8
Die Tür war nur angelehnt. Christoph hatte anklopfen wollen und fragen, ob Fiete für die Nacht etwas brauche, aber jetzt, da er aus dem dunklen Raum die Stimme seines Vetters vernahm, kam er sich wie ein Eindringling vor. Der unreife, immer etwas alberne Fiete tat etwas, das ihm kein Mensch zugetraut hätte. Er sah seinem Kind beim Sterben zu.
Vergessen war jede andere Sorge. Der amerikanische General Taylor, der noch immer mit seinen Truppen vor Mexikos Nordgrenze stand, und die Rufe nach dem Sturz des Präsidenten Herrera, der nach einer friedlichen Einigung mit den Vereinigten Staaten strebte, weil ihm für einen Krieg das Geld fehlte, die Angst vor neuem Aufruhr, das alles wurde stumm und blass vor dem Tod.
Jette hatte Gelbfieber, die tückische Krankheit, die in der Heimat auch Geißel Amerikas genannt wurde. Die spanischen Eroberer hatten sie Vomito negro getauft, nachdem Scharen von ihnen daran verreckt waren. Es gab kein Mittel dagegen. Wen die Natur nicht selbst heilte, der starb, und ausgerechnet im Fall der properen Jette versagte der Natur die Kraft. Ramon Ramirez, der Arzt, der aus der Oberstadt gekommen war, hatte nach dem ersten Blick den Kopf geschüttelt. Seine Schwester, die Indio-Baronin, übersetzte ihnen seine Worte, und all das geschah noch in Traudes Festsaal bei Klavier und Weihnachtsbaum. »Mein Bruder kann nichts mehr für das kleine Mädchen tun«, sagte sie. »Es ist in Gottes Hand.« Dass sie Jette ein kleines Mädchen nannte, berührte Christoph.
Das Fieber, das Jette vor Tagen befallen und von dem sie sich so schnell erholt hatte, war der erste Angriff der Krankheit gewesen. Kam das Übel zu einem zweiten Angriff zurück, war der Erkrankte so gut wie verloren. Jette lag stöhnend im Bett, konnte nicht einmal Wasser bei sich behalten und erkannte niemanden mehr. Ihr Gesicht war gegen das Weiß der Laken quittegelb.
Dörte und Fiete hielten abwechselnd Wache, aber kaum hatte Fiete seiner Frau den Platz überlassen, stand er schon wieder in der Tür, erklärte, er könne sowieso nicht schlafen, und bot sich an, sie abzulösen. Dörte verwehrte es ihm nicht. »Er kann nicht glauben, dass sie stirbt«, sagte sie zu Christoph, der sie über alle Maßen tapfer fand. »Er hat sich in den Kopf gesetzt, wenn er nur bei ihr ist, wird alles wieder gut. Wie kann ich ihm das rauben?«
Christoph hätte es auch nicht gekonnt. Fiete war ihm immer vorgekommen wie die Niobe der griechischen Sage, die ihren Stolz und ihre Lebenskraft aus der Vielzahl ihrer Kinder schöpfte. Als ihr die Götter ihre Kinder nahmen, erstarrte sie vor Schmerz zu Stein.
Wer behauptete, für einen Vater, der kein Kind in seinem Leib getragen hatte, könne es so schlimm nicht sein, der kannte Fiete nicht. »Mein kleines Jettchen«, hörte Christoph ihn säuseln, ganz als würde er mit ihr in jener Muschel stecken, die Mütter mit ihren Säuglingen teilten, bis die Kinder wuchsen und die Muschel zerbrach. »Mein Jettchen, wie lange hatten wir das nicht, dass wir beide allein waren? Dazu musstest du erst so krank werden, damit wir zwei, Vater und Tochter, es wieder einmal so richtig gemütlich haben.«
Christoph spähte durch den Spalt ins Zwielicht der Kammer. Fiete hielt Jettes Kopf in der Armbeuge und richtete ihr das Kissen, zupfte es mit einer Hand in Form, ehe er den Kopf seiner Tochter sachte wieder niedergleiten ließ. Auf dem Nachttisch stand eine Schale Wasser. Er tauchte ein Tuch hinein und betupfte ihr die Stirn. »Ich bin so stolz auf dich, Jettchen, ich bekomme so viele Komplimente für dich. Habe ich dir je erzählt, dass schon die Frau, die deiner Mutter half, dich auf die Welt zu bringen, von dir entzückt gewesen ist? Wenn wir in der Heimat wären, würde dein Vater dir jetzt einen Tanztee geben. Würde dir das nicht gefallen, ein Fest voller junger Burschen, die sich nach dir die Augen verdrehen?«
Die Kranke gab ein gurgelndes Geräusch von sich und spuckte etwas aufs Kissen. Fiete tauchte das Tuch ins Wasser und wischte es weg. »Willst du nichts trinken, Jettchen?« Die Karaffe auf dem Nachttisch war noch voll bis zum Rand. Fiete schenkte ein Glas ein und hielt es ihr an die Lippen, aber sie unternahm nicht einmal den Versuch zu schlucken. Selbst über Durst war sie schon hinaus.
»Wirklich kein Tröpfchen?« Fiete sah zu, wie das Wasser ins Kissen sickerte. »Und auch kein Häppchen essen? Nun, dann eben später. Weißt du, was ich so bei mir überlege? Weshalb sollen wir den Tanztee für dich denn nicht hier geben? Unser Leben hier wird doch besser, wir haben so viel erreicht. Unseren eigenen Konsul haben wir, der für die Verwandtschaft seiner Frau ja nichts kann, dann haben wir den Apotheker, der fast so gut wie ein Arzt ist, und du wirst sehen, über kurz oder lang bekommen wir auch einen Pfarrer. Eine richtige kleine Kolonie haben wir uns aufgebaut, sozusagen ein Hamburg unter Zypressen. Wie klingt das für dich?«
Jettes Atem rasselte. Christoph wollte gehen, es war nicht recht zu belauschen, was diesen beiden allein gehörte, aber es gelang ihm nicht, sich loszureißen. Fiete streichelte Jettes Haar, das allen Honigglanz verloren hatte. Sah er sie vor sich, wie sie ihm am Tag ihrer Geburt in die Arme gelegt worden war, hörte er noch einmal den Jubel, der sein Haus erfüllt hatte? »Ach, Jettchen«, murmelte er, und seine Stimme klang wie von weit her. »Du willst ein Stündchen schlafen, was? Gibt ja nichts Besseres, um solchem Übel den Garaus zu machen. Was meinst du, soll dein alter Vater dir eine Geschichte erzählen, damit die Träume schneller kommen?«
Obwohl es im Zimmer heiß war, breitete Fiete noch eine Decke über Jette, dann zog er die Schuhe aus und legte sich an ihre Seite. »Die Geschichte von den Tauben haben wir nie zu Ende erzählt, was? Immer war irgendwer dabei, der sie nicht hören wollte, deine Tante Marthe oder die ehrenwerte Traude. Dabei ist es eine schöne Geschichte. Auch traurige Geschichten können schön sein, in allem Schlimmen steckt ja auch ein Gutes. Erinnerst du dich an den Anfang? Der persische Großkönig Darius brachte sein mächtiges Heer auf Schiffen nach Europa, weil es ihn gelüstete, das Land der Griechen zu erobern. Es war ein gelobtes Land, dieses Griechenland, weißt du? Ich sage dir, eines Tages fahren wir beide dorthin, wir kaufen uns weiße Sonnenhüte und spazieren zwischen noch weißeren Tempeln umher.« Offenbar hatte Fiete Mühe, sich von den Traumbildern zu lösen und zum persischen Großkönig zurückzukehren, denn er schluckte, ehe er fortfuhr: »Darius ging an Land und überzog das blühende Griechenland mit blutigen Schlachten. Seine Männer waren stark und für den Krieg gemacht, und sie errangen glorreiche Siege. Einige von ihnen aber hatten mehr als nur den Tod im Sinn. In tiefer Nacht schlichen sie aus ihren Lagern in die Dörfer, aus Liebe zu den schönen Griechenmädchen.«
Ohne es zu wollen, setzte Christoph einen Schritt in den Raum, um Fiete, der jetzt dicht an Jettes Ohr sprach, zu verstehen.
»Glaubst du, die Götter haben sie dafür bestraft? So wie bei der Malinche, der Llorona, die den Fremden liebte und dafür ihre Kinder verlor? Wenn man jung ist, fällt es einem schwer, das zu glauben, weil man sicher ist, dass in der Liebe nichts Böses steckt. Ich mochte es auch nicht glauben, Jettchen, ich war einst ganz wie du. Aber das Leben macht uns irgendwann klug, und dann begreifen wir, welch teuflische Macht in der Liebe steckt.« Wieder schluckte er, ehe er mit der Geschichte fortfuhr: »Die armen persischen Teufel gingen also auf ihre Schiffe zurück, um zur See die entscheidende Schlacht zu schlagen. Noch ehe es aber dazu kam, gerieten sie in einen furchtbaren Sturm.«
Vor etlichen Jahren hatte Christoph sich schon einmal gewünscht, ein Toter möge die Sprache wiederfinden, und mit derselben Inbrunst wünschte er sich jetzt, dass Jette gelangweilt stöhnte: Herrjemine, Vater, das hast du mir schon hundertmal erzählt. Aber Jette blieb still, und Fiete erzählte noch einmal in aller Ausführlichkeit von dem Sturm, der die stolze Flotte erfasste, ihre Masten zerbrach und ihre Planken leckschlug, und von den rasenden Fluten, die Schiffe und Männer in die Tiefe des Vergessens rissen.
»Sie sind alle gestorben, Jettchen, kein Menschenauge hat sie je wiedergesehen. Und nun stell dir die griechischen Mädchen vor, die an den Fenstern standen und auf die Liebsten warteten, nicht ahnend, dass das Klopfen an der Scheibe nie mehr ertönen würde. Wärst du ein persischer Gott gewesen, hättest du nicht auch mit diesen armen Seelen Mitleid gehabt?«
Ja, ja, ja, dachte Christoph. Warum nur bin ich kein persischer oder sonst was für ein verdammter Gott?
»Es waren die Tränen der Mädchen, die die Herzen der Götter erweichten«, erzählte Fiete. »Somit wurde es den Verlorenen gestattet, ein letztes Mal auf die Erde zurückzukehren und ihren Liebsten Lebewohl zu sagen. Ihre Seelen schlüpften ins weiße Federkleid von Tauben und erhoben sich aus dem Meer, um in die Dörfer ihrer Mädchen zu fliegen. Wer seine Taube nicht verscheuchte, sondern ihr sein Fenster öffnete und sie zärtlich empfing, erhielt zum Lohn einen letzten Gruß aus dem Totenreich.«
Im Zimmer war es jetzt fast völlig dunkel. Christoph stand still da und lauschte, doch er hörte nichts mehr als Fietes Atem. Mit bleischweren Gliedern drehte er sich um, trat in den Flur und sprang vor Schreck zurück. Dicht hinter ihm stand Katharina. In den Händen hielt sie ein Tablett mit Brot und einer Suppentasse.
»Ich wollte dich nicht erschrecken, Onkel Christoph.«
Christoph hätte sie gern an sich gezogen und ihr gesagt: Gott sei Dank, dass du lebst. Hatte er nie zuvor begriffen, wie kostbar und gefährdet jedes dieser Kinder war?
»Ich bin mit der Mutter gekommen. Wir haben Suppe von der Sanne gebracht, damit die arme Tante Dörte nicht kochen muss. Die Mutter sagt, Onkel Fiete soll essen, er hilft ja Jette nicht, wenn er vom Fleisch fällt.«
»Das ist nett«, sagte Christoph. »Komm, wir stellen Onkel Fiete die Suppe vor die Tür, dann kann er sie essen, wann immer ihm danach ist.« Er nahm ihr das Tablett ab. Sie wandte den Blick nicht ab, als wäre sie entschlossen, ihn anzusehen, bis sie begriff.
»Onkel Christoph?«
»Ja?«
»Ich habe Onkel Fiete gehört.«
»Das hättest du besser nicht getan«, murmelte er und fügte stumm hinzu: Wir beide nicht.
»Muss Jette …«, begann sie, und dann brach sie ab, bewies den Mut, der Christoph stets aufs Neue erstaunte, und verbesserte sich: »Ist Jette tot?«
Christoph stellte das Tablett ab und legte den Arm um sie. »Komm, gehen wir nach unten. Lassen wir Onkel Fiete noch eine Weile mit ihr allein.«
»Hoffentlich kommt die Taube zu ihm«, sagte Katharina.
Christoph, dem keine Erwiderung einfiel, bemerkte, dass ihm Tränen über die Wangen liefen. Es war zu spät, um es vor Katharina zu verbergen, und dass ihr trauriger Onkel ein Schwächling war, wusste sie ohnehin. Sie legte den Arm um ihn. Wer von beiden wen stützte, war nicht auszumachen.
Sie waren alle in Dörtes Küche, drängten sich wie Tiere, die sich gegenseitig wärmten. Christoph konnte es ihnen nachfühlen. Es war nicht kalt, es wurde nie richtig kalt in Veracruz, nicht einmal am letzten Tag des Jahres, und dennoch glaubte er zu frösteln. Dörte stand vor dem Küchentisch und knetete auf der bemehlten Fläche einen Teig, bewegte die Hände in der Masse, die längst schlaff geworden war.
Auf dem hohen Stuhl ihr gegenüber saß ihre Schwiegermutter, die alte Hille, mit einer Schüssel im Schoß. Sie löste Chilischoten von Stengel und Gehäuse, warf aber alles zusammen wieder in die Schüssel. Soweit Christoph wusste, verwendete Dörte keine Chilis, so wenig wie Marthe und Traude. Vermutlich wollte sie die Alte lediglich beschäftigen. Hatte die damals wirklich den Verstand verloren – oder hatten sie sich das nur eingeredet, weil es für alle das Bequemste war? Verlor überhaupt je ein Mensch vor Schmerz den Verstand, gewährte das Leben jemals so viel Gnade?
Neben der Alten saß Felix, Fietes Letztgeborener, der mit Eifer einen Bleistift über ein Blatt Papier führte. Gewiss erledigte er Aufgaben, die August Messerschmidt ihm aufgetragen hatte. Seine Welt drehte sich ja weiter, nur für seine Schwester stand sie von jetzt an still.
Luise saß mit einer Handarbeit auf der Fensterbank, aber sie stickte oder strickte nicht, sondern zupfte Flusen aus der Wolle und ließ sie in Kreisen zu Boden segeln. Zwischendurch biss sie herzhaft von einem Heißwecken ab, den sonst Jette ihr wegnaschte, so dass ihr Mund mit geschmolzenem Zucker garniert war. Ein Gast, der von nichts etwas wusste, hätte annehmen können, er sei in eine friedliche, heimelige Szene geraten, und nur das Schweigen hätte ihn verstört. Vor dem Herd stand Marthe und rührte in der mitgebrachten Suppe. Sie drehte sich nach Christoph und Katharina um. »Und«, fragte sie, »hat er etwas gegessen?«
Christoph wusste, er hätte jetzt »Jette ist tot« sagen müssen, aber er war sicher, die Worte nicht über die Lippen zu bringen. Es war nicht die erste Todesnachricht, die er zu übermitteln hatte, und daran, wie die Worte sich im Mund anfühlten, erinnerte er sich genau. Vor allem erinnerte er sich an das, was sie ausgelöst hatten. Er konnte nicht noch einmal derjenige sein, der Menschen so etwas antat. Hilfesuchend sah er zu Katharina, obwohl er sich schämte, von einem Kind zu verlangen, was er selbst nicht fertigbrachte. War Katharina überhaupt noch ein Kind? Sie sah nicht mehr wie ein Kind aus, auch wenn er wusste, dass sie immer noch wie eines lachen konnte. Ihre Augen, weit und unglaublich blau, waren nie Kinderaugen gewesen. Bald wird ein Mann sich in diesen Augen verlieren, dachte er und erschrak.
»Wie kann er denn essen?«, fragte Katharina. »Die arme Jette ist doch tot.«
Marthe zuckte zusammen. Es ist das Wort, dachte Christoph. Die Endgültigkeit. Dem kleinen Felix glitt der Stift aus den Fingern. Luise sprang von der Fensterbank, den gezuckerten Mund weit aufgesperrt. »Doch nicht Jette, nicht meine Jette!« Statt einer Antwort lief Katharina zu ihr und fing sie in den Armen auf.
»Das ist eben so«, sagte die alte Hille, die aufgehört hatte Chilis zu zerpflücken. »Wenn eine denkt, sie hat ein Recht darauf, ihre Kinder zu behalten, dann ist sie eine törichte Gans. Der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genommen«, zitierte sie kalt. Aber »der Name des Herrn sei gelobt« fügte sie nicht hinzu.
Verstohlen sandte Christoph einen Blick in ihr zerfurchtes, keine Regung verratendes Gesicht. Wenn die den Verstand verloren hat, weiß ich keinen, der noch einen besitzt, dachte er.
Dörte knetete weiter ihren Teig, walkte und wuchtete, rollte und rupfte, während ihr Tränen über die geröteten Wangen strömten, als würden sie nie mehr versiegen.
Neben dem Herd mit Marthes Suppentopf lag eine flache Schachtel. Marthe ließ den Rührlöffel fahren, hob die Schachtel auf und trug sie hinüber zu Dörte. »Sieh her«, sagte sie. »Darin ist das Bild von deiner Jette. Ich habe das Traude bringen wollen, aber ich lasse es hier bei dir.« Vorsichtig öffnete sie den Deckel, und einen Augenblick lang war es, als wäre der Tod besiegt. Dörte hörte zu kneten auf, und wie Kinder scharten sie sich um das, was unter dem Deckel zum Vorschein kam. Es war mehr als ein Bild. Es war der letzte Herzschlag, der alle fünf Hartmann-Mädchen lebendig vereinte, ihr Lachen in Sepiabraun gefangen. Hier im Raum war Jette noch Wirklichkeit. Ihre Augen blitzten kokett, und der lächelnde Mund entblößte weiße Zähne.
»Du kannst das nicht hierlassen«, stammelte Dörte. »Schließlich hat Traude dafür bezahlt.«
»Hat sie nicht«, erwiderte Marthe brüsk. »Bezahlt habe ich, sonst hätte der Halsabschneider es nicht herausgerückt. Ich meine, das war ja unschwer zu erkennen, dass Traude sich mit diesem Fest übernommen hatte – der Champagner, das Eis, die Musik. Es geht uns gut, das ist richtig, aber wenn ein bisschen Wohlstand zur Verschwendung führt, hält er nicht lange vor.«
Bestimmt hatte Dörte keines von Marthes Worten erfasst. Sie hatte einen Finger unter Jettes Gesicht auf das Bild gelegt. »Aber Traude hat es doch bestellt«, krächzte sie. »Es gehört doch ihr.«
»Es gehört uns allen«, bestimmte Marthe. »Unsere Kinder sind darauf. Immer die soll es bekommen, die es am nötigsten braucht, also bleibt es bis auf weiteres bei dir.«
Resolut entzog sie Dörte das Bild und schob es wieder in die Schachtel. »Verdirb es nicht mit deinen teigigen Fingern. Es ist wie eine Zeichnung – es gibt nur eines davon.«
»Nein!«, begehrte eine kindliche Stimme auf. Marthe drehte sich um und sah in Felix’ Gesicht. »Nein«, wiederholte er, »auch wenn es nur eines gibt, wie eine Zeichnung ist es trotzdem nicht. Der Mann hat Jette ja gar nicht gekannt. Auf dem Bild ist ihr Kleid zu sehen, ihre Haare, ihr Schmuck – aber nichts, was er über sie gedacht hat.«
Der Junge nahm den Bogen Papier und hob ihn in die Höhe. Christoph entfuhr ein Laut. Von dem Blatt sah ihnen Jette entgegen, verschmiert und unfertig zwar, aber unverkennbar. War es möglich, dass ein Zwölfjähriger so zeichnen konnte, noch dazu eins von Fietes Kindern, die er nie für feingeistig gehalten hatte? Die Jette auf der Zeichnung lächelte nicht und wirkte auch nicht kokett. Das Haar fiel ihr lose auf die Schultern, wie sie es als Kind getragen hatte.
»Leg das weg«, befahl ihm Marthe. »Du tust deiner Mutter weh. Und wir sollten nicht hier rumstehen, irgendwer muss sich schließlich um Fiete kümmern.«
Felix gehorchte und legte das Bild zurück auf den Tisch. »Ich wollt’s ihr zeigen«, murmelte er, »damit sie weiß, was ich von ihr denke. Dass ich es nicht so meinte, als ich gesagt habe, sie passt zu dem Esel im Rüschenhemd. Sie war lustig, und ich hatte sie lieb, aber ich hab’s ihr nicht gesagt, und jetzt ist es zu spät.« Mit den letzten Worten wurde der Junge, der eben noch erwachsen erschienen war, zum Kind und brach in bitterliches Weinen aus.
Vielleicht war das Dörtes Rettung – dass eins der Kinder, die ihr geblieben waren, sie brauchte. Nach kurzem Zögern wischte sie sich die Hände an der Schürze ab, ging zu Felix und zog ihn an sich. Noch war er kleiner als sie, noch konnte er seinen Kopf an ihrer Brust bergen. Dort ließ sie ihn weinen und vergrub ihr Gesicht in seinem Haar.
Katharina löste sich von Luise. »Soll ich gehen und Onkel Fiete fragen, ob er etwas braucht?«
»Das erledige ich«, erwiderte Marthe. »Du lauf nach Hause und erzähl dem Vater, was hier los ist.«
Katharina nickte und schob sich an Marthe und Christoph vorbei. »Das ist schlimm, was Felix gesagt hat«, bemerkte sie in der Tür. »Jemanden liebhaben und es ihm nicht sagen. Jemandem unrecht tun und nicht um Verzeihung bitten.«
»Was verstehst du schon davon?«, fuhr ihre Mutter sie an. »Jetzt geh und sprich mit dem Vater.«
Wieder nickte Katharina, machte aber keinen Schritt. Christoph kannte das von klein auf von ihr, dieses scheinbare Gehorchen, während ein Teil verbissen an ihrer Absicht festhielt. »Mutter«, fragte sie, »wie fängt man es an, wenn man jemanden sucht?«
»Wen willst du denn suchen?«
»Jemanden, den ich verloren habe«, erwiderte Katharina. »Jemanden, dem ich etwas zu sagen habe und den ich um jeden Preis wiederfinden muss.«