch vom Haken und deckte das grässliche Haar damit zu. Die Sanne hatte ihr frische Blumen ins Zimmer gestellt. Die nahm sie als Gastgeschenk aus der Vase. Derart ausgerüstet zog sie los, und Josephines Protest verhallte ungehört.

Sie hatte keine Ahnung, in welche Richtung sie gehen musste, aber sie wusste, wen sie fragen konnte. Die Leute, die mit Ben in des Vaters Lagern arbeiteten, würden ihr sagen, wo seine Familie lebte. Die Lagerhäuser befanden sich so gut wie alle im Hafen, doch ein einziges gab es, das nicht weit von den Wohnhäusern am oberen Rand der Siedlung stand. Es wurde nur im Notfall benutzt, wenn ein Überschuss an Waren anders nicht gelagert werden konnte, und dort herumzulaufen war den Kindern streng verboten. Der Reiz des Verbotenen hatte jedoch auf Katharina stets eine unwiderstehliche Wirkung ausgeübt.

Jetzt stand sie vor dem alten Kontor, das einem scheußlichen Gefängnis glich, und schaute der Handvoll Männer zu, die mit Karren oder Rückentragen hinaus- und hineingingen. Kein Einziger mit heller Haut war darunter, sie alle hatten die hohen Wangenknochen und dunklen Augen der Indios. Als Katharina einen von ihnen ansprach, senkte er rasch den Blick und ging weiter, als hätte er sie nicht bemerkt.

Sie versuchte es ein zweites Mal. Dasselbe geschah.

Ein dritter, älterer Mann, der sie offenbar beobachtet hatte, blieb mit einem Maultier am Zügel stehen. »Sie sollten das nicht tun, Señorita«, sagte er. Sein Spanisch klang schwer, wie ein langsam rollender Sturm. »Den Männern bringt es Ärger, wenn sie mit Ihnen sprechen. Und Ihnen bekommt es auch nicht gut.«

»Aber ich will doch nur etwas fragen!«, rief Katharina empört. »Mein Freund Ben und ich sind bei seiner Mutter eingeladen, aber ich habe ihn verpasst, und jetzt weiß ich nicht, wohin ich gehen soll.« Wie zum Beweis schüttelte sie die Blumen vor des Mannes Gesicht. Dass ein deutsches Mädchen nicht log, fiel ihr ein, doch allmählich fragte sie sich, ob ein deutsches Mädchen mit seiner Wahrheitsliebe überhaupt jemals erreichte, was es wollte.

Der Mann musste lachen. »Ich glaube Ihnen kein Wort«, bekundete er. »Und ich will nachher nicht der sein, der seine Arbeit verliert, weil er Ihnen etwas gesagt hat, von dem Sie besser nichts wissen sollten.« Er bückte sich ein wenig, um mit Katharina auf Augenhöhe zu gelangen, und hörte auf, sie wie eine Herrin anzusprechen. »Ich rate dir, dies hier bleibenzulassen, Niña. Willst du, dass sich der junge Benito, den du deinen Freund nennst, Schwierigkeiten einfängt? Nein? Na also. Dann hältst du dich besser von ihm fern.«

»Ja, ja, ein jeder bleibt in seiner eigenen Welt«, fauchte Katharina. »Du redest wie mein Vater, so wie sie alle reden, aber was wisst ihr denn von Ben und mir und unserer Welt? Wenn du mir nicht helfen willst, suche ich mir den Weg eben allein. Irgendwo am Malecon wird die Mutter wohl wohnen, denn von dort halten sie mich ja auch fern, als ob’s die Hölle wäre.«

Sie wirbelte herum und wollte losstapfen, doch der Mann packte sie am Arm und hielt sie zurück. »Warte, du verrückter Heuschreck. Du kannst nicht alleine auf den Malecon.«

»Ich kann dieses nicht, ich kann jenes nicht – ich habe eure ganzen Du-kannst-nicht satt. Was glaubt ihr denn von mir? Dass ich nichts kann, als vor dem blöden Cembalo zu sitzen und ›Jetzt fängt das schöne Frühjahr an‹ zu klimpern, obwohl längst August ist und die Mutter immer schimpft, im Frühjahr ist’s ihr zu schwül?«

Sie wollte sich losreißen, aber der Mann zog sie herum und wies die Gasse hinunter, fort vom Malecon. Aus seinem Gesicht war alle Heiterkeit gewichen. »Geh dort entlang. Nur geradeaus, immer weiter, auch wenn die Straße endet und du im Schlamm waten musst. Dort draußen vor der Stadt wohnen wir alle. Auch Anna Alvarez, Benitos Mutter. Wenn du dort nicht bekommst, was du willst, kannst du mich ans Messer liefern, aber sag nicht, ich hätte dich nicht gewarnt.«

Damit ließ er sie los, sprach ein paar Worte zu dem Maultier und trottete davon. Katharina blieb stehen und rieb sich den Arm. Dann schüttelte sie die Verwirrung ab und machte sich auf den Weg, an dem mannshohen Strauch vorbei und hinaus in die Welt.

Sie hatte so schnell wie möglich ihr Ziel erreichen wollen. Jetzt aber, da sie die verschlammte Lehmstraße erreichte, von der der Mann gesprochen hatte, geriet sie ins Trödeln, weil es so viel zu sehen gab. Sooft das Gedränge von Gebäuden aufriss und den Blick in die Weite freigab, blitzte silberblau eine Kette scharf gezackter Berge auf, wie um der Welt eine Grenze zu setzen. Lag etwas dahinter? Lebten dort Menschen, und sahen sie anders aus als hier? Eine Sehnsucht ergriff Katharina, die sich kaum bezähmen ließ. Wie weit dieses Land war, wie viele Geheimnisse es barg! All die Geschichten, die Ben ihr erzählt hatte, erwachten zum Leben – Geschichten von Bäumen, die alt wie die Welt waren, von Schlangen mit schillernden Schuppen, von stachligen Schweinen und Vögeln in regenbogenbuntem Gefieder. Ihr eigenes Zuhause, die Siedlung mit den Giebelhäusern, kam ihr jäh wie eine zu enge Schachtel vor.

Sie blieb stehen und erlaubte ihrem Blick zu wandern, entdeckte den Berg im Norden, der mit seiner schneeweißen Spitze das Glasdach des Himmels berührte. Konnte ein einzelner Berg wahrhaftig so hoch sein? Wohnten dort oben die Heidengötter, von denen Onkel Fiete erzählt hatte, schleuderten Blitze auf die Erde und verlangten von Menschen, dass sie ihnen ihre Kinder opferten? Onkel Fiete hatte versichert, dass es diese Götter gar nicht gab, doch wenn sie zu dem glänzenden, in Wolken getauchten Gipfel des Bergs aufsah, erschien es ihr vorstellbar, dass er sich irrte.

Sie zwang sich, weiterzugehen. Die Häuser wurden kleiner, standen eng beieinander und bildeten keine Ordnung mehr. Katharina fand sie hübsch, die winzigen zusammengewürfelten Hütten mit ihren mit Maisblättern gedeckten Dächern und den Fassaden in undefinierbarer Farbe. Wie Spielzeughäuschen, die man aufheben und versetzen konnte. An einer Häuserwand, auf einem letzten Sonnenflecken, saß ein grüngelb schimmernder Gecko. Katharina griff nach ihm, doch das Tier entglitt ihren Fingern und flitzte schneller, als sie ihm nachsehen konnte, davon.

Hier gab es keine Stadtmauern, keine Befestigungen, keinen Schutz. Die meisten Türen standen offen, und ständig quollen Menschen hinein und heraus – Frauen mit Töpfen, aus denen Dampf und Essensdüfte waberten, Männer, die Werkzeug schleppten, unzählige Kinder, dazwischen Ziegen, Hühner und ein Truthahn, der mit seinem knallroten Kropf gewichtig einherspazierte.

Am Wegrand hockte eine Frau vor einem Feuer mit Dreibein, schälte Fleisch aus Kokosschalen, raspelte es und schlug es mit Eigelb und Sirup auf. Von der schaumigen Masse formte sie mit zwei Löffeln ein Schiffchen, ließ es in die Pfanne auf dem Dreibein gleiten und briet es unter Gebrutzel aus. Eine Horde Kinder wartete geduldig, bis wieder ein Gebäckstück fertig war. Katharina lief das Wasser im Mund zusammen, und mit der Gier auf die Süßigkeit erwachten die Bilder – der Alte auf dem Malecon, das kandierte Fleisch der Tamarindenschoten, der umgestürzte Tisch. Unaufhaltsam stieg das Bild des Jungen vor ihr auf, das zerrissene Hemd und das Blut. Eine Taube schrie.

Hatte der Lagerarbeiter recht, war es falsch, was sie tat? Aber warum denn? Der Doktor Messerschmidt, der in der Siedlung lebte und sie alle unterrichtete, hatte ihnen eingetrichtert, dass nie etwas Falsches am Fragen war. »Wer keine Frage stellt, kann keine Antwort bekommen«, lautete sein Leitsatz, über den die Kinder sich lustig machten, weil es albern schien, solche Selbstverständlichkeit gebetsmühlenartig zu wiederholen.

Aber Katharina wollte Antworten. Sie war es leid, dass ihre Eltern ihr auswichen, sooft sie fragte, weshalb sie nicht aus der Siedlung durfte, weshalb sie mit Ben nicht sprechen sollte, weshalb die spanische Sprache aus dem Haus verbannt war – alles Verbote, die sie nicht einhielt, weil ihr niemand je erklärte, welchen Nutzen sie hatten. Seit auch noch Ben mit dem Ausweichen begonnen hatte, fühlte sie sich wie in einem Netz gefangen, und an welchem Knoten man auch zerrte, keiner löste sich auf und gab sie frei. Katharina warf den Kopf noch einmal in den Nacken, zog das Tuch fest und ging weiter. Wenn es dort, wo Bens Mutter wohnte, etwas Erschreckendes gab, dann würde sie dem entgegenblicken. Sie war keine, die sich vor Dingen, die sich sehen und anfassen ließen, fürchtete. Katharina fürchtete die Ungewissheit.

Wie immer während der Regenzeit ballten sich die Wolken in Windeseile. Wie unter einer lastenden grünlichen Glocke lag die Vorstadt, und es war verwunderlich, dass die Schleusen des Himmels sich noch nicht geöffnet hatten. Die Häuser hier draußen erschienen wie geflickte Kleider. Sie standen nun weiter auseinander, zwischen blühenden Sträuchern, Reihen mickriger Gemüsepflanzen, Kochstellen und Leinen mit Wäsche verstreut. Ben hatte ihr erzählt, dass bei ihm zu Hause die meisten Menschen vor den Häusern kochten und aßen, und Katharina hatte sich gewünscht, das mit ihrer Familie auch einmal zu tun.

Natürlich hatte die Mutter geschimpft, sie seien kein Vieh, das unter freiem Himmel aus Trögen fresse. Dann aber hatte sie in träumerischem Zufall hinzugefügt, dass sie tatsächlich in der Heimat an manchen Sonntagen im Freien gegessen hatten, aus Henkelkörben, in einer stillen Bucht, in der sie auf dem Strandspaziergang Rast machten. Der Sommerwind hatte ihnen an den weißen Kleidern und den Bändern der Hüte gerissen, und das Essen hatte köstlich geschmeckt, wie vom Meer gesalzen.

Die Frau, die aus einem Topf Bohnenmus in Maisfladen schöpfte und an drei wartende Kinder verteilte, trug kein weißes Kleid, sondern einen braunen Kittel, und statt des Sommerwinds herrschte die Stille vor dem Sturm, aber die vier sahen aus, als würde das Essen ihnen köstlich schmecken. Alle Kinder packten es mit den Händen, beschmierten sich die Münder und verlangten gierig nach mehr. Mit leisem Neid sah Katharina ihnen zu, bis die Frau aufblickte und sie entdeckte.

Die Sprache, in der sie zu ihr herüberrief, verstand sie nicht. »Benito«, erwiderte Katharina mit dem ersten Wort, das ihr einfiel, »Benito und Miguel – wo wohnen die?«

Hastig wechselte die Frau einen Wortschwall mit dem ältesten Mädchen. Das drehte sich nach Katharina um. »Die Familie von der Anna suchst du? Anna Alvarez? Aus Querétaro?« Ihr Spanisch klang noch immer nach der fremden Sprache, dunkel und geheimnisvoll.

Den Namen des Ortes hätte Katharina jedoch unter Hunderten wiedererkannt. Sie hatte ihn sich gemerkt, weil sie seinen Klang so schön fand. Auf ihr Drängen hatte Ben ihr erzählt, dass seine Familie aus einem Land namens Querétaro stammte. »Ja, aus Querétaro!«, bestätigte sie erfreut. »Wohnen sie hier?«

Wieder tauschten Mutter und Tochter fremde Worte, ehe die Tochter ihr auf Spanisch Antwort gab: »Die haben gerade erst Gäste bekommen, Leute aus ihrem Pueblo, für die sie sorgen müssen. Die können nicht noch eine durchfüttern.«

»Aber ich bin nur auf Besuch!«, rief Katharina und bemerkte erst, als die beiden sie verständnislos anstarrten, dass sie Deutsch gesprochen hatte. Hastig wechselte sie ins Spanische: »Ich bin Katharina Lutenburg, Bens Freundin aus der Stadt. Er arbeitet bei uns. Und Miguel hat auch bei uns gearbeitet, aber er ist schon lange nicht mehr da.«

Es schien, als hätte sich der Himmel binnen eines Herzschlags verdunkelt, und mit demselben Schlag verflog die Wärme. Katharina fröstelte. Die Frau stand auf, nahm den Kindern die leergegessenen Schüsseln ab und räumte sie zusammen. Dabei redete sie auf ihre Tochter ein, die noch einmal für Katharina übersetzte: »Wir verstehen nicht, was du willst, und wir können dir nicht helfen. Das Haus von der Anna steht dort drüben. Wir müssen jetzt gehen. Der Regen kommt.«

Das Mädchen drehte sich um, griff sich den Topf und floh hinter der Mutter und den Brüdern ins Haus. Es war wie vorhin bei den Lagerarbeitern. Alle betrugen sich, als hätten sie Angst vor Katharina und könnten ihr nicht schnell genug entkommen. In der angegebenen Richtung stand nur noch eine einzige Hütte, die aussah, als hätte man sie in der Mitte geknickt und wieder aufgefaltet. Entschlossen stapfte Katharina darauf zu. Sie hatte es jetzt eilig, Bens Familie zu finden. Es war kalt, es wurde dunkel, und ihr war unwohl zumute, sie brauchte Menschen, die mit ihr sprachen und lachten.

Vor dem Haus war eine Grube ausgehoben, daraus stieg verblassend eine Säule Rauch. Tür und Fensterladen waren geschlossen, doch von drinnen drangen Stimmen an ihr Ohr. Kurz lauschte sie. Gehörte eine davon Ben? In einer Hand hielt sie den inzwischen traurig zerrupften Blumenstrauß, ballte die andere zur Faust und hämmerte mit aller Kraft ans Holz.

Das Gespräch verstummte. Heiser schrie eine Frau, und gleich darauf huschten Schritte über den Boden, aber niemand machte ihr auf. Katharina wartete, derweil das Haus in Stille verfiel, dann ballte sie noch einmal die Faust und hämmerte, als wollte sie die Tür einschlagen.

Das Haus schien den Atem anzuhalten. Endlich regte sich etwas, eine Folge von Schritten und schließlich das Kreischen eines Riegels, der zurückgeschoben wurde. Die Tür wurde aufgezogen, und im Spalt erschien Bens Gesicht.

Katharina hatte genau das erhofft und dafür den langen Weg auf sich genommen. Jetzt aber wünschte sie sich auf einmal, sie säße in ihrem Zimmer unterm Dach, spielte ein ödes Arpeggio auf dem Cembalo und wartete, dass die Mutter sie zum Essen rief. Was hatte sie sich dabei gedacht, herzukommen, obwohl Ben ihr immer wieder gesagt hatte, dass er sie hier nicht wollte? Aus der Hütte drangen Schwaden von Düften, Katharina sah kaum Möbel, aber mehrere Menschen, und begriff nur eines: Sie war fremd und fehl am Platz. Sie war ohne Erlaubnis in Bens Leben eingedrungen, und jetzt starrte er sie an, als wäre er nie ihr Freund gewesen.

Dann aber sagte er etwas. Nur ein Wort, »Ichtaca«, und die Spannung fiel von ihr ab. So böse konnte er ihr nicht sein, wenn er sie noch bei dem Kosenamen nannte, den er für sie erfunden hatte. Katharina dachte nicht länger nach, sondern trat vor ihn und umarmte ihn.

»Ben, du darfst mir nicht böse sein. Ich habe so oft zu dir gesagt, lass mich deine Familie kennenlernen, und was hätt ich denn tun sollen, wo du ja nicht mehr mit mir sprichst?«

Sie sah zu ihm auf. Er trat zurück, zog sie in die Wärme und schob hinter ihr die Tür zu. Irgendwann hob er die Brauen, wie sie es so gut von ihm kannte, und fragte auf Deutsch: »Glaubst du, das war sehr klug, hierherzukommen? Glaubst du, das war auch nur ein bisschen klug?«

»Warum denn nicht?«, entgegnete sie trotzig. »Mein Onkel Fiete sagt immer: Kommt der Berg nicht zum Propheten, dann muss der Prophet zum Berg.«

»Du bist ein dummes Mädchen, kein Prophet. Beim Himmel, Ichtaca, was hast du deinen Eltern gesagt, wo du hingehst? Sie hätten dich doch niemals gehen lassen.«

Der tadelnde Ton, um den er sich bemühte, misslang. Katharina lachte und gab ihm einen Kuss. Aus dem Innern des Hauses kam jetzt jemand näher, die Gestalt eines Mannes löste sich aus dem Zwielicht, und sie erkannte Miguel. Hinter ihm näherten sich drei Frauen, eine kleine Alte mit zerschlissenem Rebozo und zwei junge mit dicken Zöpfen. »Ja, wen haben wir denn da?«, rief Miguel, der einen Schnurrbart trug und rauchte. »Sag, kleiner Bruder, ist das nicht das Balg von deinen Deutschen?«

Miguel war nie nett zu ihr gewesen, aber dass er sie ein Balg nannte, war entschieden zu viel. Katharina setzte eben zu einer Erwiderung an, da befreite Ben sich aus ihrem Griff und legte den Arm um sie. »Das ist Katharina Lutenburg«, sagte er, »die Tochter meines Dienstherrn. Sie wollte dich besuchen, Mutter, sie hat dir Blumen mitgebracht.«

Die Alte kam zögerlich einen Schritt näher. Sie sah jetzt nicht mehr ganz so alt aus, wenn auch ihre Haut wie brüchiges Leder war. »Guten Abend«, grüßte Katharina und hielt ihr die Blumen hin. Bens Mutter, die dieselben tintenschwarzen Augen hatte wie ihre Söhne und alle Indios, schaute mit fliegenden Blicken an ihr hinauf und hinunter, als sähe sie zum ersten Mal ein weißes Mädchen. Die Blumen nahm sie nicht. Auf einmal packte sie ihren Sohn Miguel und eine der jungen Frauen bei den Armen und zerrte sie zurück. Dann riss sie die Augen weit auf und schleuderte Ben eine Schimpfkanonade entgegen. Was sie sagte, verstand Katharina nicht, doch es fiel ihr nicht schwer, es zu erraten. Ben sollte sie fortschicken. Sie war in diesem Haus nicht willkommen. Als wäre noch eine Zutat nötig, um es schlimmer zu machen, begann in diesem Augenblick der Regen wie Steinschlag auf dem Dach.

Was würde Ben sagen, zu wem würde er halten? Katharina spürte das Zittern, das über seinen Rücken lief. »Sie ist ein Kind, Mutter«, sagte er. »Sie hat nichts getan.«

Wieder ging ein Wortschwall der Mutter auf ihn nieder, und noch einmal spürte Katharina das Zittern. Sie fühlte sich scheußlich. Dass Ben ausgeschimpft wurde, weil sie eine Dummheit gemacht hatte, durfte sie nicht erlauben, auch wenn sie noch immer nicht begriff, worin diese Dummheit eigentlich bestand. »Es ist doch nicht Bens Schuld!«, rief sie. »Wenn jemand einen Tadel bekommen muss, dann ich.«

Nur einen Herzschlag lang blitzten die Augen der Mutter sie an, dann wandte sie sich wieder Ben zu, schimpfte noch heftiger auf ihn ein und wies zur Tür. Ben ließ sie ausreden, dann beugte er sich zu Katharina hinunter. »Misch dich nicht ein, Ichtaca. Das hier begreifst du nicht.« Zu seiner Mutter sagte er: »Das tust du nicht. Du schickst kein Kind in den Regen.«

»Ha!«, rief Miguel, ehe die Mutter in ihrem Kauderwelsch zu Wort kam, »und wohin schicken die Leute dieses Kindes unsereinen? Willst du mir das sagen, kleiner Bruder, willst du?«

Ben schüttelte den Kopf. Er sah so traurig aus, dass es Katharina weh tat.

Miguel legte den Arm um seine Mutter, wie Ben den seinen um Katharina gelegt hatte. »Du hast deine Mutter gehört«, sagte er. »Sie will keine Rache, was ich nie begreifen werde, aber sie wird keinen von denen in ihrem Haus dulden. Deine Deutsche muss gehen.«

Was Ben dann tat, war so wundervoll in all dem Schrecklichen, dass Katharina, noch während es geschah, wusste, sie würde es ihm im Leben nie vergessen. Er zog sie noch näher an sich und sagte: »Katharina ist meine Freundin. Wenn sie gehen soll, muss ich mit ihr gehen.« Dabei sah er seltsamerweise weder Miguel noch seine Mutter, sondern eine der jungen Frauen an.

Die Mutter sagte etwas, und Miguel meinte: »Ja, das musst du dann wohl, du hübscher Verräter, du Malinche in Mannsgestalt.« Katharina aber hörte das alles durch ein Rauschen des Glücks und begleitet vom Prasseln des Regens. Sie war noch Bens Freundin! Ben hatte sich überhaupt nicht von ihr abgewandt, im Gegenteil, er hatte sie so lieb, dass er gegen seine Mutter zu ihr hielt. Ich habe ihn auch lieb, dachte sie. Egal, was meine Mutter sagt, was Josephine und Hermann sagen, was die ganze Welt sagt. Ich werde ihn immer liebhaben, er ist mir wichtiger als sie alle.

Ben ließ sie los, nahm eine wollene Mantilla von der Wand und legte sie um ihre Schultern. »Zieh sie dir über den Kopf«, sagte er. »Der Regen ist kein Spaß. Ich bringe dich jetzt nach Hause.«

Katharina hatte keine Angst vor dem Regen. Sie hatte vor gar nichts Angst. Bens Mutter und Miguel waren schlecht zu ihr, und ihre Mutter und die anderen waren schlecht zu Ben, aber sie beide waren einander gut. Der Mantel war so lang, dass er um ihre Füße schleifte. Sie hob ihn an der Seite hoch, damit Ben mit hinunterkriechen konnte, und zog ihn über ihre Köpfe. Die Blumen ließ sie fallen und gab Ben ihre Hand. Dann öffnete Ben die Tür.

 

Den Regen hatte Katharina oft an ihr Fenster trommeln und die Scheibe in eine undurchsichtige Flut verwandeln sehen, aber welche Kraft er hatte und wie hart es war, gegen ihn anzulaufen, hätte sie sich nicht vorstellen können. Sie vermochten kein Wort miteinander zu sprechen, der Regen verschluckte alles, und außerdem hatten sie genug damit zu tun, sich voranzukämpfen, die Füße aus dem saugenden Schlamm zu ziehen und gegen die Wasserfluten den nächsten Schritt zu setzen. Katharina hielt Bens Hand so fest, wie sie konnte. Es kam ihr vor, als wären sie schon Stunden unterwegs. Die Tropfen peitschten auf ihr Gesicht ein, und dennoch hätte sie ewig so weitergehen wollen.

Aber sie gingen nicht ewig so weiter. Gerade war Katharina zu dem Schluss gekommen, dass der Regen weicher wurde, dass er nicht mehr so dicht war und man die Hand wieder vor Augen sehen konnte, da sah sie etwas anderes vor Augen – eine Gruppe Menschen, die ihnen entgegenkam. Sie waren in die weiten Mäntel gewickelt, deren Geruch nach Leinöl Katharina gern mochte, und trugen Schirme und Laternen, die der Regen bis auf eine ausgelöscht hatte. Die eine, die noch brannte, beleuchtete das Gesicht des lustigen Onkels Fiete. Ein schwacher Schein fiel auf ihre Mutter, die neben ihm ging, und gerade als Katharina sie entdeckte, entdeckte die Mutter auch sie. Mit einem Aufschrei stürzte sie auf sie zu, dass Regenwasser in Wogen aufspritzte, und riss die Tochter von Bens Hand weg zu sich. So sehr presste sie sie an sich, dass Katharina kaum Luft bekam.

»Meine kleine Taube. Bist du verletzt, hat er dir Böses getan?« Katharina erkämpfte zappelnd ein Stück Freiheit und blickte zu der Mutter auf. Über ihr Gesicht rann Wasser in Strömen. Ob es vom Regen kam oder vom Weinen, ließ sich nicht sagen. »Meine liebste kleine Taube. Sag mir, was hat er mit dir gemacht?«

Die Mutter nannte sie nie kleine Taube. Das tat nur der Vater, und der benutzte die spanische Form Palomita, sosehr die Mutter es auch hasste. Wer sollte ihr Böses getan, etwas mit ihr gemacht haben? Etwa Ben, ihr Beschützer, der mit ihr durch Stürme bis ans Ende der Welt gegangen wäre? Sie wollte gerade eine Antwort geben, als die Mutter sie aufschluchzend noch fester an sich drückte. Die Mutter war eine Frau voller Kraft, viel stärker als die Tanten, doch Katharina hatte diese Kraft von ihr geerbt. Mit einem Ruck befreite sie erneut den Kopf. Im selben Moment tauchte das Gesicht ihres Vaters neben dem der Mutter auf. »Palomita …«

Der Vater war auch stark. Er war der größte und stärkste Mann der Siedlung und dabei sanft und bedächtig. Bei ihm fühlte Katharina sich in Sicherheit. Sie hätte gern gehabt, dass die Mutter sie losließe und sie sich stattdessen in die Arme des Vaters werfen durfte, aber die Mutter tat nichts dergleichen, und etwas in der Miene des Vaters erschreckte sie.

»Ist ihr etwas geschehen?«, stammelte er mit fremder Stimme, »ist meiner Palomita etwas geschehen?«

Jetzt lockerte die Mutter tatsächlich ihren Griff und wandte den Kopf nach dem Vater. Ihr eben noch so bewegtes Gesicht war mit einem Mal starr. »Schlag diesen Teufel tot, Peter Lutenburg«, sagte sie. »Schlag ihn tot, wenn du nicht willst, dass ich es tue.«

Alles schien sich in der Spanne eines einzigen Atemzugs abzuspielen, hinter den Schleiern des langsamer fallenden Regens, im geisterhaften Licht der Laterne, die ihr Vetter Hermann auf dem Boden abgestellt hatte. Und dennoch, obwohl es so schnell ging, sah Katharina jede Einzelheit.

Das Gesicht ihres Vaters veränderte sich. Seine Lippen wurden schmal, und der erschreckende Zug trat hervor und machte ihn ihr fremd. Von Sanftheit war nichts mehr zu erkennen, aus verkniffenen Augen sprang Hass. Der Vater klappte den Regenschirm zu, hielt ihn mit dem schweren Messingknauf, der die Form eines Fisches hatte, nach oben, sprang vor Ben hin und stieß ihn zurück. Ben war größer als die meisten Indios, doch ihr Vater war größer und breiter dazu. Ben hätte ihm vielleicht ausweichen können. Aber Ben stand still. »Was hast du mit meiner Kleinen gemacht?«, schrie der Vater. »Warum habe ich nicht hingehört, als mich alle Welt vor dir gewarnt hat? Was hast du mit ihr gemacht?«

Ben hätte ihm sagen können, dass er mit Katharina gar nichts gemacht hatte und dass das Ganze in Wahrheit Katharinas Schuld war. Aber Ben sagte nichts. Der Schirmknauf aus Messing sauste auf seine Schulter nieder. Katharina schrie. »Ich war es doch«, brüllte sie, »ich bin einfach losgelaufen, ihr dürft Ben nichts tun!«

»Misch dich nicht ein.« Ihre Mutter schüttelte sie, dann hielt sie sie an den Armen fest und blickte starr hinüber zu Ben.

Der stand trotz des Schlags still. Noch einmal holte der Vater mit dem Schirm aus, und zugleich sprangen der lustige Onkel Fiete und der Vetter Hermann mit erhobenen Schirmen hinzu. An dem lustigen Onkel Fiete war nichts Lustiges mehr. Sein Gesicht war wie das des Vaters vom Hass verzerrt. »Mörderpack«, brüllte der Onkel und schlug zu. Der Hermann machte nur mit, wie er immer mitmachte, wenn er sich an irgendetwas auslassen konnte, aber der Onkel war wie von Sinnen. »Mörderpack! Frauenschänder!« Unter dem nächsten Hieb ging Ben in die Knie. Der Onkel trat nach, schlug mit dem Messingknauf zu, und Ben fiel hintenüber in den Schlamm. War das furchtbare Geräusch, das Katharina in die Ohren drang, das Splittern eines Knochens? Onkel Christoph und Stefan, die sie erst jetzt im Schatten entdeckte, standen tatenlos dabei, Stefan hatte den Mund offen, und Onkel Christoph zitterte wie ein nasser Hund.

Katharina, die wie am Spieß brüllte und verzweifelt versuchte sich loszureißen, war im eisernen Griff der Mutter gefangen. Sie würden ihn töten. Ihre eigenen Verwandten würden Ben zu Tode prügeln. Es war ihre Schuld, und sie konnte nichts für ihn tun.

Wenigstens zusehen wollte sie, so unerträglich es war. Wenigstens mit den Augen aushalten, was er mit jeder Faser seines Körpers aushalten musste, aber nicht einmal das schaffte sie. Willenlos erlebte sie, wie ihre Lider sich schlossen. Die ersehnte Schwärze blieb aus. Bilder von Ben im Schlamm vermischten sich in ihrem Kopf mit Bildern des Jungen auf dem Malecon. Sie hörte sich schreien, und dann war es nur noch eine Taube, die schrie.