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»Wo wollen Sie hin?«

»Zu Kaiser Maximilian.«

Valentin trat vor und verstellte Oberst López den Weg. »Zum Kaiser kann jetzt niemand. Er bereitet sich auf die Sitzung mit den Ministern und dem Staatsrat vor und braucht völlige Ruhe.«

»Ich muss ihn sprechen«, beharrte López, ohne die Stimme zu erheben.

Valentin hatte den Mexikaner nie gemocht. Warum, wusste er nicht. Der Mann war höflich und klug, und seine Ulanen waren ein Trumpf in ihrem immer schwächer werdenden Blatt. Vielleicht lag es daran, dass der Kaiser so große Stücke auf ihn hielt – als würde er ihm wie seinen eigenen, ihm seit Jahren ergebenen Männern trauen.

López trat zur Seite, um ihn zu umgehen, Valentin vertrat ihm erneut den Weg und senkte die Hand auf den Knauf seines Säbels.

»Das ist nicht Ihr Ernst«, sagte López.

Valentin hasste es, Spanisch zu sprechen. Dass sein Akzent die Mexikaner zum Lachen reizte, wusste er und fühlte sich in seiner Würde verletzt. »Doch, das ist es«, versetzte er wütend. »Ich bin angewiesen, für die Ruhe des Kaisers zu sorgen, und dieser Anweisung werde ich Folge leisten. Auch für Sie gelten keine Sonderrechte, Oberst.«

»Was gibt es denn?« Valentin fuhr herum und sah den Kaiser, der in Hemdsärmeln in der Seitentür stand. »Ah, Oberst López – Sie wollten mich sprechen?«

Der Oberst salutierte, nickte und ging an Valentin vorbei.

»Aber Majestät hatten gesagt …«, begann er, doch der Kaiser winkte ab.

»Es ist doch selbstverständlich, dass das nicht für Oberst López gilt. Ich bin ja froh, ihn vor der Sitzung noch sprechen zu können.«

Die beiden verschwanden im Gebäude, und Valentin blieb auf seinem Posten stehen wie ein gemaßregeltes Kind. Warum tat ihm der Kaiser das an, warum verletzte er seinen Stolz? Hätte, wenn ein Vertreter des Heeres vor der geheimen Sitzung als Berater hinzugezogen wurde, diese Ehre nicht ihm gebührt? Stattdessen stellte Max ihn vor López bloß. Valentins Wangen brannten, als wäre er geohrfeigt worden. Hätte López für den Kaiser getan, was er tat, hätte er aufgegeben, was er aufgegeben hatte?

In zwei aussichtslose Schlachten war er geschickt worden – dem Ulanenoberst hätte man dergleichen niemals zugemutet. Valentin war es, der mit der doppelten Schlappe zurückkehren musste, und obendrein hatte er zum zweiten Mal eine komplette Einheit verloren. Wusste der Kaiser, was es bedeutete, wenn man die Männer, die einem blind ergeben waren, in ihrem Blut liegen sah, wenn man sie um Hilfe brüllen hörte – und sie liegen und sich zu Tode quälen lassen musste, weil es so befohlen war?

Das aber war noch nicht alles. Als würde seiner ein gnadenloser Gott spotten, war der Mann, der ihn im Feld besiegt hatte, sein schwarzer Todfeind. Katharinas Pferdeknecht. Valentin hätte darauf gewettet, dass der Kerl zu Tücke und Hinterhalt geboren war und in der offenen Schlacht nichts taugte. Als erfahrener Offizier, der Begabung erkannte, wo er sie sah, musste er jedoch eingestehen, dass der Indio ihm in nichts nachstand. Der Mann war entweder ein Meisterschütze, oder er hatte das Glück der vom Teufel Geführten. In vollem Ansturm hatte er ihm den Sattelgurt zerschossen, dass er samt dem Sattel vom Pferd gerutscht war. Das darf nicht sein, hatte Valentin gedacht. Es darf doch nicht dieser Mann mir den Tod bringen, doch wenig später hatte ihn sein Leutnant lebend aus der Schussbahn gezogen, und den Goldfuchs hatten sie später zwischen Leichen eingefangen, mit nicht mehr als einer Wunde an der Flanke.

Dennoch brannte die Demütigung. Wenn er den Mann noch einmal in die Hände bekam, würde er sich mit hundert Hieben nicht begnügen, sondern ihn peitschen lassen, bis er wimmernd in den Stricken verreckte. Er war nie grausam gewesen. Dass ein Mann einen anderen fesseln und foltern ließ, statt ihn mit ehrlichen Waffen zu fordern, widerte ihn an – es war seinem Wesen fremd. Diesen aber wünschte er sich noch einmal gefesselt, und wie an jenem Morgen, als er Katharinas Blick bemerkt hatte, wünschte er, selbst die Peitsche zu nehmen und diesen stillen, geraden Rücken in Fetzen zu schlagen. Den Mann wie einen Rotzjungen heulen zu hören, bis Katharina ihn für seine Schwäche verachtete.

Er widerte sich selbst an – was hatte Mexiko aus ihm gemacht? Als er Mitte November nach Chapultepec zurückkam, erwartete ihn ein Brief aus Tirol. Seine Schwester Therese hatte ihm geschrieben, die, die Anton Mühlbach liebte – doch sie hatte den Toni verlassen, weil er schlecht über Valentin sprach. War das einmal sein Leben gewesen? Sie habe schlechte Nachrichten, schrieb Therese. Veronikas Vater habe das Verlöbnis gelöst, um seine Tochter an einen Steiermarker Kleinadligen zu verheiraten. Auf einen Schwiegersohn, der dem Windei Maximilian anhänge, setze er keinen Pfifferling mehr. Valentin hätte ein Mädchen, dessen Vater sich so etwas herausnahm, nicht heiraten wollen, aber er fühlte sich dennoch, als liefe er auf einem Seil und man hätte ihn des Netzes darunter beraubt.

Das war noch nicht alles: Der Onkel, der sich in seinem Leben kein einziges Verdienst erworben hatte, besaß die Stirn, ihn zu enterben. Der Titel, der Valentins Familie gehörte, würde an einen Vetter dritten Grades fallen, und er, der half, ein Reich zu begründen, bliebe der Sohn des bürgerlichen Versagers Gruber.

Und wofür hatte er den Titel, der ihm zustand, und das Mädchen, das er liebte, eingebüßt? Für Maximilian von Habsburg. Der ihm einen hergelaufenen Mexikaner vorzog.

Er blickte über die Mauer hinweg auf den Park und zwischen den sich wiegenden Zypressen hindurch auf das Schillern des Sees. Dort unten wartete Katharina. Seine Zauberin. Auch sie ein Teil des teuflischen Landes, das dabei war, ihn zu zerbrechen, aber ein Teil, den er sich gebändigt hatte. Wenn du deinen Pferdeknecht je wiedersiehst, peitsche ich ihn dir vor deinen Augen tot. Katharina war wie ein Kampfstier, sie wollte Kraft spüren, ehe sie sich ergab. Hätte er den Indio totgeschlagen, hätte sie ihn gehasst, doch zugleich wäre sie ihm mit Haut und Haar erlegen. Er hätte den Sepp abberufen und ihr erlauben können, die Briefe ihrer albernen Freunde zu empfangen, denn sie wäre sein gewesen, ganz und gar sein.

Er wurde verrückt. Es war das Klima, die ewige Sonne. Würde er je wieder durch hüfthohen Schnee stapfen, würde er je wieder Eiszapfen von den Giebeln eines Hauses glitzern sehen?

»Oberleutnant Gruber? Hätten nun Sie noch ein paar Augenblicke Zeit?«

»Sehr wohl, Majestät.« Valentin wartete, bis López das Gebäude verlassen hatte, ehe er es betrat. Der Kaiser, noch immer in Hemdsärmeln, ging ihm voran hinauf zu seinem schönen, im dunkel-männlichen Miramarstil gehaltenen Privatzimmer. López’ Zigarrenrauch, der Valentin Übelkeit bereitete, hing noch im Raum.

»Setzen Sie sich«, sagte der Kaiser. Er nannte ihn nicht mein guter Gruber. Vielleicht zürnte er doch wegen der verlorenen Schlachten, sooft er auch das Gegenteil beteuerte. Oberst López hatte sich solches natürlich nicht zuschulden kommen lassen. Hätte aber Oberst López für den Kaiser sein Leben riskiert? Dass Valentin die Schlacht überlebt hatte, war ein Wunder – und nicht der Fürsorge des Kaisers zu danken, sondern der Tatsache, dass der teuflische Indio nicht schnell genug zum zweiten Mal gefeuert hatte.

Ich gebe ihm alles, dachte Valentin, aber nicht meinen Stolz. Wenn er mir Vorwürfe macht, stehe ich auf und bitte ihn um meinen Abschied.

»Ich wollte Sie um Ihre Meinung bitten, Valentin«, sagte der Kaiser. »Ich darf Sie doch Valentin nennen? Der Name passt zu Ihnen, wissen Sie das? Valentin. Der Heilige der Liebe.«

»Sehr wohl, Majestät.«

»Ich bitte Sie. Wenn wir hier unter uns sind, nennen Sie mich Max. Haben wir nicht genug gemeinsam durchgestanden, von Solferino bis hierher? Wir haben einander weinen sehen, auch wenn keine Tränen flossen. Sie sind nicht einfach nur ein Offizier für mich, Valentin. Sie sind einer der Männer, von denen ich mich nicht trennen wollte – es wäre, als würde ich mich von mir selbst trennen. Verstehen Sie, was ich sagen will?«

Valentin sah in das schön geschnittene, von Leid gezeichnete Gesicht des Kaisers und konnte nur nicken, weil er genau verstand.

»Sie wissen, warum ich diese Sitzung einberufen habe?«

»Nein, Majestät.«

Der Kaiser lächelte traurig.

»Nein, Max«, verbesserte sich Valentin und kostete den Namen wie Wein.

»Weil man mir von allen Seiten rät, abzudanken. Das Volk von Mexiko wolle mich nicht mehr, sagt man mir. Auch in Europa, wo man meine Mission als Heilsversprechen pries, wolle mich niemand mehr auf diesem Thron. Oberst López rät mir ebenfalls dazu, wie er mich wissen ließ. Ich habe beschlossen, die Versammlung entscheiden zu lassen. Stimmt die Mehrheit für meine Abdankung, so werde ich meinen Lebenstraum für gescheitert erachten.«

»Das dürfen Sie nicht!« Valentin sprang auf und packte den Mann, der doch sein Kaiser war, bei den Oberarmen. In seinen kräftigen Händen schienen Sie wie dürre Hölzer. »Max, das dürfen Sie nicht. Was soll aus Mexiko werden, wenn nicht Sie die Hand darüberhalten? Wer ist Juárez? Wer ist Porfirio Diaz? Kleine Geister, die sich mit ein bisschen Schläue aus dem Dreck gerudert haben und nach Macht dürsten. Sie aber sind Max von Habsburg, der in dieses Land gekommen ist, weil er es von ganzem Herzen liebt. Sie dürfen nicht abdanken. Eher will ich, dass wir beide für das Kaiserreich Mexiko sterben.«

Mit dem Nachhall des letzten Wortes erstarrte sein Körper, jedes Glied wie vereist. Er hätte kein Wort mehr sagen und keine Bewegung mehr ausführen können.

Der Kaiser – Max – erstarrte ebenfalls, doch nur einen Atemzug lang. Dann hob er die Arme und zog ihn an sich. »Valentin«, stieß er heraus, »mein guter Valentin«, und es klang, als würde er zugleich lachen und weinen. »Ich habe gelobt zu tun, was immer die Versammlung heute Abend entscheidet. Ohne Minister und Staatsrat kann ich nicht regieren. Aber was immer auch heute über unser Schicksal entschieden wird – Ihre Worte werde ich nie vergessen. Ich wünsche, dass wir zusammenbleiben. Mein Valentin. Mein Freund. Mein Herzensbruder.«

Valentins Starre löste sich. Die beiden Männer umarmten sich noch einmal und klopften sich die Schultern. Als er Max schließlich zur Ankleide für die Versammlung gehen lassen musste, war es ihm, als würde er ihn in eine Stierkampfarena schicken, in einen Kampf auf Leben und Tod. Max hatte ihm gestattet, in seinem eigenen Zimmer auf das Ergebnis zu warten, und Valentin war ihm dankbar dafür. Keinen Menschen hätte er jetzt um sich ertragen. Fünf Stunden lang dehnte sich die quälende Sitzung, und vor dem Fenster herrschte tiefe Nacht, als an Max’ Stelle sein Sekretär erschien, um das Ergebnis zu verkünden. Der Kaiser könne es nicht selbst tun, er habe einen Zusammenbruch erlitten und bedürfe der Erholung. Auch Valentin solle sich erholen, er erhalte drei Tage Sonderurlaub und eine Prämie für seine Verdienste.

Mit zwölf zu elf Stimmen hatte sich die Versammlung gegen eine Abdankung ausgesprochen. Wie im Taumel ging Valentin nach Hause. Das Ergebnis war die Art von Sieg, die in Wahrheit eine Schmähung bedeutete, einen Schlag ins ungeschützte Gesicht. Er hätte bei Max sein wollen und seine Schmerzen lindern, zugleich aber brauchte er einen Menschen, der seine eigenen Schmerzen linderte.

Katharina lag halb entkleidet auf dem Bett und schlief. Sie trug ein rotes Hauskleid. Er hatte ihr hundertmal verboten, ohne Schnürleib zu gehen, aber so, wie sie dalag, war sie unsäglich schön. Ihre schwarzen Massen von Haar umhüllten sie wie einer der Rebozos, die die Indio-Frauen trugen. Er riss sie an sich und rüttelte sie wach. Schlaftrunken, wie sie war, nahm er sie, und als sie endlich zu sich kam, nahm er sie ein zweites Mal. Ihre Liebe konnte nichts heilen. Aber sie war wie der Portwein, der es für Stunden erträglich machte.