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»Es lässt sich nun einmal nicht machen, Inga.« Christoph Hartmann stand in der Tür seiner Schlafstube und sah seiner Frau beim Ankleiden zu. Er fand sie noch immer schön, aber davon sagte er ihr schon seit Jahren nichts mehr.

»Und warum nicht?« Sie unterbrach ihre Tätigkeit und drehte sich zu ihm um.

»Weil Marthe und Peter den Platz haben, der uns fehlt«, entgegnete Christoph schärfer als beabsichtigt. »Zudem finde ich es äußerst großherzig von meiner Schwester, dass sie uns allen ein Essen auftischt. Möchtest du das vielleicht an ihrer Stelle tun? Nach einem Jahr wie diesem, wo wir manchmal kaum wissen, was wir den Kindern auf den Tisch stellen sollen?«

Inga entgegnete nichts. Sie wandte sich ab und beschäftigte sich wieder mit den Knöpfen ihres grauen Kleides, die sie einen nach dem anderen schloss. Christoph seufzte. Er wäre gern zu ihr gegangen, hätte ihr den Arm um die Schultern gelegt und ihr gesagt, dass er sie verstand. Irgendwann aber waren solche Gesten zwischen ihnen zum Erliegen gekommen, und ihren Wunsch konnte er nicht erfüllen, so bescheiden er sich ausnahm. Einmal Weihnachten feiern wollte sie – im eigenen Haus und am eigenen Tisch, mit einem Essen, das nicht Marthes Köchin, sondern sie selbst gekocht hatte.

Sie war eine gute Frau. Sie beklagte sich nie und hätte mit dem wenigen vorliebgenommen, das ihr Mann nach der lähmenden Blockade auftreiben konnte. Wäre es nach ihr gegangen, so hätten sie beide sich mit den Zwillingssöhnen Torben und Friedrich und mit der Tochter Josephine zu einem einfachen Mahl gesetzt und ihren Weihnachtsabend in stiller Frömmigkeit verbracht. Christoph war es, der sie Jahr um Jahr beschwor, sie müssten mit allen Verwandten im Haus seines Schwagers feiern, denn in der Fremde sei nichts so bedeutsam wie die Familie und ihr Zusammenhalt.

Natürlich hatte er damit recht. Sie konnten ihren Kindern keine Heimat bieten. Diese Siedlung mit kaum hundert Bewohnern, die an ihrer deutschen Herkunft und Sprache festhielten, die Familie, die füreinander einstand, war alles, was sie besaßen, und ihre Kinder hatten ein Anrecht darauf. Besonders meine Jo, durchfuhr es ihn, und der Gedanke an die Sechsjährige, seine Erstgeborene mit dem feinen Haar und der zärtlichen Stimme, machte ihn ein wenig fröhlicher. Der Hort der Familie würde ihm die Tochter behüten in dieser feindlichen Welt, in der einem morgen geraubt werden konnte, was man heute aufgebaut hatte. Es war gut, dass sie zu Peter und Marthe gingen, heute wie an allen Feiertagen. »Leg doch die Silberkette um«, murmelte er so leise, dass Inga es schwerlich hören würde. »Die mag ich gern an dir.« Damit verließ er das Schlafzimmer, ging hinüber in die Schreibstube und stellte sich ans Fenster, um hinaus in die Heilige Nacht zu starren.

War sie denn nicht heilig? In der Fremde nicht weniger als in der Heimat, auch wenn kein Schneegestöber, sondern Wärme und Blütenduft sie erfüllten – war es nicht auch hier eine Nacht, die Wunder wirken konnte?

Christoph Hartmann war in der Hansestadt Hamburg zur Welt gekommen und hatte als einziger Sohn eines Kaufmanns geglaubt, sich um die Zukunft nicht sorgen zu müssen. In Wahrheit war dem Handelshaus Hartmann bereits während der Handelskrise von 1799 ein schwerer Schlag versetzt worden, und 1810, im Jahr von Christophs Geburt, hatte es den eigentlichen Todesstoß erhalten. Damals hatte Napoleon seine Kontinentalsperre gegen Großbritannien verhängt, und Männer wie die Brüder Torben und Sievert Hartmann, die auf Kolonialwaren angewiesen waren, erlitten Verluste, von denen sie sich nicht mehr erholten. Während aber Sievert entschlossen nach einem Ausweg suchte, lebte Christophs Vater weiter wie bisher, gab Geld aus, das er nicht besaß, und wiegte seine Kinder in Sicherheit.

Als Mexiko 1821 die Unabhängigkeit von Spanien errang und dem internationalen Handel seine Pforten öffnete, reifte in Sievert der Plan, das nahezu bankrotte Unternehmen in die Neue Welt zu verlegen und mit seiner Familie nach Mexiko auszuwandern. Sievert hatte den Reisebericht Alexander von Humboldts gelesen, der von fruchtbarer Erde und unermesslichen Bodenschätzen schwärmte, und sein Entschluss stand fest. Wenige Jahre später ging er in Liverpool an Bord und ließ die Heimat hinter sich. Natürlich wollte er zurückkehren. All die Menschen, die in der Siedlung lebten, wollten zurückkehren. Sie sprachen davon wie von der Regenzeit, von der sie zwar nie genau wussten, wann sie anbrach, von der sie aber sicher waren, dass sie kam.

Sievert war nicht zurückgekehrt. Er lag in Veracruz begraben. Der Abschluss der Handelsverträge, die die Hansestädte mit Mexiko abzuschließen hofften und die den Kaufleuten Schutz gewähren sollten, wurde wieder und wieder hinausgezögert, und das von Kämpfen zerrissene Land nahm mehr, als es geben konnte. Sievert Hartmann hatte ums Überleben seiner Familie ringen müssen. Die Mittel, die zur Rückkehr nötig waren, hätte er nie und nimmer aufgebracht.

Werden wir zurückkehren? Noch immer stand Christoph reglos am Fenster und sah hinaus in die Schatten der Nacht. Etwas in ihm glaubte zu wissen, dass sie nie zurückkehren würden, dass all die Geschichten von der Heimat dem inhaltslosen Gesäusel glichen, mit dem man Kinder tröstete. Dieses Land war ihr Schicksal geworden. Die jungen Leute, die im April des Jahres 1831 die Vertrautheit Europas verlassen hatten, existierten nicht mehr.

Christophs Vater war aus seiner Scheinwelt erst aufgeschreckt, als es zu spät war – das Erbe des Sohnes verloren, die Mitgift der Töchter verspielt. In seiner Not hatte er nach dem letzten Strohhalm gegriffen und sich des Bruders in der Ferne erinnert. War Mexiko nicht das fruchtbare Land des ewigen Frühlings, in dem die Berge im Sonnenlicht glänzten, weil so viel Silber sich darin verbarg? Gewiss war doch Sievert längst ein gemachter Mann, der, obwohl er selbst zwei Söhne hatte, einen Neffen im Geschäft gut brauchen konnte. Zudem hieß es allenthalben, die Scharen der Auswanderer, die ihr Glück gemacht hatten, sehnten sich nach Frauen, um ihren Wohlstand mit ihnen zu teilen.

Torben Hartmann nutzte den letzten Kredit, den man ihm gab, und kaufte seinen Kindern Schiffspassagen. Onkel Sievert werde alles richten, versprach er ihnen zum Abschied, er werde Christoph eine angemessene Stellung und Marthe und Vera Ehemänner verschaffen, sie brauchten sich um nichts zu sorgen. Dass es anders gekommen war, dass der deutsche Bergwerksverein, in den Sievert investiert hatte, vor dem Konkurs stand und der Onkel kämpfen musste, um seinen Söhnen und ihren frisch gegründeten Familien das Nötigste zu verschaffen, hatte der Vater vermutlich nicht gewusst. Christoph seufzte und öffnete das Fenster, obwohl Marthe ständig davor warnte. Die zu schwere, zu warme Luft trug eine Seuche in sich, die die Spanier Schwarze Kotzerei nannten, weil der Erkrankte sich pechschwarz erbrach, bis kein Funken Kraft mehr in ihm war und er elend starb. Auch davon hatte der Vater gewiss nichts gewusst. Wie mochte es ihm gehen? Stand er in Hamburg an einem Fenster und atmete die eisklare Luft, die ihm der Seewind hereintrug? Christoph hatte ihm nie geschrieben und auch nie einen Brief erhalten.

Hatte er an das Paradies unter Zypressen, das der Vater ihm versprach, an die riesigen Märkte, die in Mexiko auf ausländische Waren warteten, geglaubt? Vermutlich hatte er es getan, hatte sich an der Hoffnung festgehalten und die sonnendurchfluteten Bilder beschworen, noch als sich ihr Schiffsplatz als Koje auf dem Zwischendeck entpuppte und er sich das erste Mal Flöhe und Krätze zuzog. Es war Marthe, die nie daran geglaubt hatte, auch wenn sie nicht hatte wissen können, dass das Schiff sie in ein Land trug, das sich in ständigen Kriegen und Aufständen zerfleischte und Auslandsschulden aufhäufte, die es niemals würde zurückzahlen können.

Ihr Paradies unter Zypressen war keine Hölle, dazu war seine seltsame, bittere Schönheit zu begehrenswert. Aber es erwies sich als ein Fegefeuer, in dem jeder, der nicht aus feuerfestem Stahl war, verglühte. Weder Christoph noch seine Schwester Vera waren aus feuerfestem Stahl gewesen.

Ein Geräusch ließ ihn herumfahren. »Bist du fertig? Holst du die Kinder? Ich richte rasch Blumen für deine Schwester.« Inga hatte den Kopf in den Türspalt gesteckt und zog ihn schon wieder zurück.

Christoph blies die Kerze aus und ging hinüber zur Kinderstube. Eine Zeitlang hatten sie ein Mädchen für die Kinder gehabt, doch nach dem Kuchenkrieg hatten sie es entlassen müssen. Daher war Josephine angewiesen worden, auf ihre wilden Zwillingsbrüder achtzugeben, und Christoph war überzeugt, dass sie diese Aufgabe hervorragend meisterte. Seine Kleine war zart wie ein Kind von fünf Jahren, jedoch vernünftig wie eines von zehn. So beschwerlich Christoph den Umgang mit seinen Söhnen und Neffen fand, so erfreulich fand er ihn mit seiner sanften Tochter und seinem Patentöchterchen, dem Irrwisch Katharina.

Er zog die Tür der Kinderstube auf, und Jubel schlug ihm entgegen. »Ist es so weit? Gehen wir zur Bescherung?« Die beiden Jungen, die sich vor Aufregung kaum zu halten wussten, stürzten ihm entgegen, und hinter ihnen stand mit ihrem ruhigen Lächeln Josephine. Im Handumdrehen hellte seine Stimmung sich auf. Mit welchem Recht blies er Trübsal, hatten sie nicht schon vieles erreicht? Seit Peter Lutenburg in die Familie eingeheiratet und sowohl Christoph als auch seinem Vetter Fiete unter die Arme gegriffen hatte, war es aufwärtsgegangen – und mit Fleiß und Zähigkeit würde es weiter aufwärtsgehen.

Auch wenn die ständigen Kämpfe und Revolten zermürbten, auch wenn sie derzeit wieder jeden Peso dreimal wenden mussten – besaßen sie nicht ihr eigenes Haus und Geschäft, waren ihre Kinder nicht so gut geraten wie Hamburger Kinder, würden sie bei Peter und Marthe nicht Gans mit Grünkohl essen und um eine Bergtanne sitzen wie in der Heimat um die duftende Fichte?

Man muss auch einmal vergessen können, gebot er sich. Einen Strich ziehen und ruhen lassen, was nicht mehr zu ändern ist. »Ja, es ist so weit«, gab er mit betonter Munterkeit seinen Söhnen Antwort. »Auf die braven Kinder wartet die Bescherung, doch den schlechten, denen wird es übel ergehen …« Dabei lachte er, um seinen Kindern zu zeigen, dass sie nichts zu fürchten hatten.

 

»In diesem Liverpool sind wir also an Bord gegangen, auf einen Windjammer, der bei der kleinsten Welle quietschte und knatterte.« Fiete Hartmann strahlte beifallheischend in die Runde, ehe er Atem holte und weitersprach. »Unsere Königinmutter behauptete steif und fest, sie halte es keine zwei Stunden aus, doch was meint ihr wohl, wie lange es gedauert hat, bis wir wieder festen Boden unter den Füßen hatten? Na? Wie lange hat es gedauert?«

Jemand stöhnte. Christoph wandte den Kopf und sah, dass es Traude war, die die Geschichten ihres Schwagers vermutlich noch häufiger gehört hatte als alle Übrigen. Seine Mutter Hille thronte in der Tat wie eine Königinmutter im Sessel und sah mit verächtlicher Miene zur Seite, als würde dieser Sohn nicht zu ihr gehören. Es war immer dasselbe mit Fiete. Er erzählte seine ewig gleichen Anekdoten und Histörchen, sobald er das erste Glas Alkohol geleert hatte. Es war, als würde ein Pfropfen in dem Mann stecken, und sobald der gezogen war, sprudelte eine Fontäne heraus. Von den Erwachsenen hörte keiner zu, aber die Kinder, die inmitten von Spielzeug und Naschwerk zu Fietes Füßen saßen, hatten ihren Spaß. Christoph wusste, dass Katharina Fiete den lustigen Onkel und ihn den traurigen nannte.

Sie war ihm entgegengesprungen und hatte schon auf der Treppe gerufen: »Frohe Weihnacht, trauriger Onkel Christoph! Weißt du was? Die Sanne und ich haben den Kuchenmännern Lachgesichter gemalt, damit du heute nicht traurig bist.« Christoph musste schmunzeln, als er nach den Kuchenmännern sah, die zwischen Kerzen an der deckenhohen Tanne baumelten. Die Wärme der Flammen ließ den Sirup tropfen, so dass die Teiggesellen mit ihren hängenden Mundwinkeln einem traurigen Onkel Christoph ähnlicher sahen als einem lustigen Onkel Fiete.

Dabei war er doch heute gar nicht traurig. Er hatte sich vorgenommen, den Abend zu genießen, die Nähe seiner Familie, den Lichterglanz des Baums und die Uhr, die auf dem Kaminsims stand und, sooft sie jemand aufzog, »Ich steh an deiner Krippen hier« spielte. Marthe hatte sie sich aus der Heimat schicken lassen, um der Familie eine Spur vom Geist der Weihnacht herzuholen. Die Uhr sollte als Ersatz für Kirchenglocken und Andacht dienen, denn protestantische Gottesdienste gab es nicht in Mexiko. Genau genommen war die Ausübung ihrer Religion sogar verboten, doch niemand kümmerte sich darum, nach welcher Vorschrift Ausländer beteten.

Marthe konnte keinen Gottesdienst abhalten, aber sie hatte doch alles getan, um für diesen einen Abend die Heimat heraufzubeschwören. Die Kinder waren eins nach dem anderen mit einem silbernen Glöckchen zum Baum gerufen worden, sie hatten in ordentlichem Deutsch ein Verslein aufgesagt und dafür ihr Geschenk erhalten. Anschließend war ein Essen aufgetischt worden, das duftete, als läge draußen kniehoch Schnee und als würde das Meer in einem Wintersturm toben.

Christoph hatte sich bemüht, sich den Gänsebraten schmecken zu lassen, und von dem goldenen Rheinwein erhoffte er sich ein wenig Leichtigkeit. Vergessen können, einen Strich ziehen und ruhen lassen, was nicht mehr zu ändern ist. Einmal kein trauriger Onkel sein.

Der lustige Onkel trieb sein Spiel mit den Kindern. »Nein, nicht du, Hermann, nicht immer der mit dem vorlautesten Mundwerk. Du, Josephine, von dir will ich diesmal die Antwort hören. Also, wie lange waren wir wohl auf See?«

Im Licht der Kerzen sah Christoph, wie seine Tochter bis unter die weißblonden Haarwurzeln errötete. Sie war schüchtern wie ein Fluchttier, und weder Ermunterung noch Strenge halfen.

»Ich höre nichts, liebe Jo!«, flötete Fiete und legte sich die Hand ans Ohr. »Nichts und wieder nichts!« Seine älteren Söhne – Hermann und Sievert – lachten, und Felix, der Jüngste, blickte von der Schachtel mit Farbstiften, die er einem der Mädchen entwendet hatte, auf. Die arme Josephine wurde noch röter, und Christoph verspürte den brennenden Wunsch, ihr zu Hilfe zu eilen.

»Lass doch Jo in Frieden, Onkel Fiete!« Katharina, die im selben Alter, aber alles andere als schüchtern war, trat zu ihr und legte ihr den Arm um die Schultern. »Sechs Wochen wart ihr auf See, und unterwegs sind euch von der Hitze die Bierflaschen geplatzt, das erzählst du uns doch jedes Mal. Weshalb soll also Jo es dir sagen?«

Alles lachte, selbst die meisten Erwachsenen. »Nicht von schlechten Eltern, die Krabbe«, brummte Hille Hartmann. Von der Königinmutter war das ein beachtliches Kompliment.

Einzig Traude fand nichts zu lachen. »An Zucht fehlt’s dem Balg«, hörte Christoph sie hinter sich murmeln. »Mit Geschenken wird sie überhäuft wie ein Engelchen, dabei bekämen Prügel ihr weit besser.«

Christoph wollte für Kathi in die Bresche springen, versagte aber, wie er bei seiner Tochter versagt hatte. Stattdessen sprach Peter, ein Mann, der so ruhig war, dass man jedes Mal erschrak, wenn er die Stimme hob. »Meine Palomita ist ein Engelchen«, hielt er fest. »Sie ist das Licht in meinem Haus, und an Geschenken bekommt sie, was sie sich wünscht.«

»Glaubst du, du tust dem Kind damit Gutes?«, fauchte Traude.

»Aber ja doch«, erwiderte Peter. »Und du schimpfst mein Kind nie wieder ein Balg, oder du bist unter meinem Dach nicht mehr Gast.«

Mit einem Schlag wich die Farbe aus Traudes Gesicht. Jetzt bricht sie den Pakt, durchfuhr es Christoph. Den Pakt, der uns aneinanderschmiedet wie mit Ketten – und was geschieht mit uns, wenn sie zerreißen?

»Du musst wissen, was du tust.« Ihre Stimme war kaum mehr als ein Zischen. »Aber bürde nicht eines Tages uns die Folgen auf, wenn aus dem Kind geworden ist, was in ihm gärt.«

Ein paar Augenblicke lang herrschte so völliges Schweigen, dass Christoph glaubte, ein jeder müsse das Hämmern seines Herzens hören. Dann erhob sich ein wenig schwankend Fiete vom Stuhl. »Nennt ihr das Weihnacht?«, fragte er. »Herumhocken und über Albernheiten streiten? Kommt, Kinder, besser der alte Onkel Fiete erzählt euch noch eine Geschichte.« Nie war Christoph der geschwätzige Vetter so lieb gewesen – zumindest bis er anhob, die Geschichte zu erzählen. »Passt auf, hier habt ihr eine, die euch das Gruseln lehrt. Gewiss hat doch jeder von euch schon einmal des Nachts das Geheul gehört, das hier durch die Gassen weht, und gewiss habt ihr euch gewundert, wer das wohl ist, der da umherzieht und so zum Steinerweichen heult. Vielleicht habt ihr ja eure Eltern gefragt, aber die sind zu sehr mit ihrem Gezänk beschäftigt, um euch Antwort zu geben. Also werde ich es euch sagen. La Llorona ist es, die nächtens um unsere Häuser streift, die weinende Frau, die um ihre verstorbenen Kindchen bittere Tränen vergießt und niemals Ruhe findet.«

La Llorona, die Verräterin aus Liebe. Dass sie um die Häuser ihrer Siedlung strich und bitterlich weinte, hatte Christoph tatsächlich nie verwundert. So wenig, wie ihn die Taube wunderte, die damals gegen ihr Fenster geflattert war und Marthe einen Todesschrecken versetzt hatte.

»Jetzt reicht es.« Mit einem Satz sprang Marthe auf. In ihrem dunklen Kleid, die Hände in die Hüften gestemmt, sah sie aus wie das Inbild des Zorns. »Findest du das taktvoll? In meinem Haus von gestorbenen Kindchen zu reden, und das in der Heiligen Nacht?«

»Gemach, gemach! Von kleinen Jungen, die an Seuchen sterben, ist doch keine Rede.« Beschwichtigend hob Fiete die Hände und machte damit alles nur noch schlimmer. Marthes kleiner Sohn Hannes, der mit kaum drei Monaten gestorben war, wurde niemals erwähnt. Marthe wollte es so, und die Übrigen respektierten ihren Wunsch. Lasst ihr doch endlich Frieden, dachte Christoph, der den Blick nicht vom erstarrten Gesicht seiner Schwester wenden konnte. Hatte Marthe nicht genug gelitten? Wieder fiel ihm der Abend mit der Taube ein. So vor Entsetzen starr hatte sie auch damals ausgesehen. Es war, als wäre der Schrecken jener Augenblicke niemals ganz gewichen. Marthe hatte es schwerer als sie alle, obwohl sie keine Sorge um Geld kannte. Nach Hannes’ Tod war ihr kein Kind mehr geschenkt worden, und um Katharina, ihren Augapfel, lebte sie in ständiger Furcht.

»Keine Mutter, der ihr Kindchen traurig gestorben ist, hat Grund, nachts ruhelos um die Häuser zu streichen«, fuhr Fiete zu allem Unglück fort. »Ich erzähle euch von einer anderen Mutter, von der Llorona, der Heulenden, die ihren Kindchen mit eigenen Händen das Leben nahm. Ertränkt hat sie sie – und wisst ihr auch, warum? Weil ein Feind ihres Volkes ihr Vater war! Die schuldlosen Kindchen mussten für ihre Sünde bezahlen, und für diese Untat findet sie bis heute keine Ruhe. Das braune Indianervolk nennt sie auch La Malinche. Sie war die Mätresse des Eroberers Cortez, die ihr Land verraten und den Feinden ausgeliefert hat.«

Wieder verfiel der Raum in Schweigen, als würden selbst die Kinder spüren, dass etwas gesagt worden war, das ungesagt hätte bleiben müssen. Leise schnorchelnde Geräusche verrieten, dass Hille eingeschlafen war – die glückliche Königinmutter, deren umnebelter Verstand sie beschützte. Marthe stand totenbleich beim Kamin und strich immer wieder über die singende Weihnachtsuhr, eine mechanische Liebkosung, die geradezu irre anmutete. Peter, der ihr hätte beistehen sollen, saß daneben wie ein Fremder.

Endlich stand Fietes Frau Dörte auf, trat hinter ihren Mann und legte ihm die Hände auf die Schultern. »Jetzt lass es mal gut sein, Fietchen. Du hast beim Wein ein bisschen reichlich zugelangt, und deine Geschichten werden eher unfein.«

»Meine Geschichten werden unfein?« Fiete fuhr herum. »Ja, dann soll doch einer von euch eine feinere erzählen! Aber das tut ja keiner, das bleibt an dem dummen Fiete hängen, und hinterher ist es dann nicht einmal recht.« Begütigend klopfte Dörte ihm die Schulter, doch Fiete ging darauf nicht ein. »Du zum Beispiel«, wandte er sich an Christoph, »warum erzählst du nicht einen Schwank von eurer Reise? Von eurer Entführung zum Beispiel. Ich bin sicher, daran hätte die kleine Schar hier ihren Spaß.«

Fietes fünf Kinder, auf die er über alle Maßen stolz war, drehten wie auf ein Zeichen die Köpfe, und die Übrigen – Traudes Sohn und Tochter, Christophs Dreigespann und Katharina – taten es ihnen nach. Glaubten sie ernsthaft, ausgerechnet er würde einen Weg finden, die verfahrene Lage zu retten?

»Ich wünsche, dass das hier ein Ende hat«, sagte Marthe, die noch immer die Uhr streichelte. »Wer von diesen Dingen nicht schweigen kann, verlässt mein Haus. Wir Übrigen werden jetzt ein Weihnachtslied singen.« Ohne ein weiteres Wort ging sie zum Stutzflügel, den die Lutenburgs aus der Heimat mitgebracht hatten, klappte den Deckel hoch und begann »Es ist ein Ros’ entsprungen« zu spielen. Sie hatte schon immer miserabel Klavier gespielt, aber für die schlichte Melodie genügte es. Nach und nach fielen die Stimmen ein, die vom Wein aufgerauten, die zittrigen und die kindlich hohen, nur von Christoph kam kein Ton.

Irgendwann spürte er eine Berührung am Arm. Neben ihm stand Katharina. »Magst du nicht singen, trauriger Onkel Christoph?« Ehe er auf eine Antwort sinnen konnte, fuhr der Irrwisch, der sonst so gerne sang, fort: »Ich mag heute auch nicht. Ich sitze lieber still bei dir.«