1

Das, was ihr als Sechsjährige im Hafen von Veracruz widerfahren war, hatte sich so tief in Katharinas Gedächtnis gebrannt, dass sie noch Jahre später davon träumte. Der Schrei der einzelnen Möwe, von der ihre Mutter behauptet hatte, dass es eine Taube war, blieb ihr als Echo für alle Zeit im Ohr.

Sie war mit ihrer Mutter in den Hafen gefahren, im Einspänner mit dem lustigen Pony. Es war das erste Mal, dass ihre Mutter sie mitnahm. Schon damals hatte Katharina ihre Kinderfrau gehabt, eine steife, strikte Person namens Lise, die aus der Heimat stammte, sich ständig räusperte und bis zum Kinn geschlossene Blusen trug. Wenn Katharinas Mutter unterwegs war, blieb sie bei Lise, die ihr allerlei Nützliches beibrachte. Dass sie hübsche Augen hatte, brachte Lise ihr bei, aber grässliches Haar, und dass das grässliche Haar in Zöpfen an den Kopf geflochten werden musste, während die Augen bleiben durften, wie sie waren.

An jenem Morgen war Lise krank gewesen. Zu Katharina sagte sie häufig, Krankheit sei etwas für Faulpelze, doch in der Stadt grassierte ein Fieber, und Katharinas Vater verlangte, dass jeder, der Anzeichen verspürte, in seiner Kammer blieb. »Und was soll ich nun anfangen?«, hatte ihre Mutter ihn angeherrscht. »Ich habe Besorgungen zu machen, wo soll ich hin mit dem Kind?«

»Es ist ohnehin besser, wenn du daheimbleibst, solange das Fieber herrscht«, hatte ihr Vater, der sich durch Gezeter nie aus der Ruhe bringen ließ, erwidert. Dann hatte er seinen Hut aufgesetzt und sich wie jeden Morgen auf den Weg in sein Kontor gemacht.

Nichts wünschte Katharina sich sehnlicher, als ihre Mutter begleiten zu dürfen. Wo würden ihre Besorgungen sie wohl hinführen, etwa auf die berüchtigte Uferpromenade? Von jener Straße, die die Einheimischen Malecon nannten und die sich kilometerlang am silberblau glitzernden Meer erstreckte, träumte Katharina, seit ihr Freund Ben ihr davon erzählt hatte. Es gab Palmen dort, die in den Himmel ragten, Händler, die Süßigkeiten feilboten, Musikanten und weiße Schiffe, die mitunter sogar aus der Heimat kamen. Wenn Ben vom Malecon sprach, sah Katharina ein kunterbuntes Paradies vor sich, in den Worten der Mutter hingegen war die Promenade ein finsterer Ort, an dem man sich todbringende Seuchen holte oder Verbrechern in die Hände fiel. Sie würde Katharina, der es streng verboten war, an dem hohen Strauch vorbeizulaufen und die Siedlung zu verlassen, gewiss nicht dorthin mitnehmen. Schließlich bekundete sie oft genug, keine zehn Pferde brächten sie in dieses Loch voll Schlamm.

Die Mutter hätte auch die Tanten bitten können, auf Katharina aufzupassen, Tante Inga, Tante Dörte oder Tante Traude, ohnehin wurden die Kinder der Familie ständig gemeinsam gehütet. Katharina, die außer einem Toten keine Geschwister hatte, genoss die Gesellschaft der Vettern und Basen, wenn ihr auch keiner so lieb war wie ihr Freund Ben. An diesem Tag aber bat die Mutter keine der Tanten um Hilfe. Es kam Katharina vor, als sollte niemand erfahren, dass sie so dringlich aus dem Haus wollte.

Noch immer zeternd, packte sie Katharina in einen zu warmen Mantel und befahl Ben, den Einspänner vorzufahren. Der Vater hatte Ben und seinen Bruder Miguel als Lagerarbeiter eingestellt, doch da die Mutter nicht noch mehr Indios in ihrem Dienst wollte und deutsche Kutscher nicht zu bekommen waren, blieb Ben im Stall und kümmerte sich um Pferde und Wagen. An dem seltsamen Morgen scheuchte die Mutter ihn mit einem Schwenk der Peitsche vom Bock. »Pack dich, ich fahre selbst. Komm mir ja nicht nah!«

Ben gehorchte. Die Mutter stieg auf den Bock und setzte Katharina neben sich. Sie war nicht zimperlich wie Tante Traude oder kränklich wie Tante Inga, und dass sie einen Wagen lenken konnte, machte Katharina stolz. Staunend bemerkte sie, wie die Häuser ihrer Siedlung mit ihren spitzen Dachgiebeln Reihen von niedrigen Bauten mit Flachdächern Platz machten, wie die Gassen enger wurden und sich mit Menschen füllten. Darüber vergaß sie jedoch nicht, was gesagt werden musste. »Ich mag nicht, wenn du so grob mit Ben sprichst, Mutter. Ben ist mein Freund.« Noch weniger mochte sie, wenn die Sanne, ihre Köchin, Ben mit dem Lederriemen schlug, auch wenn sie sagte, dass er es verdiene.

Die Mutter zog die Zügel an und verlangsamte die Fahrt. »Unser Bursche ist der. Solche Freunde haben wir nicht.«

»Ich schon«, widersprach Katharina. Sie wusste, dass Tante Traude dazu gesagt hätte, dem Kind gebühre eine Ohrfeige, aber sie wusste auch, dass ihre Eltern sie nicht schlugen. Weshalb sollten sie? Was sie sagte, war die Wahrheit, und dass ein deutsches Mädchen nicht log, hatte Lise ihr beigebracht. »Ben ist mein Freund«, wiederholte sie trotzig. »Und ich will, dass du nett zu ihm sprichst.«

Ihre Mutter seufzte. »Man spricht auch nicht nett mit Kojoten«, sagte sie. »Und außerdem versteht der Kerl sowieso kein Wort. Ich wollte, wir bekämen unsere eigenen Leute für die Arbeit und bräuchten nicht die Wilden dazu.«

Solches Gerede war natürlich Unsinn. Ben war kein Wilder. Er war im Haus, solange Katharina denken konnte, und ihre Sprache verstand er so gut wie seine eigene. Er erzählte ihr Geschichten, die bunter und geheimnisvoller waren als Onkel Fietes Märchen – von der tapferen Heldin Johanna Ortiz, die sieben Männern das Leben rettete, indem sie durch ein Schlüsselloch eine Warnung flüsterte, von den Zwillingsvulkanen Popocatepetl und Iztaccihuatl, die aus Liebe zueinander für immer brannten, und von dem Schlangengott mit den Federn, der aus seinem eigenen Blut den Menschen Leben schenkte. Ohne Ben, seine Geschichten und seine Wärme wäre Katharinas Leben farblos und trotz all der Menschen um sie ein wenig einsam gewesen.

Jäh schwenkten ihre Gedanken um, denn in diesem Augenblick erreichten sie wahrhaftig den Malecon. Die Gasse, die das brodelnde Treiben ihnen ließ, war zu schmal für den Wagen, der sich seinen Weg förmlich erkämpfen musste. Sand und Kiesel knirschten unter den Rädern, und die Massen, die sich zu beiden Seiten drängten, schienen zu wogen, zu summen und zu singen. Frauen in farbenfrohen Rebozos hielten ihnen Früchte entgegen, und Katharina wusste nicht, was sie mehr fesselte, die leuchtenden Farben der Waren, die stacheligen Kaktusglieder und zarten Kürbisblüten oder die Gesichter der Frauen, die dunkel und scharf wie mit der Machete geschnitten waren.

Sie musste sich auf dem Kutschbock aufrichten, um über die Köpfe hinwegzusehen. An den Rändern der Uferstraße, unter den Kronen der Palmen, reihten sich Stände, auf denen sich Pyramiden der eigentümlichsten Güter häuften – haarige Nüsse, laubgrüne, hartschalige Birnen, blutrote Schoten und duftende Bündel von Kräutern. Hinter den Ständen, schlecht geschützt von einer niedrigen Ufermauer, verloren sich ein paar Häuser und Blechhütten, und dahinter erstreckte sich das Meer. So erhaben nahm sich das Bild des endlosen Wassers gegen den kümmerlichen Hafen aus, dass Katharina den Atem anhielt. Dort also lag sie, die Naturgewalt, die sie von der Heimat trennte. Wie seltsam das war! Kaum eine Viertelstunde Fahrt lebte sie von dieser Pracht entfernt und hatte doch den Eindruck, in einer anderen Welt zu sein.

Auf der silbrigen Fläche des Meeres, über dem Nebelschwaden wie Schleier hingen, tanzten Schiffe, und weit draußen ragte die Festung San Juan de Ulúa auf. Der Vater hatte Katharina erzählt, sie sei auf eine der Küste vorgelagerte Insel gebaut, doch durch die Nebel hatte es den Anschein, als erwüchsen die trutzigen Mauern geradewegs aus dem Wasser. Wie schön das aussah, wie erhaben!

Das Schimpfen der Mutter rief sie aus ihren Träumen. Sie zockelten schleppend voran, weil sich immer wieder Leute in den Weg drängten. Wolken würzigen Rauchs pufften aus den Öfen der Tortillabäcker, die einander überschrien, um ihre Waren anzupreisen. Vor dem Stand eines Mannes, der hundert Jahre alt sein musste und einen riesigen Strohhut trug, ballte sich eine Traube von Kindern, und vor ihm auf dem wackligen Tisch lag ein Berg zimtbrauner Schoten. Gebannt beobachtete Katharina, wie der Alte mit einer flinken Bewegung seines Messers das Fruchtmark aus der Schote schälte, einen Stock ins Mark steckte und es in einen Topf mit goldenem Sirup tauchte, dessen Anblick ihr den Mund wässrig machte. Grob riss die Mutter sie am Arm herum. »Sieh da nicht hin!«

Empört setzte Katharina zu einer Erwiderung an. Zwar war ihre Mutter nicht so sanft wie ihr Vater, doch von beiden war sie nicht gewohnt, dass sie ihr Schmerz zufügten. Die Mutter aber gebot ihr Schweigen. »Sieh nicht hin«, wiederholte sie. »Wenn wir heimkommen, macht die Sanne dir Fruchtsülze, aber von dem Zeug da holt sich ein Christenmensch den Tod. Kannst du dir vorstellen, was die vor kaum vier Wochen hier verkauft haben? Totenschädel, Fratzen mit hohlen Augen, die haben sie sich in die Mäuler gestopft. Mir wird übel, wenn ich nur daran denke.«

Katharina beschloss, der Mutter zu verschweigen, dass sie einen solchen aus Zuckerzeug geformten Schädel schon gesehen hatte. Ben hatte ihr den gezeigt, am 2. November, dem Dia de los Muertos, und er hatte sie ein Stückchen davon abbeißen lassen. Der Schädel schmeckte süß und scharf zugleich, er war köstlicher als Heißwecken, Schmalzkuchen und sämtliche anderen Süßigkeiten, die aus der Heimat stammten und Katharina gestattet waren. Indem man ihn esse, ehre man einen Toten, hatte Ben erklärt, und dazu koche man dem Toten sein Leibgericht und verzehre es an seiner Stelle. Unwillkürlich musste Katharina an Labskaus, das Leibgericht ihres Vaters, denken, das sie aus tiefstem Herzen hasste. Wie gut, dass ihr Vater nicht tot war. Den Zuckerschädel hätte sie hingegen gern für ihn vernascht, aber das blieb besser ein Geheimnis zwischen Ben und ihr.

Die Mutter hetzte das Pony durch die Massen. Wenn Katharina ihr am Straßenrand etwas zeigen wollte, sah sie nicht hin, sondern blickte starr geradeaus, und von der Stirn troff ihr Schweiß, obwohl es Ende November und nicht mehr sonderlich heiß war. Vor Anstrengung presste sie die Lippen zusammen, und in den Augen brannte ihr Angst. Angst wovor?, fragte sich Katharina. Was konnte imstande sein, ihrer kaltschnäuzigen Mutter Angst einzujagen?

Menschen versuchten nach ihrem Wagen zu greifen, andere wiesen hinaus aufs Meer und sprachen erregt über die Reihe der Schiffe, die vor der Festung auf den Wellen tanzten. Über der ganzen Szene lag eine eigentümliche Spannung, über die Katharina nicht länger nachdenken konnte, da ihre Mutter das Pferd mit einem scharfen Ruck zum Stehen brachte. »Du bleibst hier sitzen, hörst du?« Ihre Stimme klang drohend. »Du rührst dich nicht vom Fleck, bis ich wiederkomme.«

Ehe sie antworten konnte, sprang die Mutter ab und stürmte durch die Menge davon. Katharina sah noch, dass sie ein buckliges Päckchen an die Brust drückte. Woher hatte sie das genommen? Sie musste es unter ihrem Cape verborgen haben, aber was konnte darinnen sein, dass es die Tochter nicht sehen durfte? In der buntgekleideten Menschenmenge stach das dunkle Kleid ihrer Mutter heraus. Katharina verfolgte, wie sie sich eine Schneise schlug und auf einen Mann zusteuerte, der wie unbeteiligt an der Ufermauer lehnte.

Es war einer jener Männer, mit denen ihre Mutter sonst nicht sprach. Katharina hatte angenommen, sie könne gar nicht mit ihnen reden, da ihre Sprache im Haus verboten war. Der Mann hatte schwarzes Haar, dunkle Haut und um die Hüften eine Schärpe, die Ben Faja nannte. Er war zweifellos kein Deutscher, nicht einmal ein Kreole, aber die Mutter sprach mit ihm und übergab ihm das Päckchen, das sie so beschützend an die Brust gedrückt hatte. Der Mann klemmte es sich unter den Arm, und als die Mutter den Kopf schüttelte, stopfte er es sich in den Hemdausschnitt.

Katharina stellte sich auf die Zehenspitzen. Die Mutter nestelte unter der Jacke einen Beutel hervor, den sie dem Mann entgegenhielt. Der senkte die Nase, als wollte er daran riechen. Enthielt der Beutel Schnupftabak? Nein, das, was der Mann herauszog und in seine Hand zählte, waren eindeutig Münzen.

Die Mutter überbrachte diesem Mann eine Ware und zahlte ihm dafür noch Geld? Ein Geräusch ließ Katharina herumfahren. Jemand machte sich am Geschirr des Ponys zu schaffen, versuchte mit einer Art Zange einen silbernen Beschlag zu entfernen. »Heda!«, entfuhr es Katharina, und sogleich sah der Mann zu ihr auf. Es war gar kein Mann, es war ein Junge wie Ben, das Haar pechschwarz, die Augen angstvoll aufgerissen.

Ein paar Männer, sämtlich Weiße in Uniformen, sprangen hinzu, einer packte den Jungen, und ein zweiter riss die Kutscherpeitsche aus der Halterung. Er holte aus, dass die Menge auseinanderstob, und schlug auf den Jungen ein. Der stürzte zu Boden, und Katharina wusste nicht, wer lauter schrie, der Junge oder sie selbst. Wieder holte der Soldat aus und versetzte dem am Boden liegenden Jungen einen Peitschenhieb, der ihm das Hemd über der Brust zerriss. Der vergilbte Stoff färbte sich rot. »A la mierda, ladron!«, fluchte der Mann und holte von neuem aus. »Zum Teufel mit euch, Diebsgesindel.«

Katharina versuchte ihm die Peitsche wegzureißen und stürzte vom Bock. Schmerzhaft landete sie auf Händen und Knien. Der Junge erhielt weitere, immer schnellere Hiebe, bis endlich ein Soldat den Stiel der Peitsche ergriff und dem Rasenden Einhalt gebot. »Es ist nicht erlaubt, die Biester auszupeitschen«, sagte er zu seinem Kameraden. »Gib’s ihm mit dem Knüppel, damit handelst du dir keinen Ärger ein.«

Irgendwer aus der Menge reichte dem Schläger eine Holzlatte. Katharina glaubte sich gelähmt vor Schreck. Noch einen Blick erhaschte sie auf das Gesicht des Jungen, seine Lippe war aufgeplatzt, ein Auge schwoll zu, und aus der Nase rann Blut, dann sauste der Prügel auf ihn nieder. Sie hörte keinen Menschen schreien, nur eine einzelne Möwe, die über ihren Köpfen kreiste und schrill und klagend in den Morgen kreischte.

Katharina wollte aufspringen, da drängte sich jemand durch die Schar der Gaffer, packte sie bei den Schultern und riss sie zu sich hoch. Ihre Mutter schlang die Arme um sie und drückte sie so fest an ihren Leib, dass sie kaum Luft bekam. »Hat er dir etwas getan, mein Herz? Ich bringe ihn um, wenn er dir etwas getan hat, mit meinen Händen bringe ich ihn um.«

Dann hörte Katharina nur noch den Aufprall der Schläge auf dem Körper des Jungen und sein leiser werdendes Wimmern. Nein, er hat mir nichts getan, wollte sie rufen, und dafür, dass er das bisschen Geglitzer stehlen wollte, darf man ihn doch nicht derart prügeln. Aber das Erlebte war zu entsetzlich für Worte. Sie brachte keines heraus.

»Ich lass dich nie wieder allein, hörst du?« Ihre Mutter presste sie noch fester an sich. »Du bist doch alles, was ich habe. Ich bringe dich nie wieder an diesen schrecklichen Ort.«

Ob die Soldaten den Jungen totgeschlagen hätten, sollte Katharina nie erfahren, denn in diesem Augenblick geschah etwas, das ihn rettete. Der Soldat mit der Latte hielt inne, die Gaffer drehten sich um, und der Geprügelte war frei, sich aufzurappeln und in irgendeine Gasse zu fliehen. Ein Geräusch hatte die Ereignisse zum Stillstand gebracht und aller Blicke nach vorn aufs Meer gelenkt. Katharina kannte das Geräusch. Sie war damit aufgewachsen, die umkämpfte Hafenstadt hallte in manchen Nächten davon wider. Geschützfeuer. Der Donner von Schüssen, der die Luft zerschnitt.

Sooft dieser Lärm sie aus dem Schlaf riss, kam ihr Vater zu ihr und versicherte ihr, dass die Kämpfe weit weg waren und ihrer Siedlung keine Gefahr drohte. Jetzt aber war der Donner nah und laut wie nie zuvor. Katharina konnte nichts erkennen, weil vor ihr Erwachsene standen, doch eine Frau schrie auf Spanisch: »Es sind die Franzosenschiffe, sie beschießen uns!«

Der Wachsoldat, der dem anderen geraten hatte, den Jungen mit einem Knüppel zu prügeln, fasste die Mutter am Arm. Die zuckte zurück und riss Katharina mit sich. »Sie müssen hier weg, Señora«, beschwor sie der Soldat. »Der Hafen wird abgesperrt. Warten Sie nicht auf Ihren Kutscher, steigen Sie auf, ich fahre Sie.«

»Scher dich weg, Carbon«, versetzte die Mutter zu Katharinas Verblüffung in schmutzigstem Spanisch, hob sie auf den Bock und sprang hinterdrein. Die Möwe schrie noch einmal. »Die Taube«, stieß die Mutter aus, »die verdammte Taube«, dann trieb sie das Pony mit schlagenden Zügeln in den Galopp, dass die Menschen nach allen Seiten flohen. Der Stand mit den zimtbraunen Schoten stürzte um. »Die Sanne kocht dir Süßes«, zischte sie, »so viel du willst, aber du sagst keinem Menschen, was wir heute getan haben, hörst du? Keinem Menschen!«

Katharina nickte. Ein deutsches Mädchen log zwar nicht, aber Katharina hatte seit längerem begriffen, dass es zuweilen wichtiger war, ein kluges als ein deutsches Mädchen zu sein. Unter dem schwellenden Kanonendonner und den Schreien der Menschen fuhren sie aus dem Hafen, durch das Gewirr der Gassen, schließlich am mannshohen Strauch vorbei und in die Siedlung mit den Giebeldächern. »Hier sind wir sicher, hier kann uns nichts mehr geschehen.« Aus tiefer Kehle atmete ihre Mutter auf. Ein Blick in ihr Gesicht verriet Katharina, dass sie geweint hatte.

 

Was an jenem Novembertag begann, sollte als Guerra de los Pasteles – Kuchenkrieg – in die Geschichte Mexikos eingehen. Eine französische Flotte war in die Bucht von Veracruz eingedrungen, hatte die Festung mit Granaten beschossen und den Hafen besetzt. Angeblich beruhte dieser Angriff auf der Klage eines französischen Kuchenbäckers, der von mexikanischen Soldaten beraubt und nicht entschädigt worden war, doch in Wahrheit war der Konflikt zwischen Frankreich und dem jungen Staat Mexiko viel undurchsichtiger und älter. Die Blockade des Hafens sollte acht Monate dauern und dazu führen, dass Katharinas Mutter unentwegt nörgelte, weil sich nirgendwo grüne Heringe auftreiben ließen. Die meisten Händler der Stadt erlitten Schlimmeres als Mangel an Heringen, denn sie konnten ihre Waren nicht ausführen und mussten schmerzliche Verluste hinnehmen.

Die deutschen Kaufleute überstanden die Krise, obgleich sie schwer zu kämpfen hatten. Es war schließlich nicht die erste. Seit zwanzig Jahren jagte in Mexiko ein Aufruhr den anderen, und obendrein saß ihnen die Konkurrenz der Engländer und Franzosen im Nacken, aber mit Ordnung, Fleiß und Geschäftssinn hatten die Männer der Siedlung sich bisher nach jedem Rückschlag wieder aufgerappelt. Solche Zusammenhänge begriff Katharina jedoch erst wesentlich später, und an jenem Novemberabend, als sie sich zu Ben in den Stall schlich, quälten sie viel mehr die Bilder, die sie mit angesehen hatte, ehe das Geschützfeuer losbrach.

Ben stand in einer der Boxen und striegelte die falbe Stute ihres Vaters. Er war schon zehn Jahre alt und Katharina erst sechs, aber wenn sie an ihre Vettern dachte, wurden Mädchen schneller reif als Jungen, und ihrer Freundschaft hatte der Unterschied im Alter nichts an. Bei ihrem Vater fühlte Katharina sich geborgen, von ihrer Mutter wusste sie sich umsorgt, und mit den Vettern und Basen vergnügte sie sich, aber reden, richtig reden konnte sie nur mit Ben. Mit hämmernden Sohlen rannte sie durch den Gang und rief den Freund beim Namen. Dann schlug sie sich die Hand vor den Mund. Wie oft hatte er ihr gesagt, sie solle im Stall weder trampeln noch rufen, damit sie die Pferde nicht erschrecke?

Ben wandte den Kopf, aber er hörte nicht auf, der Stute in ruhigen Strichen den Hals zu striegeln. Katharina erschrak. Sein dunkles Gesicht, das anders als bei ihren Vettern nichts Kindliches, Rundes an sich hatte, erinnerte sie jäh wieder an den Jungen im Hafen, und in Bens Blick schien die Angst des Fremden zu flackern. »Ich muss mit dir sprechen«, rief sie hastig, um das Beklemmende niederzukämpfen. »Jetzt sofort.«

Beruhigend legte Ben dem Pferd die Hand auf die Nüstern, um sich zu verabschieden. Auf Pferde verstand sich keiner wie er, weshalb ihr Vater ihn schätzte und nur selten bestrafte. Katharina stapfte voran, und Ben folgte. Sie gingen an ihren geheimen Ort, in die Sattelkammer, in der es nach Leder, Heu und Pferden roch und dunkel und behaglich war. Kein anderer kam je hierher. Es war ihre Ben-und-Katharina-Höhle, ihr verborgenes Reich.

Katharina setzte sich auf ihren angestammten Platz, das Fass mit der Sattelseife, und Ben ließ sich mit gekreuzten Beinen zu ihren Füßen nieder. »Ich war auf dem Malecon«, platzte sie heraus, »heute Morgen, mit der Mutter! Sie hat einem Mann ein Päckchen gegeben und ihm sogar Geld dafür gezahlt, und mir hat sie Süßes versprochen, bis mir schlecht wird, wenn ich keinem Menschen etwas davon sage.«

Ben verzog den Mund. »Daran hältst du dich ja vorbildlich.«

Katharina winkte ab. »Du zählst nicht.«

Sogleich bemerkte sie, wie falsch das klang, aber ehe sie etwas hinzufügen konnte, senkte Ben den Kopf und sprach zum Boden: »Nein, natürlich nicht. Ich zähle nicht als Mensch.«

»Ach, Ben, du weißt doch, wie ich’s meine! Die Mutter glaubt, du kannst nicht einmal Deutsch, wie kann sie also etwas dagegen haben, wenn ich auf Deutsch auf dich einschwatze?«

Zum Glück spielte Ben nicht lange den Gekränkten, sondern musste grinsen. »Deutsch hast du eben aber nicht geschwatzt. Ich hätte alles verstanden.«

Tatsächlich merkten die Kinder oft kaum, wie sie zwischen Deutsch und Spanisch wechselten oder die Sprachen mischten, und zuweilen flocht Ben noch Worte in einer dritten Sprache ein, die nur sie beide kannten und die Katharina ihre Geheimsprache nannte. So sagte er zu ihr manchmal Ichtaca – den Namen hatte er sich für sie ausgedacht, und wenn sie ihn fragte, was er bedeute, lachte er. Katharina mochte ihn noch lieber als Palomita, Täubchen, den Kosenamen, bei dem ihr Vater sie rief.

Jetzt aber wollte sie nicht länger von Sprachen reden, sondern das Erlebte loswerden, das ihr wie ein Klumpen in der Kehle saß. Nicht das seltsame Verhalten der Mutter war das Wichtigste, nicht der Malecon und nicht das Feuer der Kanonen, sondern der Junge, der durch ihre Schuld verprügelt worden war. »Hätte ich nicht ›Heda!‹ gerufen, hätten sie ihn nicht erwischt«, klagte sie sich an, nachdem die Geschichte aus ihr herausgesprudelt war. »Nur weil ich so ein Theater aufgeführt habe, ist das alles passiert.«

»Glaubst du denn, er hätte nicht geprügelt werden sollen?«, fragte Ben bedächtig. »Er hat doch versucht euch zu bestehlen – muss er dafür nicht bestraft werden?«

Katharina überlegte. Wie so oft gelang es ihr nicht, in Bens Miene zu lesen, sein Gesicht wirkte verschlossen, als ließe ihn die Sache kalt. »Bestraft werden schon«, erwiderte sie schließlich. »Die Sanne hat dem Hermann den Hintern versohlt, weil er ihr Korinthen geklaut hat, und Onkel Fiete hat gesagt, er nimmt’s ihr nicht übel, denn der Hermann hat’s redlich verdient. Aber der Hermann hat doch nicht geblutet! Geheult wie ein Wickelkind hat er und sich den Hosenboden gehalten, aber er lag nicht am Boden, und seine Lippe war nicht dick und wund!« Katharina stockte. Erneut vom Schrecken der Bilder gepackt, sah sie dem Freund ins Gesicht und glaubte auf einmal sein Auge schwellen und seine Lippe bluten zu sehen, während ihm das Haar schweißnass an der Stirn klebte.

»Das ist einfach zu erklären«, bemerkte Ben ausdruckslos. »Dein Vetter Hermann ist kein Nahua. Wenn ein ordentlicher weißer Junge etwas stiehlt, braucht er ein bisschen Zucht, wenn’s aber ein Nahua-Junge tut, ist der ein Bandito, den man besser totschlägt.«

Nahua war das Wort ihrer Geheimsprache, mit dem er Indios meinte. Aber wie konnte er so reden und dabei so unbeteiligt dasitzen? »Das ist falsch, was du sagst!«, rief sie. »Man schlägt doch kein Kind tot, weil es etwas nimmt, das man gar nicht braucht.«

»Tut man das nicht?« Spöttisch hob er die Brauen.

»Hör auf, dich über mich lustig zu machen«, herrschte sie ihn an. »Weißt du überhaupt, was das Schlimmste an dem Ganzen war?«

»Woher soll ich das wissen?«

»Der Junge«, schrie sie, »der Junge, den sie verprügelt haben, er sah aus wie du!« Dass ihr Tränen übers Gesicht liefen, bemerkte sie jetzt erst, und es ärgerte sie. Wenn er sich bei mir entschuldigt, werde ich ihn nicht so leicht davonkommen lassen, beschloss sie. Wenn er mir die Hand reicht, stoße ich sie weg und bin bestimmt bis heute Abend böse mit ihm.

Ben reichte ihr nicht die Hand. Er entschuldigte sich auch nicht, sondern stand auf und klopfte sich die Hosen ab. »Gewiss doch«, sagte er noch immer ohne Ausdruck. »Ich bin ja einer von denen, und wir sehen alle gleich aus. Schwarze Haare, schwarze Augen, drecksbraune Haut. Jetzt gehe ich besser, denn die Sanne braucht Holz, und du weißt ja, wir Drecksgesichter handeln uns nur allzu schnell Prügel ein.«

Damit verließ er die Sattelkammer. Fassungslos starrte Katharina ihm nach, und zum ersten Mal fiel ihr auf, wie groß er war, wie gerade er sich hielt und dass er schon Schultern wie ein Mann bekam.

 

Hatten Katharina und Ben zuvor gestritten, so hatten sie sich im Nu wieder versöhnt, aber dieses Mal ging er ihr drei geschlagene Wochen lang aus dem Weg. Um sie herum spielte sich ab, was die Erwachsenen die Blockade des Kuchenkriegs nannten, jeder schimpfte über Waren, die er nicht ausliefern, oder Lebensmittel, die er nicht einkaufen konnte, doch Katharina erlebte ihre eigene Blockade. Ihr liebster Freund war so unzugänglich wie der Hafen von Veracruz. Er hatte eine Mauer um sich gezogen und erlaubte ihr keinen Blick hindurch. So sehr verletzte er sie damit, dass sie entschlossen war, es ihm heimzuzahlen, aber als er an einem Januarmorgen in der Box des Falben stand und ihren Gruß erwiderte, war sie derart erleichtert, dass sie ihre Rachepläne vergaß und die Arme um ihn schlang. »Mach das nie wieder mit mir. Nie und nie und nie.«

Geschmeidig löste er sich aus ihrer Umarmung und strich ihr das grässliche Haar glatt, das aus den Zöpfen quoll. »Manchmal muss ich das tun, Ichtaca«, sagte er. »So wie ein Tier, weißt du? Wenn es verletzt wird, zieht es sich in seinen Bau zurück, bis es ihm bessergeht.«

»Aber ich habe dich nicht verletzt«, fuhr Katharina auf. »Ich habe dich lieb, ich würde dir im Leben nicht weh tun.«

Ben erwiderte nichts, sondern lächelte nur mit verschlossenen Lippen und hob die Brauen, wie es seine Art war, wenn er eine Frage stellte. Die Frage blieb stumm. Sie redeten nicht mehr darüber und waren Freunde wie bisher, aber das Ereignis brannte sich in Katharinas Gedächtnis, so dass sie noch Jahre später davon träumte. Jedes Mal, wenn der Traum sie heimsuchte, kreischte darin die einzelne Möwe oder Taube, und jedes Mal hatte der Junge Bens Gesicht.