57

Das Hotel Delingencias mit seinem blühend bepflanzten Innenhof und den verschwenderisch ausgestatteten Suiten hatte bis zum Einmarsch der kaiserlichen Truppen der Unterbringung betuchter Gäste gedient. Seit Maximilians Armee in der Stadt stand, war hier der Tross untergebracht, das medizinische Korps, die Zeugwarte und Scharen weiterer Kräfte, die für den Erhalt des Heeres notwendig waren. Die Hotelhalle wurde zu einem Speisesaal umgerüstet, so dass zu Zwecken der Zerstreuung lediglich die winzige Hotelbar zur Verfügung stand. Maximilian aber legte Wert darauf, dass seine Leute Zerstreuung hatten, im Angesicht der Gefahr mehr denn je. Er ließ eine Sängerin bezahlen, die in der Bar nach den Wünschen der Männer sang.

Die Unterbringung von Frauen im Kloster von La Cruz, wo Maximilian mit seinen Offizieren wohnte, war nicht vorgesehen, da mit dem Heer keine Frauen reisten. Nicht einmal der Prinz Salm-Salm, der engste Berater des Kaisers, oder Oberst López hatten ihre Frauen mitgenommen. Daher wurde Katharina dem Tross zugeschlagen und im Hotel Delingencias einquartiert. Ihr Zimmer war das kleinste des Etablissements und lag über der Bar. Bei Tag und Nacht hörte Katharina mit an, was die Männer sich von der Sängerin wünschten. Und die Männer, die ihre Geliebten daheim zurückgelassen hatten und nicht wussten, ob sie morgen starben, wünschten sich unablässig La Paloma.

Ich werde wahnsinnig, wenn ich noch einen Takt dieses Liedes höre. Ich werde wahnsinnig, wenn ich noch einmal aus dem Bett aufspringe und nachsehe, ob auf meinem Fenstersims eine Taube sitzt. Und wenn eine dasitzt, heißt das doch nicht, dass Valentin in dieser Nacht gestorben ist! So wie die Angst und das Lied quälte sie das Unheimliche, das sich an ihrem Körper vollzog. Sie war ständig müde und fand kaum noch Schlaf. Sie konnte kaum essen, und dennoch quoll ihr Körper auf, so dass sie den Schnürleib nicht mehr schließen konnte. Etwas geschah. Nicht nur um sie herum, in den Gassen und auf den Plätzen, wo das Leben vor Furcht den Atem anhielt, sondern auch in ihrem Inneren. Vielleicht hatte sie eine Ahnung und ließ sie nicht zu, weil sie zu groß war, sie allein zu tragen. Dann aber träumte sie wieder vom Malecon.

Als der Mann die Peitsche nahm, um Benito zu schlagen, stand sie auf, stellte sich neben ihn, und die Peitsche traf sie beide, wieder und wieder. Es tat nicht weh, aber es blutete in Strömen. Glockengeläut riss sie aus dem Schlaf. Santiago de Querétaro war eine fromme Stadt voll alter Kirchen und Klöster, wer aber rief in der Nacht zum Gebet? Als die Glocken verstummten, bemerkte sie, dass die Sängerin nicht La Paloma sang. Stille, dachte sie, obwohl nicht allzu weit entfernt Schüsse durch die Nacht hallten. Noch im Traum gefangen, tastete sie über Bauch und Schenkel und war überrascht, kein Blut zu finden. Auf einmal glaubte sie Benito zu hören, der fragte, ob sie blute, und zu ihr sagte: Das will ich dir nicht auch noch antun, dass du ein Kind von mir bekommst. Wie mit einem Keulenschlag fiel es ihr ein. Sie hatte seit Wochen nicht geblutet. Seit Monaten. Schon vor Weihnachten nicht.

Zum Tross des Heeres gehörte eine Anzahl Männer, die Nachrichten übermittelten. Mit Katharina sprach niemand, sie wurde behandelt, als wäre sie nicht vorhanden, und sie hatte auch nie versucht mit jemandem zu sprechen. In ihrem winzigen Zimmer hatte sie darauf gewartet, dass Valentin kam, sich lieben ließ und wieder ging. Heute aber kleidete sie sich an, kaum dass das erste Licht durch die Ritze des Fensterladens drang, und lief hinunter in den Speisesaal, um jemanden anzusprechen. Einen der Boten. »Überbringen Sie das Oberleutnant Gruber«, sagte sie und legte ihre Nachricht vor ihn hin. »Auf der Stelle. Es duldet keinerlei Aufschub.«

Als er protestierte, er nehme von ihr keinen Befehl entgegen und Oberleutnant Gruber stehe im Kampf, wiederholte sie mit äußerster Schärfe, was sie gesagt hatte. So lange, bis er die Nachricht nahm und ging.

Sie kehrte in ihr Zimmer zurück und begann eine Tasche zu packen. Sie war verblendet gewesen, in einem Wahn gefangen – wie konnte eine erwachsene Frau, die zwei Männer geliebt und Kinder unterrichtet hatte, fünf Monate lang nicht bemerken, dass sie eines im Leib trug? Falls sie auch nicht bemerkt hatte, dass um sie herum Valentins Kaiser seinen Krieg verlor, dass sich die Schlinge enger zog und im Patio Pferde geschlachtet wurden, weil Vorräte knapp wurden, so stand es jetzt glasklar vor ihr. Sie war so müde gewesen, sie hatte nicht den kleinsten Rest Kampfkraft mehr gespürt. Die Stadt unter dem Aquädukt, in ihrer Muschelschale aus Hügeln, hatte ihr vom Tag der Ankunft an das Gefühl gegeben, nicht grundlos hier zu sein. Wenn wir hergekommen sind, um zu sterben, Valentin und ich, dann soll es eben so sein, hatte sie gedacht. Auch Josefa Ortiz lag schließlich hier begraben.

Jetzt schrien sämtliche Lebensgeister in ihr dagegen an. Wie hatte sie sich derart versündigen können? Dort draußen in den Hügeln starben Menschen, die leben wollten, und sie hockte in ihrem stickigen Zimmer und hegte morbide Gedanken. Hatte sie ihr Leben nicht genossen, hatte sie nicht getanzt und gelacht, geliebt und geweint, heiße Wecken gegessen, Tequila mit Limonen getrunken, mit Freunden Nächte durchschwatzt und in den Armen eines Mannes ihren Namen vergessen? War sie aus der Hölle von Veracruz, in der Luise und Sievert hatten sterben müssen, gerettet worden, um ihr Leben wegzuwerfen? In ihr wuchs neues Leben. Es hatte das Recht darauf, in die Welt hineinzuwachsen und von ihr dabei beschützt zu werden.

Valentin musste sie aus der Stadt schaffen, irgendwohin, wo sie in Sicherheit war. Anschließend musste er dafür sorgen, dass er nicht in der Entscheidungsschlacht eingesetzt wurde. Er wurde Vater. Sie und ihr Kind hatten niemanden als ihn, er trug Verantwortung für sie. Was aus ihnen werden sollte, wenn der Krieg verloren war, würde sich zeigen. Vermutlich würden sie in Mexiko nicht bleiben können, sondern mussten versuchen in Valentins Heimat, nach Tirol, zu fliehen. Wenn sie sich bis in die Hauptstadt durchschlagen konnten, würde Claudius von Schweinitz ihnen womöglich mit der Schiffspassage helfen. Das alles ließ sich machen. Im Augenblick zählte nur, dass sie sich außer Gefahr brachten. Zaghaft senkten sich ihre Hände auf ihren Bauch. Es gab nichts Kostbareres als das, was darinnen lag. Es gab keine größere Aufgabe, als es zu schützen.

In ihrer Nachricht hatte sie geschrieben, Valentin solle sofort zu ihr kommen, es gehe um Leben und Tod. Sie hatte die aufgeblasenen Worte satt, aber in diesem Fall trafen sie zu. Dennoch vergingen Stunden, ohne dass Valentin sich zeigte. Das Warten war eine Tortur, noch verschlimmert durch die drückende Hitze und die Bekanntgabe, dass Wasser in der belagerten Stadt fortan rationiert sei. Der Krug, den Katharina erhalten hatte, war längst leer, und die Zunge klebte ihr am Gaumen. Würde es dem Kind schaden, wenn sie nicht genug zu trinken bekam? Sie schwor sich, dass dies die letzten Stunden ihres Lebens sein würden, die sie mit sinnlosem Warten vergeudete.

Valentin kam, als die Glocken der Stadt zur Vesper läuteten. Er stieß die Tür auf, dass sie gegen die Wand knallte. Unter ihnen hatte die Sängerin in der Bar begonnen La Paloma zu singen. »Was fällt dir ein, mir solche Nachricht zu schicken? Weißt du, was wir hinter uns haben? Weißt du, wie viele von uns in dieser gottverlassenen Nacht gestorben sind?« Er bekreuzigte sich. In seiner wie auf den Leib geschnittenen Uniform, mit den nach hinten gestrichenen Locken, war er schöner als je. Würde ihr Kind auch so schön sein, würde es ein Sohn sein?

 

Wenn eine Taube an dein Fenster kommt,

Behandle sie zärtlich, denn ich bin es.

 

»Kruzitürken, wenn ich noch einmal dieses Lied höre, vergesse ich mich.«

»Es ist das Lieblingslied des Kaisers«, sagte Katharina. »Ich höre es jeden Tag.«

»Willst du dich beklagen? Und den Kaiser lass aus dem Spiel, der ist der tapferste Mann, der je gelebt hat. Ohne mit der Wimper zu zucken, wollte er seine Nachhut in die Schlacht führen, um die Cazadores zu retten. Nur mit äußerster Anstrengung haben wir ihn umstimmen und aus der Gefahrenzone schaffen können.«

»Valentin«, sagte Katharina, »du musst mich aus der Gefahrenzone schaffen.«

»Was muss ich? Bist du toll? Ich habe meine Besprechung wegen deiner kindischen Nachricht verlassen, ich muss auf dem schnellsten Wege zurück.«

Katharina schüttelte den Kopf. »Gestern sind drei Straßen weiter Granaten eingeschlagen. Die Schlinge wird enger, und du weißt es. Ich bekomme ein Kind von dir, Valentin. Du musst mich aus der Stadt bringen.«

»Habe ich dir vielleicht befohlen, mit hierherzukommen?«, schrie er. Sein Gesicht verfärbte sich rot. »Ich habe dir gesagt, bleib in Chapultepec, aber du wolltest ja unbedingt mit. Also lieg mir nicht in den Ohren, sondern löffle aus, was du dir eingebrockt hast.«

»In Chapultepec wäre ich jetzt in der Hand von General Porfirio Diaz«, erwiderte Katharina ruhig. »Valentin, hast du gehört, was ich zu dir gesagt habe?«

»Und ob ich das gehört habe!«, schrie er. »Dein Gerede und das verdammte Lied höre ich, während mein Kaiser mich so dringend braucht wie nie in seinem Leben – ich habe verdammt noch mal zu solchen Kindereien keine Zeit!«

»Du musst«, entgegnete Katharina. Sie sprach noch immer ruhig, aber ihr Herz begann zu rasen. »Ich habe gesagt: Ich bekomme ein Kind von dir. Das Kind hat sich nichts eingebrockt, das haben du und ich und dein Kaiser, Napoleon und wer weiß wer noch getan. Unser Kind darf es nicht auslöffeln müssen. Es muss aus der Stadt.«

Endlich hörte er sie. Sein gerötetes Gesicht erbleichte. Unten in der Bar hob die Sängerin von neuem an zu singen.

Als ich die Stadt verließ, o mein Gott,

Niemand sah, wie ich aufbrach.

»Aber das kann doch nicht sein«, stieß er heraus. »Ich habe doch mit dir kein Kind machen wollen.«

Jetzt war sie es, die nicht erfasste, was er zu ihr sagte. »Ja, ich weiß, es ist kein günstiger Augenblick«, erwiderte sie. »Aber in einem Jahr werden wir glücklich sein, dass unser Kind bei uns ist, und den Augenblick vergessen haben.«

»Vergessen?« Valentin fuhr sich mit den Händen ins Haar. »Wie könnte ich diesen Augenblick vergessen? Hör mir zu, Katharina, um diese Angelegenheit wird man sich kümmern müssen, aber dafür ist jetzt keine Zeit. Mein Kaiser …«

»Dein Kaiser hat keine Kinder! Und das eine, das er an sich genommen hatte, hat er seiner Mutter zurückgegeben, damit es in Sicherheit ist.« Sie war aufgesprungen. Blut rauschte ihr in den Ohren, und ihr Herz jagte, als wollte es sich überschlagen. Was sollte sie tun, wenn er ihr nicht half? Aber das durfte nicht sein, sie trug sein Kind, er musste ihr helfen! Eine Detonation unterbrach das Lied. »Ich will hier weg«, schrie sie hysterisch auf. »Ich habe Angst, ich habe Durst, ich kann nicht mehr.«

»Jetzt beruhige dich doch. Ich sorge dafür, dass man dir Wasser und einen von diesen Kaktusschnäpsen bringt.« Er trat auf sie zu und versuchte sie wieder auf den Stuhl zu drücken. »Diese ganze Sache wird sich regeln. Wenn erst der Krieg zu Ende ist, findet sich ein Weg. Es gibt Klöster, die ledige Mütter aufnehmen. Oder du könntest zu deiner Familie zurück, wenn man ihr Geld dafür gäbe.«

Katharina sprang unter seinen Händen weg und stieß gegen die Wand. »Was willst du damit sagen? Das hier ist unser Kind, Valentin – deines und meines. Es ist aus unserer Liebe gemacht!«

»Aber es war doch klar, dass du und ich kein Kind haben können!« Valentins Stimme klang jetzt ein wenig weinerlich, ein wenig wie die der Sängerin in der Bar. »Unsere Liebe, das war doch nichts, um Kinder draus zu machen. Ich weiß ja nicht einmal richtig, woher du stammst und was für Blut du in dir hast.«

Die Hitze im Zimmer spürte sie nicht mehr. In ihrem Inneren war alles kalt, und vielleicht erfror ihr Kind in diesem kalten, ungeliebten Leib. Sie sah Valentin, wie sie ihn vor drei Jahren auf dem Zócalo gesehen hatte, seine völlig ebenmäßigen Züge, seine schillernd grünen Augen und die vollen, geschwungenen Lippen, und dachte dasselbe wie damals: Das ist der schönste Mann der Welt. Nur hatte er damals sie angesehen, als wäre sie die schönste Frau der Welt, und jetzt sah er sie an wie ein Ärgernis, das nicht schnell genug aus dem Weg geschafft werden konnte. Inez fiel ihr ein, die ihr Geliebter samt Kind auf die Straße geworfen hatte. Weshalb glaubte man immer, so etwas könne nur anderen geschehen?

»Sei doch vernünftig, Schatzerl«, beschwor er sie. »Dies sind die entscheidendsten Stunden meines Daseins, es geht um mein und meines Kaisers Lebenswerk!«

Mein Kind ist auch dein Lebenswerk. Und wer immer dein Schatzerl ist, ich bin es nicht. Sein schönes Gesicht verschwamm vor ihren Augen. »Valentin«, versuchte sie es noch einmal, aber sie würde nicht betteln. Sie war schon so tief gefallen, eine Offiziershure, eine ledige Mutter, der kein Mensch in der Stadt die Hand reichen würde. Wenn sie sich noch weiter erniedrigte, war sie verloren. »Valentin, wenn du mich nicht mehr liebst, nehme ich das hin. Ich bitte dich nur, mich und das Kind in Sicherheit zu bringen, damit wir nicht zwischen die Fronten geraten.«

»Das geht nicht, verflucht noch eins, wie oft soll ich dir das noch sagen! Soll ich meinen Kaiser im Stich lassen in der Stunde der Entscheidung? Niemals täte ich das, dazu bin ich nicht geboren! Eher gehe ich für ihn und für unsere Sache in den Tod.«

Sag nichts mehr, befahl sie sich. Verlass dieses Zimmer, solange du noch einen Funken Kraft hast. Lass ihn nicht sehen, wie du zusammenbrichst. Unten in der Bar erklang zum dritten Mal La Paloma.

Willst du nicht mit mir kommen, meine Liebste?

Komm mit mir dorthin, wo ich lebe.

Katharina hob die Tasche vom Boden. Sie enthielt nur ein paar Kleider und ein Buch, doch an ihrem Arm hing sie schwer wie Blei. An ihm vorbei ging sie aus dem Raum und die Treppe hinunter. Die Bar, in der die Frau La Paloma sang, ließ sie hinter sich, durchquerte den Speisesaal und trat hinaus auf die Straße. Das Zirpen, Sirren und Summen des Frühlingsabends umfing sie, durchbrochen von Schüssen und ab und an einem Schrei. Rotgolden stand der Himmel über den Hügeln, die die Stadt bewachten, und wenn man die Augen gegen das Licht zusammenkniff, konnte man die endlosen Reihen der Soldaten und Geschütze ausmachen, die die Hügel besetzt hielten. Über diese Hügel, vorbei an diesen Reihen musste sie kommen, das schuldete sie ihrem Kind. Danach mochte geschehen, was wollte.

Ziellos irrte sie durch leere Gassen, erwog hier und da, an ein Haus zu klopfen und um Hilfe zu bitten – aber wie konnte sie von fremden Menschen erbitten, was ihr Geliebter ihr verweigert hatte? Ihre Beine wurden mit jedem Schritt schwerer, in ihrem Kopf dröhnte es, und der Durst war kaum noch erträglich. Die Sonne sank schnell. Dies hier war nicht die Hauptstadt oder Veracruz, es war eine kleine Stadt, die unter der Belagerung ächzte. Nach Einbruch der Dunkelheit würde sie niemanden mehr auf der Straße treffen. Sie musste einen Platz finden, auf dem Menschen waren. Ihre einzige Hoffnung bestand darin, dass jemand sie ansprach und ihr Hilfe anbot. Ihr wurde klar, dass sie keinen Centavo bei sich hatte. Wenn niemand ihr half, musste sie die Nacht auf der Straße verbringen. Bereits jetzt kroch ihr die Abendkühle in die Glieder. Sie zerrte den Sarape aus der Tasche und wickelte sich darin ein.

Als sie endlich einen Platz erreichte, an dem noch eine Bar geöffnet hatte und Menschen ihres Weges zogen, war es bereits dunkel, nur aus der Tür der Bar fiel ein Streifen Licht. Eine zweitürmige Kirche warf ihren unheimlichen Schatten über das Gestein. Die Menschen hasteten nach Hause, ohne ihr Beachtung zu schenken. Einmal streckte sie den Arm nach einer Frau aus, die mit zwei Kindern über den Platz lief. Die Frau kreischte schrill auf, zerrte die Kinder an den Händen und floh.

Sah sie schon so zum Fürchten aus – ein Gespenst wie La Llorona, vor der die Leute flüchteten? War sie bald der letzte lebende Mensch auf diesem Platz? Ihr war übel vor Schwäche. Als sie Schritte hörte und sich umdrehte, geriet sie ins Schwanken. Aus dem Portal der Kirche stürzte ein uniformierter Offizier, rannte auf sie zu und rief ihren Namen. Er verwechselte sie nicht. Er hielt sie nicht für La Llorona. Er rief den einen Namen, der nur ihr gehörte.

Es war nicht möglich. Das Land, in dem sie lebten, war unendlich weit. Zwei Menschen, die sich verloren hatten, konnten sich niemals darin wiederfinden. Aber einmal hatte sie gedacht: Hätten sie mich nicht eingesperrt, hätte ich die Erde nach dir abgesucht, bis ich dich gefunden hätte.

Er hielt sie so fest, dass ihre Beine nachgeben durften. Seine Kleider waren feucht, aber sein Körper glühte vor Wärme. Sie lehnte sich an ihn und ruhte aus. Es würde gleich enden, es war nicht möglich und würde sich in Luft auflösen, aber den Augenblick, den es bestehen blieb, würde sie nutzen, um Kraft zu schöpfen.

Er lachte in ihr Gesicht. »Katharina. Ichtaca. Ich will der Jungfrau von Guadelupe eine Altardecke stiften.«

Sie musste auch lachen. Das Lachen erschütterte ihren ganzen Körper, aber er hielt sie in seinen Armen fest. Weil sie ihn so viel fragen musste, fragte sie das, was völlig unwichtig war. »Was hast du in der Kirche gemacht? Gebetet?«

»Das ist schon möglich. Vor allem habe ich nach dir gesucht.«

»Aber ich bin doch nicht katholisch!«, rief sie aus.

Einen Herzschlag lang sah er sie an und hielt inne. Dann warf er den Kopf zurück und brach in ein Gelächter aus, das über den Platz schallte und ihr versprach, dass es ein Morgen geben würde, ein Entkommen und auf irgendeine Weise ein Weiterleben. Er hob die Hände, um sie um ihr Gesicht zu schließen, senkte sie aber im letzten Moment. »Wo wolltest du denn hin in der Nacht?«

»Ich weiß nicht«, gestand sie kleinlaut ein. »Ich dachte, ich treffe vielleicht jemanden, ich … Ach Gott, ich weiß nicht, was ich dachte.«

Wieder hob er eine Hand und ließ sie fallen, ehe sie ihr Gesicht berührte. »Tust du mir einen Gefallen? Wenn du das nächste Mal bei Nacht durch eine belagerte Stadt streunst, geh in eine Kirche. Ob die katholisch ist, ist nebensächlich. Sie ist warm, Ichtaca. Sie ist geschützt, und es gibt dort Wasser zu trinken.«

»Wasser«, murmelte sie und geriet wieder ins Schwanken.

Er schloss die Arme fester um sie, ohne dass seine Hände sie berührten. »Es tut mir so leid«, sagte sie. »Ich bin so furchtbar dumm.«

»Ich auch. Und deshalb haben wir jetzt ein Problem. Hör zu, Katharina Lutenburg, was immer du mir jetzt gleich über deinen Valentin und deinen Kaiser erzählst, spielt überhaupt keine Rolle. Das hat zu warten. Für den Augenblick musst du aus dieser Stadt, verstehst du das?«

Katharina nickte. Sie wollte ihm etwas erzählen, über Valentin, wenn auch nicht über den Kaiser, aber es kam ihr nicht über die Lippen, und er sprach schon weiter.

»Ich habe eine Riesendummheit begangen«, sagte er. »Ich kann dich aus der Stadt nicht hinausbringen, wie ich hereingekommen bin, und so, wie ich es mir gedacht habe, wäre es bei uns Mexikanern gegangen, aber die Österreicher sind dafür zu ordentlich.« Als er den Ausdruck auf ihrem Gesicht sah, hob er zum dritten Mal die Hand und ließ sie wieder fallen. »Bitte hab keine Angst, wir kommen trotzdem durch. Ich weiß jemanden, der uns helfen kann, aber um mit ihm zu sprechen, brauche ich Zeit, und ich kann dich nicht mitnehmen. Ich bringe dich zu Verwandten von meinem Schwager. Es sind nette Leute. Sie stellen dir keine Fragen, sie passen nur auf dich auf.«

»Nein!«, rief sie spontan. »Geh nicht weg, lass mich nicht allein.«

Er hob eine Braue, dann furchte er die Stirn, und sie konnte sehen, wie er fieberhaft überlegte. »Katharina«, sagte er endlich, »wenn ich dich mitnehme, musst du das, was du siehst, für dich behalten. Was immer geschieht, du darfst es niemandem sagen, auch nicht Oberleutnant Gruber. Es ist nicht richtig von mir, dass ich den Mann um Hilfe bitte, ich weiß mir nur keinen anderen Rat, und ihm darf daraus kein Schaden entstehen.«

Katharina klapperten die Zähne. »Ich schwöre«, presste sie heraus.

»Das ist nicht nötig. Es genügt, wenn du es mir sagst.« Er löste eine Flasche von seinem Brustgurt und gab sie ihr. Katharina trank mit einer solchen Gier, dass sie sich glucksen hörte. Ehe sie sich’s versah, war die Flasche leer. Verschämt ließ sie sie sinken.

Er lächelte. »Nicht schlau. Etwas sollte man immer für den Notfall übrig lassen.«

»Es tut mir leid.«

»Ich vergesse es auch ständig, obwohl mir mein Bruder eine Warnung sein sollte. Aber wir sind ja nicht in der Wüste.«

»Wieso hast du eigentlich diese Uniform an?«, platzte sie jäh heraus. In ihrem Kopf ging alles durcheinander.

»Das erzähle ich dir im Gehen.« Er ließ sie los und machte einen Schritt. Als er sah, wie unsicher sie auf den Beinen war, kam er zurück, legte ihr den Arm um die Schultern und führte sie. Bitte sag nicht, dass ich zu den Verwandten muss, flehte sie stumm. Auch wenn ich schlappmache. Geh nicht von mir weg. Er sagte nichts von den Verwandten. Stattdessen erzählte er ihr in drei Sätzen eine haarsträubende Geschichte von Leichen auf dem Fluss. Am Aquädukt entlang, der im Dunkeln schimmerte, gingen sie auf die Erhebung im Osten der Stadt zu, auf der sich die steinernen Mauern des Klosters von La Cruz in den Nachthimmel reckten. Dort oben war das Hauptquartier des Kaisers. Dort oben war Valentin.

Ehe die Schildwachen sie bemerkten, blieb er stehen und drängte Katharina zurück an die Häuserwand. »Bleib hier stehen«, flüsterte er. »Nur ein paar Augenblicke. Du kannst alles mit ansehen, aber zeig dich nicht.«

Katharinas Herz hämmerte so laut, dass er es hören musste. »Aber wenn dir etwas geschieht. Wenn du nicht wiederkommst …«

»Dann gehst du zu Xaviers Verwandten«, flüsterte er und nannte ihr dreimal die Adresse, bis sie sie mechanisch wiederholte. Als er gehen wollte, griff sie nach seinem Arm und hielt ihn fest.

»Warum hast du das getan?«, flüsterte sie. »Das mit dem Fluss.« Er war purer Wahnsinn. Soldaten hatten bereitgestanden, um die Leichen aus dem Fluss zu bergen, und er konnte von Glück sagen, dass er ihnen entronnen war.

»Weil es gefährlich ist in der Stadt«, erwiderte er kalt. »Weil die Entscheidung stündlich fallen kann und weil ich dir schon einmal gesagt habe, dass Männer schlimmer als Tiere werden, wenn sie seit Monaten keine Frau hatten und auf die Frauen ihrer Feinde losgelassen werden. Jetzt lass mich gehen.« Er befreite seinen Arm, und sie sah ihm nach, wie er auf den Fuß des Hügels zulief. Die Männer der Schildwache brachten ihre Gewehre in Anschlag. Benito hob die Hände. Katharinas Herzschlag setzte aus, aber die Männer ließen ihn herankommen und hörten ihn an. Nach kurzem Palavern machte sich einer der beiden auf den Weg den Hügel hinauf, während der andere Benito mit der Muskete in Schach hielt.

Sein Haar ist zu lang, durchfuhr es Katharina. Vermutlich verlor sie endgültig den Verstand. Nach einer stummen Ewigkeit kam der Wächter mit einem Offizier zurück. Der zweite Wächter ließ die Muskete sinken, und der Offizier sprach mit Benito. Schließlich schrieb er ein paar Zeilen auf einen Bogen Papier, den er Benito gab. Sie drückten einander die Hand, dann drehte Benito sich um, um zu ihr zurückzukehren. In diesem Moment, ehe der Mann sich ebenfalls umdrehte, erkannte sie ihn. Es war Oberst López.

Sie ließ sich in Benitos Arme fallen. Ich nutze ihn aus, dachte sie, ich darf ihn so nicht behandeln, doch ihre Schwäche übermannte sie. »Kannst du gehen?«, fragte er. »Wir haben es fast geschafft. Am nächsten Zugang kommen wir aus der Stadt.«

»Was hat er dir gegeben?«

»Einen Geleitbrief«, sagte er. »Und jetzt frag mich nichts mehr.«

Während sie sich auf seinen Arm gestützt weiterschleppte, durch schlafende Gassen, dann über einen Streifen freies Land und schließlich auf einen abgesperrten Pass zu, zogen ihr die Bilder jener Nacht im Theater durch den Kopf. Sie begriff jetzt, wie die Flugblätter in den Rauchraum gekommen waren. Zweimal wollte sie etwas sagen, doch er bedeutete ihr zu schweigen.

Die Wächter hinter den Sperren aus spanischen Reitern reichten Oberst López’ Brief herum, überflogen ihn und tauschten eilige Worte. Im Flüsterton stellten sie Benito Fragen, dann zogen sie eins der Holzkreuze zurück und ließen sie passieren. Schweigend durchquerten sie das Heerlager zwischen im Nachtwind geblähten Zelten, erloschenen Feuern und müden Wachen hindurch. Noch einmal musste Benito den Brief einem Wachmann zeigen, der mit seiner Fackel Katharina ins Gesicht leuchtete. Dann durften sie gehen. Vor Erleichterung entfuhr ihr ein Laut, doch Benitos Blick gebot ihr Schweigen. In schnellem Schritt führte er sie durch das hohe Gras der Ebene von den letzten Lichtern der Stadt fort in die Nacht, die nur die Sterne und ein silberner Halbmond erhellten.

Erst als sie eine Gruppe Pinien am Fuß eines Hügels erreichten, blieb er stehen. Katharina keuchte, ihre Lungen schmerzten, und ihre Zähne schlugen aufeinander. »Willst du ausruhen?«

Sie nickte. Er half ihr, sich ins Gras zu setzen, und sie lehnte den Kopf an den Stamm der Pinie. »Wohin gehen wir?«

»Nach dort oben.« Er wies den Hügel hinauf. »Auf den Stützpunkt meines Regiments.«

Es waren diese Worte, die sie hasste. Stützpunkt, Regiment, Krieg, Schlacht, Pflicht, Kaiser. Dort oben würde er sie also ihrem Schicksal überlassen und zurück in seinen Kampf rennen. Nur auf der anderen Seite – wenigstens der Kaiser bliebe ihr erspart. »Gehen wir weiter«, murmelte sie und schluckte ihren Zorn, der nicht berechtigt war, hinunter.

»Katharina«, sagte er seltsam verlegen. »Bitte versteh mich nicht falsch. Ich will nur nicht, dass mich ein übereifriger Wächter abknallt, wenn ich in den blöden weißen Hosen da hinaufstolpere.«

Fassungslos sah sie zu, wie er die Hosen auszog und in den Wald schleuderte. Es war dunkel. Um seine Beine zu betrachten, die schön geformten Muskeln von Waden und Schenkeln, reichte das Licht aber aus. Als hätte ich nichts Besseres zu tun.

»Du könntest zur Seite sehen, Katharina. Du könntest mir auch diesen Lappen geben, den du um den Hals trägst.«

Zitternd vor Kälte löste sie den Sarape von den Schultern und streckte den Arm, um sich ihm nicht nähern zu müssen. »Er gehört ohnehin dir«, murmelte sie, und auf einmal, völlig unsinnig, stiegen ihr Tränen in die Augen. »Kann ich ihn bitte behalten? Kannst du ihn mir wiedergeben?«

Ungläubig betastete er den Stoff. »Natürlich«, sagte er rauh und schlang ihn sich um die Hüften. »Komm weiter, ja? Wir haben es gleich geschafft, dann kannst du schlafen.«

Seite an Seite stiegen sie über das Geröll des Hangs dem Zeltdorf entgegen. Kurz vor dem Kamm stürmte ein bewaffneter Wachmann auf sie zu, doch als er Benito erkannte, senkte er das Gewehr und winkte. Er war ein kleiner, noch junger Weißer, der über das ganze pickelige Gesicht strahlte. »Mein Capitán! Und wir hatten Angst, wir müssten eine Messe für dich lesen lassen.«

Benito legte einen Finger auf die Lippen. »Ist der Oberst wach?«, flüsterte er.

Der Pickelige nickte.

»Melde ihm, dass wir zurück sind, Guerrero. Ich habe jetzt keine Zeit, die Dame braucht schleunigst ein Bett. Kann irgendwer Tee machen? Ich komme zu ihm, sobald es möglich ist.«

»Wird erledigt, Capitán. Ich kümmere mich um den Tee.« Halb neugierig, halb ehrfürchtig warf er einen Blick auf Katharina. »Und ich frag dich auch nicht, was du mit deinen Hosen gemacht hast. Ich bin ja bloß froh, dass die Maxen dich nicht zu Lederseife verarbeitet haben.«

»Was für Leder soll denn davon sauber werden?«, fragte Benito und zog Katharina an ihm vorbei. Stumm schlichen sie sich durch das weit verstreute Lager bis auf die andere Seite des Kamms. Vor einem einzelnen Zelt zog er die Plane zurück. Sie mussten sich ducken, um einzutreten. Drinnen herrschte völliges Dunkel, bis er eine Kerze ansteckte und sie im Lichtschein ein Schlaflager, einen Tisch und einen Stuhl ausmachte. »Das Hotel Iturbide ist es nicht«, murmelte er.

Katharina, die sich von ihm auf das Lager helfen ließ, fand, es war das Paradies. Er kniete vor ihr nieder, breitete eine Decke um sie und zog sie fest. »Mehr?«

Sie nickte, und er legte ihr ein Fell um die Schultern und wickelte sie darin ein. »Leg dich hin«, sagte er. »Ich muss jetzt zu meinem Oberst, aber ich komme noch einmal wieder und bringe dir Tee. Mehr Decken auch?«

Noch einmal nickte sie. Der Gedanke, ihn gehen zu lassen und allein zu bleiben, machte sie schaudern. Er stellte die Kerze näher zu ihr, trat zu einem Tornister und nahm ein paar Sachen heraus. Zuletzt löste er den Sarape von seinen Hüften und breitete ihn über ihr aus. Dann ging er.

Allein in der Nacht, stürmten ihre Gedanken mit solcher Heftigkeit auf sie ein, dass sie die Augen zukniff und sich die Hände auf die Ohren presste. Die Zeit, bis die Plane sich regte und Benito sich durch den Eingang duckte, kam ihr endlos vor.

Er trug seine eigenen Uniformhosen und ein Hemd, das gemessen an der Umgebung unglaublich weiß war. Sein Haar war nass und zurückgekämmt. Wieder kniete er vor ihr nieder, stellte ihr einen Korb und einen dampfenden Henkeltopf hin und zog sich eine Decke von der Schulter, die er über sie breitete. Während er sich über sie beugte, schien die Kälte in ihr zu schmelzen – sein Körper war wärmer als ein Ofen. Als er sich zurückzog, bemerkte sie, dass er in der Taille nach der Seite einknickte. Unwillkürlich streckte sie die Hand aus und ertastete unter dem Hemd den rauhen Stoff. Er wich ihr aus.

»Willst du essen?« In dem Korb lagen mehrere gerollte Tortillas und ein rötlicher Laib Käse. Von dem Anblick grollte ihr Magen, aber das andere ließ sie nicht los.

»Bist du verwundet, Benito?«

Über sein Gesicht glitt ein Zucken. Einen Herzschlag lang hielt er völlig still, als würde er auf etwas lauschen, von dem er sich keinen Ton entgehen lassen wollte. Auf einmal bemerkte sie auch das andere. Die Schatten um seine Augen, die Erschöpfung, das Zittern der Hände. Und dann fiel ihr etwas ein, das doch jetzt, in dieser Verworrenheit, nutzlos war. Ausgerechnet in diesem Moment wurde ihr klar, warum er drei Wochen lang nicht mit ihr geredet hatte, als er zehn und sie sechs Jahre alt gewesen war. Wie hatte sie zu ihm sagen können, er sehe aus wie ein fremder Junge auf dem Malecon, er sehe aus wie irgendwer, nur weil sie demselben Volk entstammten? Valentin hatte recht – er war unverkennbar.

»Ich habe dich etwas gefragt«, sagte sie und tippte ihm sacht gegen den Arm.

Er fuhr zusammen. Dann schüttelte er den Kopf. »Nein. Ich meine, ja. Ein bisschen. Es ist nicht der Rede wert.«

Katharina setzte sich auf und beugte sich vor. Als er zurückweichen wollte, fuhr sie ihn an: »Halt still.« Ihr war ihr Leben lang in seiner Nähe warm gewesen, aber dies hier hatte damit nichts zu tun. »Du hast Fieber, Benito.«

Er zuckte mit einer Schulter. »Ja, ich fürchte. Aber bis morgen ist es weg.«

»Wirklich?« Ihr Herz, das sich gerade erst beruhigt hatte, schlug ihr schon wieder bis hinauf in den Hals.

»Katharina«, sagte er, »ich will, dass du jetzt schläfst, nicht dir neue Sorgen machst. Du bist heute Nacht in Sicherheit, und morgen früh bringe ich dich von hier weg. Wenn ich nicht in der Lage bin, tut es eben mein Cabo, den du vorhin getroffen hast. Er hat mir versichert, er würde für dich von hier bis Veracruz laufen.«

»Wie kannst du das denn?«, brach es aus ihr heraus.

»Was?«

»Wie kannst du das alles für mich tun? Ich habe mich noch nicht einmal bei dir bedankt.«

»Das ist nicht nötig«, sagte er und stand auf. »Du hast mich ja auch um nichts gebeten.«

Doch, das habe ich, dachte sie. Ich habe dich so sehr gebeten, und du hast mich gehört.

»Brauchst du noch etwas? Wenn nicht, würde ich gern gehen.«

»Nein!«, rief sie. »Bitte geh nicht weg.«

An den Tisch gelehnt blieb er stehen und verschränkte die Arme vor der Brust. In ihrem übermüdeten Kopf begann eine Stimme La Paloma zu singen. Wenn eine Taube an dein Fenster kommt, behandle sie zärtlich, denn ich bin es.

»Was hast du dem Mann gesagt?«, fiel ihr ein. »Am Zugang von Santiago de Querétaro. Dem, der mir ins Gesicht geleuchtet hat.«

»Dass du meine Schwester bist, die ich zu ihrem Mann nach Santa María de Cleofás begleite.«

»Aber das sieht man doch, dass ich nicht deine Schwester bin!«, rief sie aus.

»Nein«, sagte er. »So leid es mir für dich tut, man sieht es nicht.«

Oberst López fiel ihr ein, der sie gefragt hatte, in welchem Verwandtschaftsverhältnis sie zu ihm stehe. So viel fiel ihr ein, es fügte sich alles zusammen und ergab doch kein Bild. »Und was ist Santa María de …?«

»Cleofás. Ein Dorf in den Bergen, wo kein Krieg ist. Dorthin bringe ich dich morgen, wenn du dich stark genug fühlst.«

»Aber …«, begann sie und brach ab, weil es zu viele Aber gab.

»Meine Familie lebt dort«, sagte er. »In ihrem Haus kannst du bleiben, bis Frieden ist. Außerdem wartet dort jemand, der dich kennenlernen will und nicht mehr viel Zeit dazu hat. Wenn du hinterher entscheidest, dass du nicht bleiben willst, bringe ich dich, wohin immer du möchtest, einverstanden?«

»Aber der Krieg!«, rief sie. Warum erzählte er ihr nicht, er müsse seine Pflicht tun und für irgendetwas in den Tod gehen? »Musst du denn nicht hier sein und die entscheidende Schlacht ausfechten?«

»Ich denke, vierzigtausend Mann gegen neuntausend kommen spielend ohne mich aus.«

»Und dein … dein Eid?«

»Lass uns jetzt schlafen, ja?« Er klang zu Tode erschöpft. »Das alles ist so schwer zu erklären. Wir versuchen alle nur zu tun, was wir für richtig halten, oder? Dein Valentin und ich auch. Eide schwören gehörte für mich nicht dazu.«

Jäh fühlte Katharina ihren Pulsschlag am Hals, so kräftig, dass sie einen Finger daraufpresste. »Meinst du, du hast keinen Eid auf Juárez geschworen? Aber wurde das denn nicht von dir verlangt?«

Müde schüttelte er den Kopf. »Wir sind nicht so ordentlich wie ihr. Bei uns rutscht immer mal einer durch, und so stehe ich wenigstens nicht mit sich widersprechenden Eiden da.«

Ihre Finger fühlten den Puls am Hals, den Takt ihres Lebens, bei dem er ihr geschworen hatte, Valentin nicht zu töten. Im Kerzenlicht sah sie sein Gesicht, den Schmerz, der sich tief in seine Züge grub. »Benito«, sagte sie und wünschte sich, zu ihm zu laufen und die Arme um seine angespannten Schultern zu schließen, »kannst du heute Nacht bei mir bleiben?«

»Nein«, sagte er, »ich glaube, das kann ich nicht. Gute Nacht, Katharina.«

Ihn gehen zu lassen tat ihrem ganzen Körper weh, aber es war vielleicht der Schmerz, der ihr begreiflich machte, was sie erlebt hatte. Das Alleinsein war erträglich, weil sie sich auf einmal so wenig allein fühlte wie seit ihrem halben Leben nicht. Ich werde das nicht mehr träumen, dachte sie. Vom Malecon. Von Peitschen. Von buckligen Päckchen, schreienden Tauben und von Blut. Nur von Benitos Gesicht. Darüber schlief sie ein.