7

In dem Raum, den Tante Traude ihren Saal nannte, der in Wirklichkeit aber nicht mehr als ein Salon war, standen sämtliche Sitzgelegenheiten des Hauses. Die Sessel, Stühle und Schemel reihten sich an allen Wänden. Die übrigen Möbel, bis auf das Klavier, einen Tisch, der mit Eiskübeln und Gläsern als Bar diente, und einen schütteren Weihnachtsbaum, waren hinausgetragen worden, so dass in der Mitte Platz zum Tanzen entstand. Zu Abend gegessen hatten die Gäste im Speisezimmer, wo es noch enger war, und anschließend hatten sie ihre Stühle wieder hierher zurückgetragen und sie in den Kreis gestellt.

Ein lustiges Fest, fand Katharina. Ihr Vetter Torben hatte, während sie alle mit den Stühlen durch den Flur marschiert waren, seinem Zwillingsbruder Friedrich zugeflüstert: »Wir machen einen Stuhlgang.« Seitdem gingen durch die gesamte Kinderhorde immer wieder Wellen von Gekicher.

Die gesamte Kinderhorde. Obwohl sie bis auf Torben, Friedrich und Felix keine Kinder mehr waren, wurden sie noch immer wie solche behandelt. Sie bekamen beim Essen ihren eigenen Tisch, an dem zum Nachtisch Fruchtsülze mit Rahm serviert wurde, und hatten im Tanzsaal ihre abgeteilte Ecke, die Onkel Fiete die Kinderecke nannte. Katharina, die zwischen ihren Schenkeln die Leinentücher spürte, wollte sich darüber ärgern, aber sie liebte Fruchtsülze, und wenn sie ehrlich war, machte es Spaß, bei den Vettern und Basen zu sitzen statt bei den Erwachsenen, die in ewig gleicher Weise über Politik schwadronierten.

Sie konnte sie förmlich hören.

»Geht es uns nicht bestens?«, würde Onkel Fiete ausrufen, »haben die Hanseaten in diesen Verhandlungen nicht bewiesen, dass sie wer sind in der Welt? Wen haben wir jetzt noch zu fürchten?«

Und Onkel Christoph würde vorsichtig einwenden, man habe immerhin die Nordamerikaner zu fürchten, und sei es nicht unklug von der mexikanischen Regierung gewesen, so viele von ihnen zum Siedeln in das dünnbevölkerte Grenzland einzuladen? Stünden nicht sogar amerikanische Truppen bereits am Rio Grande, um den Einmarsch vorzubereiten?

»Du alte Unke«, würde Fiete ihm ins Wort fallen, ihm auf den Rücken klatschen und sein Glas erheben. »Die Amerikaner haben sich Texas geschnappt, das lässt sich nicht leugnen, aber jetzt haben sie genug damit zu tun, sich mit den Briten um Oregon zu streiten.« Und zu alldem würde Tante Hille auf ihrem Thron vor sich hin knurren: »Ich habe nicht den dunkelsten Schimmer, wovon diese Kindsköpfe schwatzen. Viel ärger ist aber, dass sie selbst keinen haben.«

Daraufhin würde Fiete seiner Mutter wie einem Trinkkumpan in die Seite boxen und zu einer seiner Geschichten überleiten, bei denen die Übrigen vor sich hin dämmerten.

Nein, da war es hier in der »Kinderecke« interessanter, auch wenn Jo, die zu ihrer Linken saß, wie ein missratener Käsekuchen in sich zusammensank. Aufmunternd sandte Katharina ihr ein Lächeln. »Entspann dich, Jo. Niemand will dich fressen.«

Dankbar lächelte Josephine zurück. »Ich komme mir vor wie das Dienstmädchen, das aus Versehen auf das Fest der Herrschaft geraten ist.«

»So siehst du auch aus«, erwiderte Katharina ehrlich. »Musst du auf diesem Stuhl lungern, als hätte dich jemand bestellt, aber nicht abgeholt? Du bist auf dem Fest deiner Tante, du bist nicht nur eingeladen, sondern ein Ehrengast.«

»Wieso soll ich denn ein Ehrengast sein?«, fragte Jo kleinlaut, während Katharina ihr das Halstuch zurechtzupfte. Nach Art einer Schildkröte zog sie den Kopf zwischen die Schultern.

»Mein Vater sagt das vor jedem Anlass«, erwiderte Katharina unbekümmert und zupfte weiter. »Wer meine Tochter nicht wie seinen Ehrengast behandelt, der ist’s nicht wert, dass sie ihn besucht.«

Josephine musste lachen. »Ja, das kann ich mir vorstellen. Aber du und ich, das sind zwei verschiedene Schuhe. Die Söhne des Konsuls verdrehen ja jetzt schon die Köpfe nach dir.«

Katharina reckte sich und blickte nach der Kopfseite des Saals, wo neben dem Weihnachtsbaum die Familie des frischgebackenen Konsuls von Veracruz plaziert war. Der Mann, der ein langes Pferdegesicht hatte, umrahmt von einem weißen Backenbart, hieß Andreas Eyck, und seine beiden Söhne sahen aus wie straffere, blondere Abbilder seiner selbst, der eine rotwangig und der andere käsig. Die Hartmann-Lutenburg’sche Kinderschar war an den Gästen vorbeiparadiert und von Traude in aller Form vorgestellt worden. Auch wurde noch eine weitere illustre Familie erwartet, ein Handelsagent aus Mexiko-Stadt, der mit der Konsulsgattin verwandt war und sowohl fabelhaft reich als auch von Adel sein sollte. »Wenn der Herr von Schweinitz eintrifft, erwarte ich euch an der Tür«, hatte Traude den Kindern zugezischt.

Katharina hatte dem Gezische zum Trotz nicht aufgepasst, sondern sich mehr für den Mann interessiert, der im Winkel neben dem Klavier ein kompliziertes spinnenbeiniges Gerät aufbaute. Auch jetzt war er noch damit beschäftigt, aber Katharina wusste inzwischen, worum es sich handelte: Es war ein Stativ. Und obenauf geschraubt saß wahrhaftig eine Voigtländer, ein Apparat, der ein Bild vom Leben einfing und es für immer festhielt.

Helene, die zu ihrer Rechten saß, hatte es ihr mit lautstarker Empörung erzählt. »Meine Mutter hat sich mächtig ins Zeug gelegt, was? Nicht nur einen Pianisten hat sie bestellt, als bekäme keiner von uns ein paar Tanzweisen geklimpert, nein, es musste unbedingt auch noch ein Daguerreotypist her.«

»Ein was?«

Helene lächelte hämisch. »Tja, da staunst du. Manches weiß eben selbst Fräulein Neunmalschlau nicht. Der Daguerreotypist ist der Mann mit dem Kasten auf Stelzen, und der Kasten ist eine Voigtländer-Kamera. Er hat eine Platte darin, die hält das Engelsgesicht von Mutters Liebling für die Ewigkeit fest. Weißt du, was Mutter dazu gesagt hat? ›Ich kann mich doch nicht lumpen lassen‹, hat sie gesagt. ›Wenn mein Stefan heimkommt, wird an nichts gespart, denn ohne meinen Stefan war es doch gar kein Weihnachten mehr.‹ Ja, du hast richtig gehört. Als wäre der Stefan ihr einziges Kind, jedenfalls das einzige, das bei ihr etwas zählt.«

Helene hatte so laut gesprochen, dass ihre Mutter sie hören musste, aber die beachtete sie nicht, sondern starrte wie gebannt auf die Tür. Arme Helene! Mit Katharina erging es ihr kaum besser, denn sosehr sie sich bemühte, zuzuhören, konnte sie die Augen nicht von dem Fotografen wenden.

Vermochte er das tatsächlich, einen Menschen, der sich bewegte, atmete, redete, in seinem Kasten zu fangen, so dass andere Menschen ihn betrachten konnten, wenn er sich nicht mehr bewegte, ja, wenn er gar nicht mehr da war? Ihre Mutter hatte sie zweimal zeichnen lassen, aber das war nicht dasselbe, denn die fertigen Bilder hatten ihr kaum ähnlich gesehen. Offenbar hatten sie auch der Mutter nicht gefallen, denn sie hatte sie nie aufgehängt.

Auf dem Bild des Daguerreotypisten hingegen sollte jedes Detail genau wie im Leben geraten. Katharina wünschte, sie hätte hinüberlaufen und einen Blick in den Zauberkasten werfen dürfen. Stattdessen musste sie in ihrem bauschigen Ungetüm von Kleid abwarten, dass überhaupt etwas geschah.

Auf den Tanz allerdings freute sie sich. Sie tanzte für ihr Leben gern. Die Mutter hatte ihr geraten, sich wegen des Frauenübels zurückzuhalten. »Am besten tanzt du nur, wenn jemand von Bedeutung dich bittet, allen anderen sagst du, du bist indisponiert.«

Zum Glück hatte die Mutter ihr jedoch nicht erklärt, woran sie erkannte, ob jemand von Bedeutung war oder nicht.

»He, Traumtänzerin, hast du überhaupt gehört, was ich gesagt habe?« Sachte stieß Jo ihr den Ellbogen in die Rippen. »Der ältere Sohn des Konsuls hat schon Stielaugen. Aber du siehst aus, als gefiele dir der Graubart mit dem Apparatus besser.«

»Nicht der Graubart«, verbesserte Katharina, »der Apparatus.« Schuldbewusst wandte sie sich wieder Jo zu. »Ich wünschte, ich dürfte nachher zuschauen, wenn er ein Bild von Stefan macht.«

»Und ich wette, du darfst es. Wenn du deinen Vater becirct, wird der schon einen Weg finden. Kathi Lutenburg bekommt alles, was sie will.« Jo lachte. Dann senkte sie die Stimme. »Ich würde dir gern etwas erzählen. Ich habe jemanden kennengelernt.«

Das ließ Katharina aufhorchen. Vom Kennenlernen erzählten sonst nur Luise und Jette, die überzeugt davon waren, dass demnächst ein Prinz oder wenigstens ein Hamburger Großkaufmann sie vom Fleck weg heiraten würde. »Wo denn, Jo?«, fragte sie verblüfft. Die Base saß doch den lieben langen Tag in ihrer Kammer, umhäkelte Taschentücher oder bespielte das Cembalo, das Katharina ihr endlich hatte übereignen dürfen.

»Nicht, was du denkst.« Jo schüttelte den Kopf. »Keinen Mann, sondern eine Dame, die bei Doktor Messerschmidt zu Gast war.«

Weiter kam sie nicht, denn in diesem Augenblick sprang Luise, die in ihrem gelben Kleid wie eine fest gestopfte Wurst aussah, vom Stuhl. »Da kommt er«, jubelte sie. »Unser Heimkehrer ist da!«

Traude sprang ebenfalls auf und begann zu applaudieren, und gleich darauf stand die ganze Gesellschaft und klatschte in die Hände, derweil Stefan sich wie ein begossener Pudel in die Tür schlich. Eine Woge von Mitleid erfasste Katharina. Einer wie Hermann hätte solchen Auftritt genossen, aber Stefan war anzusehen, dass er am liebsten im Boden versunken wäre. Er hatte sich nach der Reise umgezogen, trug einen gutgeschnittenen Gehrock, hatte jedoch vergessen, sich das Haar zu kämmen. Dass Mädchen ihn hübsch fanden, schien Stefan nicht zu kümmern. Er saß am liebsten über seinen Büchern und stopfte sich den Kopf mit Wissen voll. Katharina fiel auf, dass sie seine bedächtige Art vermisst hatte und dass er ihr von ihren Vettern der liebste war.

»Willkommen, Stefan!«, rief sie, rannte quer durch den Saal und fiel ihm um den Hals. »Komm, ich schleif dich hinüber in unsere Ecke, da kannst du verschnaufen, ehe die Meute sich auf dich stürzt. Nachher kommt ja dann auch der Daguerreotypist oder wie der heißt und macht ein Bild für alle Ewigkeit von dir …«

Stefan lachte, hob sie ein Stück vom Boden hoch, setzte sie aber sofort wieder ab, als er ihr Gewicht spürte. »Gott im Himmel, Kathi Grashüpfer, bist das wirklich du?«

»Sag nicht, ich bin eine Dame geworden.«

»Und weshalb nicht?«

»Du bist doch wohl nicht zwei Jahre lang auf die Schule für Kluge gegangen, um nachzuplappern, was jeder Dummkopf sagt.«

Wieder lachte er. »Du bist eindeutig keine Dame geworden. Du siehst höchstens wie eine aus.«

Ein wenig bemüht stimmte sie in sein Lachen ein. Sie war froh, ihn wiederzuhaben, einen Kameraden, der mit ihr plänkelte und lachte, und doch flammte mitten in der Freude ein Schmerz auf. Stefan war nett, sie kannte ihn ihr ganzes Leben, aber sich zu Hause fühlen, wie sie es einmal bei einem Menschen getan hatte, konnte sie auch bei ihm nicht.

»Etwas nicht in Ordnung, Hüpfer?«

Sie sah zu ihm auf und schüttelte den Kopf. Dies war sein Tag, den wollte sie ihm nicht durch Trübsinn verderben. Zudem hätte sie auch keine Gelegenheit erhalten, denn im nächsten Moment zerrte Tante Traude ihn am Arm von ihr weg. »Und das, lieber Herr von Eyck, ist nun endlich mein Sohn, von dem ich Ihnen erzählt habe.«

Der Konsul räusperte sich und wies darauf hin, dass sein Name kein »von« enthalte, aber Traude ging darauf nicht ein, sondern schob Stefan vor ihn hin. Der warf Katharina noch einen bedauernden Blick zu, dann schluckte ihn die Menge. Alle Basen wollten ihn begrüßen, und ausgerechnet Jette, die sonst immer die Nase vorn hatte, wurde abgedrängt. Sie taumelte, stürzte sich dann aber gleich wieder ins Getümmel, vermutlich eher, um den Söhnen des Konsuls nahe zu sein, als um Stefan willkommen zu heißen. Wie ihre Schwester trug sie ein zweiteiliges Kleid, das wirkte, als wäre der Stoff knapp gewesen, nur war das ihre pfirsichfarben. Jette liebte gezuckerte Heißwecken, und die Schleife auf ihrem Hinterteil spannte so bedenklich, dass Katharina Angst bekam, die ganze Pracht werde ratschend platzen.

Die Musiker trafen ein, ein Pianist, ein Geiger und ein Mann mit einem der neuen Akkordeons, dessen schmelzende Klänge Katharina hinreißend fand. Von irgendwoher holte Onkel Fiete eine Kiste und stieg wie ein Volksredner darauf. »Meiner lieben Schwägerin Traude sei Dank – dies ist ein erlesenes Ereignis, und wir wollen uns von Herzen vergnügen«, rief er in die Menge. »Vor allem das Jungvolk soll tanzen, was die Beine hergeben, so hübsch wie heute kommt ihr nicht wieder zusammen. Und was geschieht, wenn das Fest vorüber und das Licht erloschen ist, brauche ich euch ja nicht zu erzählen …«

»Nein!«, rief Hermann. »Erspar’s uns, Vater.« Alle lachten. Gewiss hatte der arme Onkel wieder eine seiner Geschichten von La Llorona erzählen wollen, obwohl keins der Kinder mehr klein genug war, um sich dabei zu gruseln. Die ersten Paare formierten sich zur Polka. Luise strahlte vor Stolz mit dem Christbaum um die Wette, denn sie hatte sich den totenbleichen jüngeren Sohn des Konsuls geangelt. Katharina erwartete, die pfirsichfarbene Jette in den Armen des älteren zu entdecken, doch stattdessen wuchs dieser vor ihr aus dem Boden. »Ich darf bitten?« Beim Lächeln entblößte er eine Reihe vollkommener Pferdezähne.

Der junge Mann hieß Sigmund, tanzte entsetzlich und redete unentwegt, wobei er die kuriose Angewohnheit an den Tag legte, jeden Satz mit »ich« zu beginnen. Von seinem Rempeln und Stolpern verlor Katharina den Schwung. Sie hätte lieber mit einem der Zwillinge getanzt, die sich mit Lust in den Takt warfen, doch stattdessen prasselte der Redeschwall des Ichsagers auf sie nieder. »Ich bedaure wirklich, ich fürchte, ich bin nicht ganz eins mit dem Takt. Ich bin wohl abgelenkt durch diese Vorfälle an der Grenze. Ich verspreche, ich werde mich noch bessern.«

»Was für Vorfälle an der Grenze?«

»Ich hatte gerade ein Gespräch mit meinem Vater. Ich muss leider festhalten, dass Amerikas Präsident Polk ein Heer auf Mexikos Grenze am Nueces zubewegt. Ich war bereits der Ansicht, dass die Annektierung von Texas einer Kriegserklärung gleichkam. Ich habe mir auch meinen Teil gedacht, als das Treffen zwischen Präsident Herrera und dem amerikanischen Gesandten nicht zustande kam. Ich bin von daher nicht besonders überrascht …«

Katharina stöhnte innerlich. Der Ichsager schwatzte die ewige Schwarzseherei der Erwachsenen nach, die diese offenbar brauchten, weil ihnen sonst das Leben zu langweilig war. Sie selbst fand es nicht langweilig. Es schillerte. Da waren die schöne Musik und ihr Vetter Stefan, den sie wieder zu Hause hatten, da waren der Mann mit dem Zauberkasten, die absonderliche Dame, die Jo kennengelernt haben wollte, und die noch absonderlichere Tatsache, dass Jette am Rand stand und keinen Partner abbekommen hatte. Da war immer wieder etwas Neues, mit jedem Schritt des Tanzes, kurz kurz lang, kurz kurz lang und am Ende ein Hüpfer, und dann machte die Musik eine Pause, und Onkel Fiete rief zum Partnerwechsel auf. Eigentlich war genau geregelt, in welche Richtung gewechselt werden sollte, aber der Hartmann-Lutenburg’sche Nachwuchs war zu ungestüm dazu. Alles lief durcheinander und schnappte sich, wen das Herz begehrte.

Katharina wurde mit Onkel Fietes zweitältestem Sohn Sievert zusammengedrängt, der zwar nicht musikalisch war, aber mit Saft und Verve tanzte. Er schleuderte sie geradezu in die Schritte, und Katharina hatte ihren Spaß. Vor ihnen tanzten schüchtern Stefan und Jo, in die sie mehrmals hineinprallten, und Katharina fiel auf, was für ein nettes Paar sie abgaben. Stefans Haar hatte die leuchtende Farbe, die ihre Mutter »das Hartmann-Blond« nannte – »wie Felder voll wogendem Weizen« –, und Jos beinahe weißes Haar passte gut dazu. Sie waren beide blass, ernst und scheu, und als die Musik von neuem pausierte, warf Katharina die Arme um sie und rief: »Wisst ihr was? Ihr zwei solltet heiraten!«

Wie seltsam das war. Das Gerede vom Heiraten, mit dem Jette und Luise ihre Tage füllten, ging ihr gehörig auf die Nerven. Woher also kamen ihr derlei Gedanken? Daher, dass sie jetzt eine Frau war? Nein, sie hatte vor Jahren schon einmal daran gedacht, und damals war es ihr als das Natürlichste von der Welt erschienen.

Als läse er, was in ihr vorging, zog Stefan sie zu sich. »Du hast ausgesehen, als gäbe es jemanden, von dem du träumst«, sagte er.

»Und wenn?«, entgegnete sie herausfordernd. »Erzählst du mir dann, ich bin dafür zu jung?«

Zu ihrer Überraschung wurde Stefan ernst. »Kann man dafür zu jung sein? Ich glaube, dafür ist man höchstens irgendwann zu alt.« Gleich darauf setzte die Musik wieder ein, nur war aus der Polka ein Schottischer geworden. Stefan hatte offenbar in der Hauptstadt tanzen geübt, und Katharina vergaß für kurze Zeit die Welt um sich. Farben und Formen flogen vorüber. Aus dem Augenwinkel glaubte sie wieder Jette zu erkennen, die reglos an der Wand stand, aber das musste ein Irrtum sein, denn Jette war doch wie sie, sie konnte vom Tanz nie genug bekommen.

Sie tanzte auch noch mit Hermann und mit dem kleinen Friedrich, der wie ein Gummiball hüpfte, und dann verklang mit einem schrägen Akkord die Musik, und Fiete stieg wieder auf die Kiste. »Genug getobt, Kinder. Jetzt setzt euch brav auf eure Plätze. Marthes Sanne teilt feine Limonade aus, und anschließend dürfen die Erwachsenen sich im Walzer verlustieren.«

Katharina hatte das Gefühl, unter den Stangen des Fischbeinkorsetts zu zerfließen. Ihr Atem ging in Stößen, doch sie hätte ewig weitertanzen wollen. Der Walzer war Kindern verboten, er war ein bisschen frivol, weil der Herr dabei den Arm so um die Dame legte, dass er in der Drehung ihre Hüfte berührte, und gerade weil der köstliche Duft des Verbotenen daran haftete, hätte sie sich liebend gern darin probiert. Ob wohl Jette alt genug war? Sie blickte sich nach dem pfirsichfarbenen Kleid um und entdeckte es unter dem Fenster, das einen samtblauen Himmelsausschnitt frei ließ. Der Ichsager verbeugte sich wortreich vor Jette, vermutlich bat er sie um einen Tanz. Na, bei Jettes flinkem Mundwerk bekam er gewiss kein einziges Ich heraus.

Die Limonade wurde in hohen gezuckerten Kelchen gereicht, die mit in Locken geschnittener Zitronenschale verziert waren. Katharina schloss die Augen und sog den köstlichen Duft ein. »Halt!«, rief Traude und brachte die Geige, die zum Auftakt ansetzte, zum Schweigen. »Noch nicht tanzen. Erst wollen wir das Bild machen, gerade jetzt, wo alles so glücklich aussieht und so wunderschön.«

Hatte die Tante getrunken? Sie klang kein bisschen griesgrämig, wie man sie kannte, sondern vor Freude außer sich. Auf ihren Stefan musste sie wirklich stolz sein – so stolz wie Onkel Fiete, der ständig damit prahlte, wie viel Gewicht seine Kinder auf die Handelswaage brachten, als würde er sie persönlich in die Schalen wuchten.

Katharina hatte angenommen, allein Stefan solle von dem Fotografen porträtiert werden, doch Luise kam keuchend herüber und verkündete: »Stellt euch vor, wir alle werden aufgenommen! Stefan sagt, er will mit uns aufs Bild – mit seinen schönen Basen!«

Ein Stuhl wurde in die Mitte gestellt und darauf Stefan steif wie ein Garderobenständer plaziert, während die Mädchen in ihren rauschenden Kleidern, mit gelösten Haaren und glühenden Wangen sich um ihn herumgruppierten. Auf dem Bild, hatte Hermann erklärt, würde man die Farben nicht sehen, aber Katharina konnte sich nicht vorstellen, dass das möglich war. Wie sollte denn so viel Farbe verlorengehen, floss sie aus dem Kasten heraus?

»Sie müssen stillhalten, meine Damen«, jammerte der Fotograf, der unter allerlei Mühen sein Stativ herangeschleppt und die Voigtländer neu montiert hatte. »Nicht die kleinste Bewegung, mindestens so lange, wie Sie brauchen, um bis zehn zu zählen.«

Aber die Mädchen konnten nicht stillhalten, sie konnten sich ja nicht einmal einigen, wer hinter dem Stuhl stehen, wer danebenhocken und wer mit ausgebreiteten Röcken davorsitzen sollte. Wie die Kolibris schwirrten sie um Stefan herum, denn so, wie sie sich jetzt stellten, wie sie lächelten und die Köpfe hielten, würden sie auf alle Zeit bewahrt sein. So, wie ich jetzt bin, bleibe ich übrig – ein Mädchen im grünen Kleid mit verschwitztem, grässlichem Haar, ein Mädchen, das gestern Nacht zur Frau geworden ist.

Endlich wurde entschieden, dass Stefans Schwester Helene, die ohne Brille blind wie ein Maulwurf war und geführt werden musste, hinter dem Stuhl ihres Bruders stehen sollte, dass Luise und Jette an den Seiten plaziert wurden und dass Jo und Katharina sich an seine Beine gelehnt vor ihm drapieren sollten. »Alle lächeln!«, rief der Fotograf. »Und still sitzen, bitte. Wenn sich einer rührt, ist das Bild verdorben.«

Katharina ballte die Fäuste im Schoß und betete, dass keiner sich rührte, weder die zitternde Jo noch die kichernde Luise, damit ihr kostbares Bild nicht verdorben war. Sobald nämlich die Platte in der Kamera das Bild gefangen hatte, musste es schleunigst hinüber in Tante Traudes Mädchenkammer getragen werden, wo der Fotograf seine Schalen mit Tinkturen aufgestellt hatte, und dort, in völliger Dunkelheit, würde es sich über giftigen Dämpfen entfalten. Im letzten Augenblick dachte Katharina daran, die Oberlippe zu schürzen, weil Lise gesagt hatte, sie habe schöne, wenn auch zu starke Zähne. Und die Augen offen halten! Die Zeit, die sie brauchte, um bis zehn zu zählen, dehnte sich endlos aus. Zu allem Unglück rutschte Stefans Stuhl zur Seite, weil Jette dagegenschwankte, aber die Aufnahme war schon im Kasten. Der Fotograf zog die Platte heraus und flüchtete aus dem Raum. Die Anspannung löste sich in Gelächter auf.

Wie gut, dass es dieser Augenblick war, dachte Katharina. Dass wir, als das Bild uns festhielt, so glücklich waren. So schön wie heute kamen sie nicht mehr zusammen, hatte Fiete gesagt. Während sie auf ihre Plätze zurückkehrten, musterte Katharina ihre Basen von der Seite. Ja, der lustige Onkel hatte recht, sie waren schön, eine jede auf eigene Art. Luise so gesund und sorglos, Helene, die ihre Brille wieder aufgesetzt hatte, überlegen und erwachsen und Jo zart wie eine Elfe aus dem Märchenbuch. Die Schönste von ihnen war ohne Zweifel Jette, auch wenn die Pfirsichfarbe ihre Gesichtshaut gelb machte.

Und ich?, durchfuhr es sie. Findet jemand mich schön? Ihre Mutter und Lise jammerten über ihr Haar, und die Sanne hatte ihr von klein auf beteuert, sie sei trotz allem ihr liebenswertes Fräulein. Schön wie Jette mit ihrem herzrunden Gesicht und dem Haar wie dunkler Honig war sie wahrlich nicht, aber dennoch drehten sich Menschen nach ihr um. Ich habe etwas an mir, dachte sie nicht ohne Stolz – sie hatte diesen Ausdruck von Onkel Fiete gehört. Unsere Kathi hat etwas an sich. Sie hätte nicht tauschen wollen.

»He, Jette, wolltest du nicht mit dem Esel im Rüschenhemd tanzen?« Felix, der jüngste der Hartmann-Brüder, war damit beschäftigt gewesen, mit einem Bleistift auf ein Stück Papier zu kritzeln, blickte jetzt aber hoch und wies auf den Ichsager, der unter dem Fenster auf seine Walzerpartnerin wartete. »Der passt doch zu dir, Gleich und Gleich gesellt sich gern.«

Schnaufend ließ Jette sich auf ihren Stuhl plumpsen. »Wer hier der Esel ist, fragt sich«, blaffte sie zurück, wobei sie zwischen den Worten erneut Schnauflaute ausstieß. »Und du rede nicht dumm daher, Grüngemüse. Hol mir lieber ein Glas zu trinken.«

»Champagner?«, fragte Felix neidisch, denn im Gegensatz zu seiner Schwester durfte er noch keinen Alkohol trinken.

Jette schüttelte den Kopf, zeigte auf den Krug mit Limonade und lehnte sich zurück. Die schwelgenden Klänge des Walzers setzten ein. Der arme Ichsager blickte sich ratlos nach allen Seiten um.

Onkel Fiete tanzte mit Tante Dörte, Stefan mit Tante Traude und Onkel Christoph mit Katharinas Mutter. Ihr Vater tanzte nie, und Tante Inga saß allein auf einem Schemel und betrachtete ihre Hände im Schoß. Die Musik stieg Katharina zu Kopf, sie fühlte einen angenehmen Schwindel, und ihre Füße tappten im Rhythmus wie Wesen mit eigenem Leben.

Ein klirrender Schlag durchbrach die Melodie. Sofort darauf ertönte ein Schrei. Die Tanzenden erstarrten in der Drehung wie die Schlossbewohner bei Dornröschen. Vielleicht glaubten sie, es sei geschossen worden, auch wenn in Veracruz letzthin Ruhe herrschte, oder sie nahmen noch Schlimmeres an. In Onkel Fietes Geschichten spie der Orizaba, der weiße Riesenberg, Glut und Feuer, und die Erde bebte, wenn der gefiederte Schlangengott Rache nahm. Katharina aber wusste, was geschehen war, sie hatte es gesehen. Ein weißer Vogel, eine große Taube, war aus dem Dunkel gegen das Fenster geflogen und hatte sich an der Scheibe den Kopf eingeschlagen. Ein Rinnsal Blut troff die Scheibe hinunter, und eine Handvoll Federn wirbelte durch die Schwärze der Nacht.

Es war Katharinas Mutter, die geschrien hatte und die jetzt wie versteinert mit dem Rücken zur Wand stand. Katharina wollte zu ihr laufen, noch lieber wollte sie, dass der Vater zu ihr ging und sie aus ihrer Starre weckte, doch es war Onkel Christoph, der den Arm um sie legte und tröstend auf sie einsprach. Die Mutter stand da, als würde sie ihn kaum bemerken. Die Musik hatte ausgesetzt.

»Kein Grund zur Unruhe«, rief Onkel Fiete und kletterte eiligst auf die Kiste. »Das bedauernswerte Vöglein flog ja nicht aus böser Absicht in den Tod.«

»Warten Sie«, rief Tante Traude den Musikern zu. »Ich höre Gäste an der Tür, das muss die Familie von Schweinitz sein.«

Damit stürmte sie aus dem Raum und überließ das Feld wieder Fiete, der sich den Brustkorb voll Luft blies. »Da wir beim Schwingen des Tanzbeins ohnehin unterbrochen worden sind, haben wir Zeit, des armen Täubchens in einer Geschichte zu gedenken. Hat die verehrte Gästeschar gewusst, dass die Taube in den dunklen Jahrhunderten vor der Geburt des Herrn zwar in dieser Gegend verbreitet, in unserer europäischen Heimat aber völlig unbekannt war? Es war der persische Großkönig Darius, der sie auf den Schiffen seiner Flotte an die Küsten des hellenischen Meeres brachte – wenn auch, ohne einen Deut davon zu wissen …«

»Wenn sich mal einer um Kopf und Kragen schwatzt, dann dieser Sohn von mir«, knurrte Hille, die einen Gehstock benutzte, um sich auf ihrem Thron zu halten. Über ihre bissigen Einwürfe wurde oft gelacht, aber heute blieb es still.

Katharinas Blick wanderte von Fiete zur Mutter, die noch immer starr im Arm von Onkel Christoph stand. Mit sichtlicher Mühe bewegte sie die Lippen, und Katharina sah, dass sie »nein« sagte. Nein, nein, nein. Fiete hörte natürlich kein Wort, sondern erzählte weiter von persischen Schiffen, die über tosende Wellen segelten, um das Land der Griechen zu erobern, von dem Sturm, der die stolze Flotte erfasste, ihre Masten zerbrach und ihre Planken leckschlug, und von rasenden Fluten, die Schiffe und Männer in die gnadenlose Tiefe des Vergessens rissen. Die Mutter schwankte. Katharina fürchtete, sie werde in Ohnmacht fallen.

»Fiete, lass das doch«, erbarmte sich Onkel Christoph. »Marthe will es nicht hören.« Aber Fiete, der sich in Schwung geredet hatte, hörte ihn nicht. Im nächsten Augenblick betrat Traude mit den neuen Gästen den Raum. Nicht nur Fiete, sondern jegliches Gemurmel verstummte.

Seltsam war, wie Traude den beiden voranging – nicht mehr stolz und energisch, sondern gebeugt. Der Handelsagent, der ihr folgte, hatte stahlgraues Haar und war für einen Mann seines Alters und Standes auffallend schlank. Er hielt sich aufrecht, als hätte er einen Stock verschluckt, und ein Gleiches galt für die Dame, die an seiner Seite eintrat und seine Gattin sein musste. Katharina glaubte zu hören, wie die Versammlung den Atem anhielt. Die Besucherin trug ein Kleid, dessen Seide wie polierte Bronze schimmerte. Mit ihrer Wespentaille war sie graziler als jede Frau im Saal, und sie hatte ihr Haar wie eine griechische Göttin auf den Kopf getürmt. Ihr Gesicht war so scharf geschnitten, dass man den Blick nicht abwenden konnte. Mit ihren schwarzen Augen sah sie den Gaffern ohne Scheu, doch auch ohne verbindliches Lächeln entgegen.

Die Frau des Handelsagenten von Schweinitz war keine Weiße, nicht einmal eine Mestizin. Sie war eine Eingeborene. Eine Indio-Frau.

Das Schweigen, das den Raum erfüllte, schien ein Gewicht zu haben und ihnen auf Nacken und Schultern zu lasten. Katharina wagte kaum zu atmen. Für die Frau ist es schlimmer als für uns, durchfuhr es sie. Wir glotzen sie an wie das zweiköpfige Kalb im Raritätenkabinett. Die Frau aber stand still da und wartete ab. Ihre Miene war gelassen und ein wenig hochmütig, als würde das, was um sie vor sich ging, ihr nichts bedeuten.

Endlich bewegte sich der Konsul, trat um den Weihnachtsbaum herum und ging mit schweren Schritten auf das Paar zu. Er nahm die Hand der Frau, die in einem bronzeroten Handschuh steckte, in seine und hauchte einen Kuss darauf. Von irgendwoher drang ein erstickter Laut des Entsetzens.

»Der Vetter meiner Frau, Claudius, Baron von Schweinitz«, stellte der Konsul den Neuankömmling vor. »Und seine Gemahlin, Baronin Micaela.«

Die Sanne blieb bockbeinig bei dem Tisch mit den Getränken stehen, aber ein anderes Mädchen, das für den Abend angeheuert worden war, trippelte mit einem Tablett auf die Gäste zu. Katharinas Vater schickte sich an, das Paar, wie es die Höflichkeit gebot, zu begrüßen. Onkel Christoph wollte sich anschließen, doch die Mutter hielt ihn fest. Die Übrigen kehrten zu ihren Plätzen zurück und widmeten sich ihren frisch gefüllten Gläsern. Offenbar stand fest, dass an diesem Abend niemand mehr tanzen würde.

Der Rest des Festes, das so feurig und hoffnungsvoll begonnen hatte, versickerte wie ein verschüttetes Lieblingsgetränk. In kleinen Gruppen standen Gäste beieinander und sprachen mit gedämpften Stimmen. Verstohlen warf ein jeder Blicke nach der Baronin, die scheinbar unbekümmert mit der Frau des Konsuls plauderte. Katharina tat es weh, sie anzusehen. Sie fand sie schön, obwohl sie doch offensichtlich das Gegenteil war mit ihrer dunklen Haut, dem tintenschwarzen Haar und den wie in Holz geschnitzten Zügen. »Unglaublich, was?«, empörte sich Hermann. »Das ist ein Mann aus hanseatischem Adel. Was hält der sich zu Hause – eine Menagerie?«

Niemand gab Antwort. Katharina sah zur Seite, zu Jette, die für gewöhnlich nicht auf den Mund gefallen war. Jetzt aber hielt sie den Kopf gesenkt, als würde sie dem Bruder nicht zuhören. Eine Haarsträhne war ihr aus der sorgsam arrangierten Frisur gerutscht und hing ihr schlaff in die Stirn. War sie eingeschlafen?

»Jette«, rief Katharina, packte ihren Arm und rüttelte sie. Nein, die Base schlief nicht – ihr Kopf fiel nach hinten, und ihre Augen schlugen auf. Ihr Gesicht erschien wahrhaftig schwefelgelb. Lag es an den Kerzen, die den Saal in Geflacker aus Licht und Schatten tauchten, oder hatte sie sich mit irgendeiner Schminke bemalt?

»He, Schwesterherz, was ist denn dir über die Leber gelaufen?«, bedrängte sie jetzt auch Hermann, und im Nu gesellten sich andere hinzu und bildeten um Jette einen Kreis. Katharina hielt noch immer ihren Arm, der wie bei einer Gliederpuppe herunterbaumelte. Ehe sie sich auf all das einen Reim machen konnte, beugte Jette sich vor und erbrach. Ein nicht endender Schwall ergoss sich über den Schoß ihres Kleides, den seidenen Rock und den Boden. Die Umstehenden sprangen kreischend auseinander.

Mit einem Satz war Onkel Fiete bei ihnen und drängte Luise und Felix zur Seite. »Aber Jettchen, was machst du denn für Sachen – und das ausgerechnet zur Weihnacht?«

Hinter ihm tauchten die Gesichter von Katharinas Vater und von Tilman Roedgen, einem kürzlich aus der Stadt Lübeck eingetroffenen Apotheker, auf. »Hatte sie das schon einmal?«, fragte Roedgen besorgt.

»Aber nicht doch, sie ist gesund wie ein Fisch im Wasser, hat nie auch nur das kleinste Zipperlein.« Onkel Fiete richtete sich auf. Sein gefältelter Kummerbund war beschmiert mit Erbrochenem. »Ein bisschen Fieber neulich, als sie sich beim Laufen überhitzt hat, das ist alles.«

»Wann ist neulich?«, fragte der Apotheker. Jette gab beim Erbrechen Geräusche von sich, die verrieten, wie sie sich quälte.

Onkel Fiete warf die Arme in die Luft. »Na, vor ein paar Tagen eben, als ich mit meinen Rangen auf einem Waldlauf war. Ich laufe regelmäßig mit ihnen, bei Regen wie bei Hitze, das härtet gegen die Widrigkeiten des Klimas ab.«

»Und nach diesem Waldlauf hatte das Mädchen Fieber? Und hat erbrochen wie heute?«

Inzwischen hatten sich bis auf die Familie des Konsuls und das Ehepaar von Schweinitz sämtliche Festgäste um sie geschart. Jette würgte noch immer, aber ihre arme Kehle gab nichts mehr her. »Nicht so wie heute!«, beteuerte Fiete. »Nicht mal einen ganzen Tag hat sie in den Federn gelegen, dann war sie wieder auf den Beinen. Sie muss etwas gegessen haben, das ihr nicht bekommen ist. Vielleicht die Krabbensuppe. Mir schien die selbst etwas eigen im Geschmack …«

»Haben Sie das Erbrochene gesehen?«, unterbrach ihn der Apotheker. »Mit Krabben liegen wir hier leider falsch, und Sie holen jetzt besser einen Arzt, auch wenn es nicht leicht sein wird, um diese Zeit einen aufzutreiben.«

»Einen Arzt? Aber können Sie denn nicht …?«

Roedgen schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht mehr, als Ihnen zu empfehlen: Wenn Sie keinen Totengräber wollen, dann finden Sie so schnell wie möglich einen Arzt.«

Eine Stimme ließ alle herumfahren. Nahezu lautlos war die Frau im bronzeroten Kleid hinter die Gruppe getreten. Micaela von Schweinitz. Sie sprach Deutsch ohne Fehler, mit einer Schwere in den Silben, die den Worten Nachhall verlieh. Wie Ben, fiel Katharina ein, und ihre Brust zog sich zusammen. »Mein Bruder ist Arzt«, sagte die Frau. »Nehmen Sie unseren Wagen, unser Kutscher kennt den Weg.«

Ohne dass jemand sie hinderte, trat sie vor Jette, die sich den Leib hielt und stöhnte. Zart fasste Micaela von Schweinitz nach ihrem Arm, schob den Ärmel ihres Kleides zurück und strich mit dem Fingernagel über die wächserne Haut. Ein tiefroter Streifen bildete sich, umgeben von zwei gelblichen Rändern. »Holen Sie rasch meinen Bruder«, sagte Micaela von Schweinitz traurig. »Und lassen Sie das arme Mädchen liegen.«

Hermann, Felix und Sievert rückten Sessel herbei, um Jette, die inzwischen zum Gotterbarmen wimmerte, darauf zu betten. »Die Taube«, hörte Katharina ihre Mutter murmeln, »es war wieder die verdammte Taube.« Dabei hatte gerade die Mutter ihr beigebracht, dass der Aberglaube, der im Land herrschte, nichts als volksverdummender Humbug sei.

Heftig, wie um sich aus einem Alptraum zu wecken, schüttelte Fiete den Kopf. »Aber sie hat sich doch nur den Magen verdorben. Etwas in der Krabbensuppe oder zu viel vom Champagner, darum müssen wir doch keinen Wirbel machen.«

Micaela von Schweinitz hatte bereits Katharinas Vater eine Karte mit der Adresse ihres Bruders gegeben. Von Stefan begleitet rannte er los, während sie sich wieder zu Fiete umdrehte. »Deshalb hat Ihr Bekannter Sie gefragt, ob Sie das Erbrochene gesehen haben«, sagte sie. »Wenn ein Mensch sich von Krabben erbricht, ist der Auswurf rosa, erbricht er vom Wein, mag er rot oder gelb sein, aber niemals schwarz. Ihre Tochter hat sich nicht den Magen verdorben, sie hat den Vomito negro. Ich glaube, bei Ihnen sagt man dazu die Schwarze Kotzerei.«