17
Am folgenden Tag forderte die verschmähte erste Hälfte ihr Recht. Ihre Mutter hatte mitbekommen, dass sie sowohl ohne Stefan als auch ohne Wagen heimgekehrt war, und drohte, ihr weitere Besuche bei Georgia Temperley zu verbieten. Es war Stefan, der sie rettete, indem er ein abenteuerliches Lügenmärchen erfand. Katharina sei nicht wohl gewesen, deshalb habe sie sich früher als er im Wagen der Temperleys auf den Weg gemacht. Unterwegs sei zu allem Unglück dem Wagen die Deichsel gebrochen, also habe der Indio-Bursche Katharina zu Fuß nach Hause begleitet, und da ihr so kalt gewesen sei, habe er ihr seinen Sarape gegeben.
»Den stinkenden Läusefänger wirf auf den Müll«, befahl die Mutter und wollte Katharina den Sarape aus den Händen reißen.
Der Sarape stank nicht im Geringsten, sondern roch nach Benito. Er mochte alt und verschlissen sein, aber er war von einem herrlichen Rot und so sauber wie alles, was Benito trug. In ihrer Not behauptete Katharina, sie müsse ihn dem Indio der Temperleys zurückbringen, und in der Nacht weinte sie in den rauhen Stoff, weil es ihr weh tat, Benito zu verleugnen. Das ständige Weinen wurde allmählich lästig, doch sie wusste, dass sie es geschehen lassen musste. Irgendwann, wenn die andere, vernachlässigte Hälfte ganz zu ihr gehörte, wenn der Riss geheilt war, würde es aufhören.
Dafür, dass er sie gerettet hatte, musste sie sich wieder einmal einen von Stefans Vorträgen anhören. Es gehe so nicht weiter, erklärte er, der Hermann habe ihn beiseitegenommen und ihm eingeschärft, auf Katharina ein Auge zu haben, andernfalls werde er selbst es tun.
»Und was geht es den Hermann an, was ich tue?«, fuhr Katharina auf.
Stefan überlegte, dann sagte er: »Nun, nach Onkel Fiete wird ja wohl Hermann das Oberhaupt der Familie. Und da es Fiete in letzter Zeit nicht leichtfiel, uns alle im Griff zu behalten, meint eben Hermann, er müsse es tun.«
»Ich brauche kein Oberhaupt der Familie«, rief Katharina, »weder Onkel Fiete noch Hermann noch sonst irgendwen!«
Stefan stieß ein seltsames, verlorenes Lachen aus. »Das sagt sich so leicht, Kathi. So verlockend. Aber in Wahrheit brauchen wir den Halt dieser Familie vermutlich mehr, als uns bewusst ist. Könntest du dir vorstellen, ohne das alles hier zu leben, ohne Onkel Fietes Geschichten und die Weihnachtsbäume deiner Mutter, ohne unsere Kinderecken und die Heißwecken von eurer Sanne?«
Jäh fiel Katharina ein, wie sie sich als Kind getröstet hatte, sooft ihr etwas Angst einjagte. Egal, wie es ausgeht, hatte sie sich gesagt, heute Abend stehst du bei der Sanne in der Küche und naschst vom Weckenteig.
»Überleg es dir gut«, sagte Stefan. »Könntest du dir wirklich vorstellen, ohne alles, was uns vertraut ist, in einer Welt zu stehen, deren Regeln wir nicht kennen und in der wir nicht willkommener sind als ihre Angehörigen in der unseren?«
Vor Katharinas geistigem Auge huschte ein Bild von Benitos Mutter und Miguel vorbei. Sie wollte Stefans Gerede nicht länger hören, aber das Unbehagen, die Beklommenheit blieb. Wenn sie es bisher nicht hatte wahrhaben wollen, so fiel es jetzt gnadenlos über sie her: Die beiden Hälften von ihr waren unvereinbar. In der Welt der einen würde die andere immer unwillkommen sein.
Auf einmal kam ihr noch ein Gedanke. »Weshalb schwingt sich überhaupt der Hermann zum Familienoberhaupt auf? Der älteste von uns bist doch du!«
Wieder einmal rieb Stefan sich die Stirn, als ließe sich damit eine Antwort erzwingen. »Ich glaube nicht, dass ich dazu tauge«, murmelte er endlich. »Da ist Hermann weit besser geeignet, und Hermanns Vater …«
»Was ist mit Hermanns Vater?«
»Er ist der älteste Mann der Familie«, erwiderte Stefan schnell, und dann wechselte er das Thema, legte ihr noch einmal ans Herz, auf sich und Benito zu achten, und beendete das Gespräch.
Ich will ja auf ihn achten, begehrte Katharina auf. Aber dazu müsste ich ihn erst einmal zu sehen bekommen! Die Sehnsucht wurde allgegenwärtig. Unter dem Strauch mit den Orangenblüten lag am nächsten Tag keine Nachricht von ihm, und am Tag darauf musste sie mit Jo zu Luise gehen, um über Brautjungfernkleider zu sprechen. Luises Hochzeit sollte im Mai stattfinden, vor dem Standesamt im Palacio Municipal und angeblich auch vor einem Geistlichen, den die Eycks auftreiben wollten. Bis dahin war noch viel Zeit, aber da die Blockade anhielt und es an allen Ecken und Enden fehlte, wollte Tante Dörte die Kleider für die Brautjungfern selbst nähen und beizeiten damit anfangen.
Natürlich hätte Helene ebenfalls Brautjungfer werden sollen, doch weder sie noch ihre Mutter hatten die Einladung einer Antwort gewürdigt. Also trotteten Katharina und Jo allein hinüber zum Haus von Onkel Fiete. Erst vor der Haustür bemerkte sie, wie niedergeschlagen Josephine wirkte. Es wurde höchste Zeit, dass sie sich wieder um Jo kümmerte. In diesen Wochen hatte sie die Base vernachlässigt, und diese hätte zu Recht behaupten können, Katharina denke nur an sich.
Nur an mich und Benito, verbesserte sie trotzig. Zu Jo sagte sie eilig, ehe Tante Dörte sie in die Wohnstube führte: »Wenn du willst, komm doch hinterher noch auf eine Stunde zu mir. Wir haben so lange nicht mehr miteinander geschwatzt.«
Jo sandte ihr ein bedauerndes Lächeln. »Ich habe Bibelkreis.«
»An einem Donnerstag?«
»Er ist jetzt dreimal in der Woche«, erwiderte Jo und sah dabei alles andere als glücklich aus.
Das Erste, was Katharina auffiel, als sie die Stube betraten, war die Daguerreotypie, die zwischen Porzellanfiguren auf der Anrichte stand. Seltsam, dass man, sooft man das Bild betrachtete, immer als Erstes Jette sah, obwohl es doch um Stefans willen gemacht worden war. Luise bemerkte ihren Blick. »Deine Mutter hat es uns zurückgegeben«, sagte sie. »Meine Verlobungszeit über darf es hier stehen, damit mein Sigmund, wenn er seine Aufwartung macht, auch Jette sieht. Es soll für ihn nicht sein, als hätte ich nie eine Schwester gehabt.«
»Ja, so geschieht es«, bestätigte Onkel Fiete, der nicht wie erwartet im Kontor war, sondern in einem Sessel im Erker über Zeitungen saß. »Wenn jemand tot ist, wird er totgeschwiegen, und für den Neuling sieht es aus, als hätte es ihn nie gegeben.«
»Jetzt aber Schluss mit dem Tod«, rief Tante Dörte und wies auf den Tisch, auf dem Lagen von Stoffen aufgehäuft waren.
Die Mädchen setzten sich. »Um ehrlich zu sein, hat mir die Sache mit dem Bild zuerst gar nicht geschmeckt«, tuschelte Luise Katharina zu, während ihre Mutter Nadeln und Steckmuster aus den Stoffen zog. »Denn es ist ja nicht so, dass Sigmund Jette nicht kannte. Im Gegenteil, immerhin war sie es, die er zuerst zum Tanz gebeten und dann zu sich nach Hause eingeladen hat. Das hat an mir genagt, ich habe mich gefragt: Was wäre wohl gewesen, wenn Jette nicht gestorben wäre? Aber jetzt ist das alles ja anders.«
»Warum ist es jetzt anders?«, fragte Katharina, die sich vorstellte, ein Bild von Helen stünde in einer Stube, in der sie mit Benito saß.
»Das kannst du noch nicht verstehen, weil du niemanden liebst«, erklärte Luise altklug und naschte aus einer Schale Konfekt. »Ich weiß jetzt eben, dass es meinem Sigmund um mich geht, also soll Jette ruhig bei uns sein, sie ist ja die Schwester der Braut.«
»Kannst du dich einmal hier ins Licht stellen, Kathi?«, unterbrach Tante Dörte ihr Gespräch. »Ich würde gern sehen, wie dir dieses Rosa steht.«
Das Rosa stand ihr grässlich, fand Katharina, und erst jetzt bemerkte sie, was das für Stoffe waren, die kreuz und quer über dem Kaffeetisch lagen. Es waren Laken und Tischwäsche, einige wenige aus Seide, die übrigen aus feinem Leinen. Verblüfft griff sie nach den Schleifen zum Schließen, die an dem rosa Bezug hingen.
»Jettes Aussteuer.« Tante Dörte zuckte mit den Schultern. »Sie wird sie ja nun nicht mehr brauchen, und Stoff aus Europa ist derzeit nur zu Irrsinnspreisen zu bekommen.«
Im Erker raschelten die Zeitungen, als Onkel Fiete sich erhob. Wieder einmal sah er aus, als träte er vor ein erlauchtes Publikum. »Das wird sich alles in naher Zukunft ändern«, verkündete er und klopfte auf die gelbe, an den Rändern ausgefranste Zeitung. »Mit den Zuständen in diesem Land hat es ein Ende, mit der Roheit und Faulheit, die im Ansatz alles verrotten lassen. Gute Zeiten nahen, und junge Leute wie meine Luise und ihr Sigmund tragen ihr Teil dazu bei. Hört euch nur an, was dieser bemerkenswerte Gordon Bennet vom New York Herald dazu schreibt.«
New York – war das nicht eine Stadt in Nordamerika? Wie kam Onkel Fiete an eine Zeitung des Kriegsgegners, der doch nichts nach Veracruz hineinließ?
»›Die farbigen Rassen werden verschwinden‹«, las Onkel Fiete mit theatralischer Stimme vor, »›sobald die weißen Rassen auf diesem Kontinent beginnen sich in entsprechendem Ausmaß zu vermehren.‹ So muss es ja kommen, so will es die Natur! Die überlegene Rasse muss der minderwertigen den Lebensraum entreißen! Ihr werdet sehen, den Affenmenschen in diesem Land mit ihrer Verschlagenheit, ihren stumpfen Sinnen und ihrem unstillbaren Blutdurst wird es nicht besser ergehen als ihren Brüdern in Nordamerika.«
Es war Tante Dörte, die Onkel Fiete bat, seine Zeitung wieder für sich zu lesen, damit sie mit ihrer Arbeit vorankam. Katharina, die mit dem rosa Bettbezug dastand, hatte kein Wort gesagt. Mit ihrem Schweigen verleugnete sie Benito mehr als je. Wie konnte sie zulassen, dass jemand ihn blutdürstig nannte, Benito, der sich ohrfeigen ließ, um ein Huhn zu schonen, der sich beim Hahnenkampf die Seele aus dem Leib spie!
»Affen gibt es ja viele«, ertönte eine Stimme aus dem anderen Erker. Erst jetzt sah Katharina, dass dort der Thron mit der Großtante Hille stand. »Man sieht es ihnen nicht unbedingt an – manche tragen gestärkte Krägen und geschniegelte Bärtchen.«
Katharina, die gegen Tränen kämpfte, hätte die Alte gern umarmt.
Eine schmale Hand schob sich in ihre. Jo. »Sind nicht alle Völker blutdürstig?«, fragte sie mit ihrem schwachen Stimmchen. »Führen nicht alle Krieg und töten einander?«
»Aber Jo, das ist doch etwas ganz anderes!«, rief Luise. »Kriege können von vaterländischem Nutzen sein, doch dafür haben diese Wilden, Azteken heißen die, keinen Sinn. Weißt du nicht, was die getan haben, bevor die Europäer kamen und dem Spuk ein Ende machten? Sie haben ihren Heidengötzen Menschen geopfert! Ja, ganz recht, sie haben Frauen und Kinder geschlachtet, ihr Blut getrunken und sie ihren ekelhaften Götzen zum Fraß vorgeworfen.«
»Beim alten Messerschmidt habt ihr wohl davon nichts gelernt«, sprach Fiete in die Stille. »Ich aber habe es auf mich genommen, mit meinen Kindern dieses grausame Land zu erwandern und ihnen sein Wesen zu erklären. Fiete Hartmann, habe ich mir gesagt, wenn wir uns dieses Land untertan machen wollen, dann müssen wir es samt seiner viehischen, triebhaften Bewohner begreifen.«
Katharina starrte ihn an. Sie hatte diesen Mann gemocht, über seine Ulkereien gelacht und ihn den lustigen Onkel Fiete genannt. Als Kind hatte sie es geliebt, auf seinen Knien zu reiten, während er alberne Reime aufsagte und das Gesicht zu Grimassen zog. Jetzt sah sie ihn, wie er wirklich war. Mit einem Schirmstock über einem Jungen, der wehrlos am Boden lag. Sie musste aus dem Zimmer eilen und zur Hintertür hinaus in den Küchengarten. Die Luft war frühlingshaft. Sie sog sie ein und ließ die Tränen laufen. Hol mich hier weg, Benito. Heute Abend würde sie zu ihm gehen, egal, was die Mutter sagte. Sie musste ihn bei sich haben, seinen Herzschlag spüren, um sicher zu sein, dass niemand ihm ein Leid antat.
»Du darfst deinen Onkel nicht so ernst nehmen.« Katharina fuhr herum. Hinter ihr, in der Küchentür, stand Tante Dörte. »Menschen, die einen großen Schmerz erfahren, werden häufig ungerecht. Wenn der Schmerz zu groß wird, schlagen sie blindlings um sich und sehen nicht, wen sie damit treffen.« Die Tante breitete die Arme aus, und Katharina ließ sich hineinziehen. Liebevoll fuhr die Hand der Tante ihr über den Rücken. »Für dich ist es schwer, das weiß ich«, sagte sie. »Und dein Onkel Fiete, wenn er bei Verstand ist, weiß es auch. Du bist eine von uns, Katharina, du darfst nie etwas anderes denken. Dies ist deine Familie, und sie wird es immer bleiben.«
Katharina hatte keine Gelegenheit mehr, die Tante zu fragen, was sie damit meinte. Luise kam, um nachzusehen, wo die beiden blieben. Die albernen Bettbezug-Kleider wurden schließlich doch noch vermessen, und ehe sie aufbrachen, erhaschte Katharina einen Blick auf Onkel Fietes Zeitung. Sie stammte vom Mai 1844, und der Columbus, der danebenlag, war noch zwei Jahre älter.
Auf der Straße hängte Jo sich schüchtern an ihren Arm. »Du hast mich doch gefragt, ob ich zu dir komme«, setzte sie an, »aber ich muss ja nun zu Gerlinde, und deshalb …«
»Und deshalb was?«
»Kathi«, begann Jo noch einmal, »würde es dir etwas ausmachen, ein paar Schritte mit mir zu gehen? Nur bis zum Marigoldstrauch, ich würde so gern mit dir reden …«
Sie war Jo etwas schuldig, schließlich hatte Jo, nicht sie, sich schützend vor Benitos Volk gestellt. Außerdem wollte sie selbst gern reden, und nach Hause würde sie ohnehin nicht gehen. »Ich komme mit dir«, sagte sie zu Jo. »Musst du eigentlich deinen Eltern nicht Bescheid geben, wenn du jetzt nicht heimkommst?«
Jo schüttelte den Kopf. »Sie wissen ja, dass ich zum Bibelkreis gehe.«
»Du Glückliche!« Katharina stöhnte. »Meine Eltern würden mich nie im Leben allein in den Straßen herumlaufen lassen, ob ich zum Bibelkreis ginge, zur Englischstunde oder zu Georgia Temperley.«
Trotz ihres Kummers musste Jo lachen. »Das mag daran liegen, dass ich wirklich zum Bibelkreis gehe. Du dagegen gehst nicht zur Englischstunde und erst recht nicht zu Georgia Temperley.«
Verlegen biss sich Katharina auf die Lippe, doch Jo drückte schnell ihren Arm. »Geht es euch gut, Kathi? Natürlich nicht so wie Luise und ihrem Sigmund, aber doch …«
»Was meinst du damit?«, fuhr Katharina ihr ins Wort. »Dass es mir mit einem stinkenden Affenmenschen gar nicht gutgehen kann?« Sie war so ungerecht wie Onkel Fiete, aber irgendwo musste sie hin mit ihrem Zorn.
»Nein, das habe ich nicht gemeint. Ich habe dir schon einmal gesagt, ich mochte deinen Ben sehr gern. Ich fand ihn freundlich und klug, ich fand seine Hände schön und seine Augen. Außerdem ist es schrecklich für mich, wenn jemand über ein Geschöpf, das Gott geschaffen hat, so spricht wie Onkel Fiete. Aber Onkel Fiete ist eben immer noch traurig wegen Jette, und dann ist da der Krieg, da kann niemand mehr klar denken.«
So viele Worte hintereinander sprach Jo sonst nur, wenn es um Gerlinde ging, und natürlich kam sie auch sogleich auf diese. »Gerlinde redet auch so«, sagte sie mit ihrer winzigen Stimme. »Das ist so schlimm für mich.«
»Wie redet Gerlinde?«
»Wie Onkel Fiete. Über blutrünstige Affenmenschen, die ihren Götzen Kinder opfern und zu abgestumpft zur Bekehrung sind.«
Über Jos Wangen rannen Tränen. »Gerlinde sagt, wir dürfen nicht mehr für alle Männer, die im Krieg kämpfen, beten, sondern nur noch für die Protestanten aus Nordamerika. Sie sagt, die Nordamerikaner müssen den Krieg gewinnen, und danach sollen wir alle nach Kalifornien gehen und dort ein christliches Leben führen. Aber ich kann das nicht, Kathi! Ich kann das nicht!« Laut begann sie zu schluchzen wie Katharina vor Tagen in Benitos Armen. »Ich will für alle Menschen beten! Und ich will hierbleiben, ich will von meiner Familie nicht fort.«
Als sie sich beruhigt hatte, nahm Katharina sie bei den knochigen Schultern und hielt sie von sich weg. »Du gehst da nicht mehr hin, hörst du?«, sagte sie. »Deine Gerlinde ist im Kopf nicht richtig, der gehört das Handwerk gelegt.«
»Aber ich habe doch Gott durch Gerlinde erst gefunden!«, rief Jo. »Und ich habe niemanden als sie.«
»So ein Unsinn, den hat sie dir eingeredet. Du hast uns.«
»Ja, schon«, erwiderte Jo, wischte sich das Gesicht ab und lächelte. »Aber ihr habt eben jeder einen, der euch wichtiger ist. Meine Brüder haben einander, mein Vater hat deine Mutter, und meine Mutter hat meinen Vater, auch wenn sie ihn nicht hat. Und du scharrst wie euer Pony mit den Hufen, weil du nicht länger mit mir herumstehen, sondern endlich zu deinem Ben laufen willst.«
Fieberhaft suchte Katharina nach einem Wort zum Widerspruch. »Du wirst jemanden finden«, sagte sie lahm.
Jo lachte. »Mach dir um mich keine Sorgen. Danke, dass du mir zugehört hast. Mir geht es schon besser.«
»Bist du sicher, Jo? Und könntest du …«
»Ja, natürlich, ich könnte deiner Mutter sagen, dass du mit mir beim Bibelkreis warst.« Diesmal geriet ihr Lachen fast schelmisch. »Weshalb eigentlich? Hat Georgia Temperley, wer immer das sein mag, heute keine Zeit?«
Katharina musste mitlachen, und es tat ihr wohl. Dieser ganze Tag war zu düster und bedrückend gewesen. »Sag’s nicht weiter – sie ist Stefans Liebste. Aber ich kann sie ein paar Tage lang nicht als Ausrede nutzen, weil meine Mutter misstrauisch geworden ist.«
Sie gingen zusammen, bis ihre Wege sich trennten, dann gab Katharina Jo einen Kuss und rannte los. Sie wünschte, sie hätte jemanden finden können, der Jo liebhatte, aber ihr fiel niemand ein, und nach drei Schritten hatte sie die Base vergessen.
In ihrem hellen Kleid setzte sie sich vor Benitos Haustür in den Staub und wartete. Als die Wirtin mit ihrem Pastetenkarren kam und sie vertreiben wollte, blieb sie sitzen. »Du bist eine Unbelehrbare, was?«, schimpfte die Wirtin. »Läufst einem Kerl nach, der für dich nicht gedacht ist, und wenn er noch so hinreißende Schmachtaugen und elegante Hände hat. Wärst du meine Tochter, ich würde dich in den Keller sperren, bis du ihn dir aus dem Herzen reißt. Wenn du mit ihm durchbrennst – wo soll er denn mit dir hin?«
Hatten sich heute alle verschworen, gegen ihre Liebe wie gegen eine Mauer anzutoben? Katharina spürte, wie die Mauer unter dem Ansturm zitterte, doch statt nachzugeben, schlossen sich die Fugen noch fester zusammen. Der Wirtin gab sie keine Antwort, und die steckte irgendwann auf und ließ sie sitzen. Benito kam mit dem Maultier im Schlepp, als es dunkel wurde. Sie rief ihn, er blickte auf, und sie erkannte, dass sein Tag noch schlimmer gewesen sein musste als der ihre.
Er wollte sie wegschicken, sagte mit keinem Wort, er sei froh, dass sie gekommen war, doch sie las es in seinen Augen und blieb. Gemeinsam brachten sie das Maultier in den Mietstall zurück. Danach lehnten sie an der Gartenmauer, beide erschöpft, beide niedergeschlagen, und wussten nicht, wohin. Katharina nahm sich vor, ihm nichts von ihrem Kummer zu sagen, ihn nicht zu kränken, indem sie die ungeheuerliche Rede ihres Onkels wiederholte. Sobald er sie jedoch in die Arme nahm, brach alles aus ihr heraus. Jedes einzelne der abscheulichen Worte, die Onkel Fiete und Luise ausgesprochen hatten.
»Und sie sind doch meine Verwandten!«, rief sie verzweifelt. »Das ist das Schlimmste – ich hatte sie beide doch lieb! Onkel Fiete hat uns, als wir Kinder waren, Märchen erzählt, er hat zwischen uns auf dem Boden gekniet und quiekend und grunzend Tiere gespielt. Und mit Luise habe ich der Sanne Sandgebäck gestohlen, wir haben uns auf den Speicher geschlichen und konnten vor Lachen nicht schlucken. Ich habe geglaubt, die zwei wären meine verfressene Base und mein lustiger Onkel, doch in Wahrheit sind sie zwei herzlose Unmenschen, die ich nie mehr wiedersehen will!«
Benito ließ sie wüten, hielt sie fest und streichelte ihr Haar. Erst als sie still war, sagte er: »Doch, Ichtaca, du willst sie wiedersehen, und das ist auch richtig so. Deine Base ist nur ein kleines Mädchen, das nachplappert, was sie irgendwo gehört hat. Und dein Onkel mag ein Rassist sein, aber der liebe Märchenonkel mit den lustigen Geschichten ist er auch. Die meisten Menschen sind mehr als nur einer, meine süße Zweigeteilte, wenn auch nicht ganz so zerschnitten wie du.«
Die Spur eines Lächelns stand in seinen Augen. Sie fand ihn wundervoll. Er war der stärkste Mensch, den sie kannte. Dass sie selbst sich schwach fühlte, ging an, weil er sie schützte. Sie reckte sich und küsste die Narbe in seinem Augenwinkel, behutsam, als wäre die Wunde noch frisch. »Ich weiß nicht, wie du so sein kannst«, sagte sie. »Mein Onkel hat dich …«
»Scht«, machte er und legte ihr einen Finger auf den Mund. »Ich bin ja gar nicht so. Ich will nur, dass du so bist. Alles andere ist schwer, Ichtaca, weil du einen Teil von dir selbst hassen müsstest. Und weil es gut ist, eine Familie wie deine im Rücken zu haben. Ich würde mich nicht mehr allzu gern im Spiegel ansehen, wenn ich dir deine Familie wegnähme.«
Sie musste lachen, obwohl das alles so fürchterlich verfahren war. »Tust du das gern? Dich im Spiegel ansehen?«
»Ich habe gar keinen. Du musstest mir immer deinen borgen.«
Sie lachten zusammen, und Katharina war dankbar für das bisschen Leichtigkeit. »Benito«, fragte sie, weil ihr noch immer die Beine zitterten, »könntest du vielleicht Pulque kaufen? Ich möchte jetzt gern ein wenig betrunken sein.« Und dann mit dir in dein Zimmer gehen und dich mir nehmen, so, wie es verboten ist, damit du mir nie mehr verlorengehst.
Auf einen Schlag war die Leichtigkeit verflogen. »Nein«, sagte er, »ich kann dir keinen Pulque kaufen. Ich kann dir nicht einmal einen Trog Waschwasser kaufen, denn ich habe kein Geld, und bevor du fragst, ich werde in absehbarer Zeit auch keines haben.«
Katharina erschrak. Kam es ihr nur so vor, oder sah er abgezehrt aus, die Augen hungrig und die Wangen eingefallen? »Du bist ein Dummkopf, oder zumindest dein Stolz ist einer. Weshalb hast du mir nicht gesagt, dass du kein Geld hast?«
»Und weshalb hätte ich das tun sollen? Willst du mir vielleicht welches geben?«
Wie von selbst langte sie in ihre Rocktasche, förderte eine von Tante Dörtes Stecknadeln zutage und senkte verlegen den Kopf.
»Wir sind ein prächtiges Gespann, was? Du hast nichts, und ich habe weniger als nichts – ich schlage vor, wir werfen beides zusammen, durchbrechen die Blockade und hauen unser Vermögen in Havanna auf den Kopf.«
Sie mochte den bösen Spott in seiner Stimme nicht. Sie packte ihn, damit er sich nicht von ihr entfernte. »Benito – warum hast du kein Geld mehr? Hat diese Helen dich hinausgeworfen?«
»Nein«, erwiderte er kalt, »ich habe sie hinausgeworfen, und jetzt bist du bitte so freundlich und hörst auf, mir Fragen zu stellen.«
Sie war sich nicht sicher, ob sie im Einzelnen begriff, was er gesagt hatte, aber was sie erfasste, war tausendmal genug. Er ging nicht mehr zu Helen. Um ihretwillen. Sie schloss die Arme um ihn und hielt ihn so fest, wie sie ihn liebhatte, küsste seinen Hals und schob mit den Lippen sein Hemd zurück, wollte mit ihm allein sein, hinter verschlossenen Türen. »Ich rede mit Stefan«, sagte sie. »Er hat erzählt, bei Georgia im Haus können sie jemanden brauchen, und er würde sich für dich einsetzen. Nein, sag nichts, dein blöder Stolz soll gefälligst den Mund halten. Ich tue es ja nicht für dich, sondern nur, weil ich mit dir Geld auf den Kopf hauen will, in Havanna oder wo auch immer. Und jetzt nimm mich mit in dein Zimmer. Dazu brauchst du kein Geld.«
»Nein«, sagte er zärtlich, »das werde ich nicht tun. Nicht jetzt und nicht morgen, nicht mit Geld und nicht ohne.«
»Warum nicht? Weil du mich nicht willst? Bin ich dir nicht hübsch genug, weil ich keine Frau von Welt wie Helen bin?«
Brüsk befreite er sich aus ihrer Umarmung. »Wenn du solche Fragen stellst, bist du mindestens so dumm wie mein Stolz«, sagte er. »Von mir bekommst du keine Antwort darauf, und außerdem ist für solche Kinderei die falsche Zeit. Ich bringe dich jetzt nach Hause. Und in den nächsten Tagen bin ich nicht in der Stadt.«
»Aber du warst doch …«
»Keine Widerrede!« Er nahm sie am Arm und ging mit ihr los.
Dabei hatte sie ihm gar nicht widersprechen, sondern ihn nur fragen wollen, warum er schon wieder fortmusste, war er doch gerade erst mit dem Maultier zurückgekommen. Und dann fiel ihr ein, wie bedrückt er vorhin ausgesehen hatte. Sie hätte ihn fragen müssen, was ihn quälte. Sie hatte ihn alleingelassen und eine kostbare Chance vertan. Als sie ihn vor dem Strauch mit den feuerfarbenen Blüten küssen wollte, drehte er das Gesicht weg. »Nicht hier. Wir sind längst zu nah.«
»Sei nicht albern. Ich habe dich hier schon hundertmal geküsst.«
»Dann wird es Zeit, dass du bescheidener wirst«, erwiderte er, verbiss sich aber ein Schmunzeln.
»Du bist ein böser Starrkopf. Deinen blöden Stolz und deinen Starrsinn habe ich überhaupt nicht lieb. Wann sehe ich dich wieder?«
»Jetzt lange nicht. Ich habe dir gesagt, ich muss morgen noch einmal in die Berge, und wann ich wiederkomme, weiß ich nicht. So lange will ich, dass du mir etwas versprichst, Ichtaca. Ich will, dass du so tust, als wärst du ein braves Mädchen, das vernünftig im Haus seiner Familie bleibt und nicht in einem Hexenkessel von Hafenstadt herumläuft. Kannst du das für mich tun? Und kannst du deine Base, die zu dieser Bibelstunde läuft, und dein übriges verrücktes Volk bewegen, es dir nachzumachen?«
Katharinas Herz begann zu jagen. Es war, als hätte ein Schrecken, der sie den ganzen Tag verfolgt hatte, sie jetzt erreicht und gepackt. »Aber warum denn?«, begehrte sie auf. »Und wie soll ich dich dann das nächste Mal treffen?«
»Ich sende dir eine Nachricht«, sagte er. »Über deinen Vetter. Wenn nichts dazwischenkommt, werde ich nämlich meinem blöden Stolz den Mund verbieten und sein freundliches Angebot annehmen. Wir sehen uns, sobald es möglich ist. Kannst du mir vertrauen und tun, worum ich dich gebeten habe?«
Katharina fühlte sich jäh so allein wie der letzte Mensch auf der Welt. Sie würde ihn tagelang, vielleicht wochenlang nicht sehen und hatte keine Möglichkeit, in Erfahrung zu bringen, wie es ihm erging. Wie sollte sie die Einsamkeit ertragen, die Leere und die Ungewissheit? Sie war nie ängstlich gewesen, aber die Angst hatte sich in ihr Leben geschlichen und wie mit Tentakeln darin festgesaugt. »Ich habe deinen Sarape vergessen«, rief sie, weil es ihr eben eingefallen war und weil sie unmäßig fror.
Jetzt küsste er sie doch. »Behalt ihn«, flüsterte er ihr ins Ohr. »Deine Base bekommt von ihrem Ichsager Juwelen, und du bekommst von mir einen alten Fetzen, aber du hast ja gesagt: Katharina Lutenburg bekommt alles, was sie will.« Er berührte mit den Lippen ihre Stirn, drehte sie sachte an den Schultern herum und sandte sie auf ihren Weg.