6

In dieser Nacht kam der Traum zurück.

Sie war wieder auf dem Malecon, aber der hatte seine flimmernde Buntheit verloren und besaß im Traum keinen Duft. Konturen verschwammen im Nebel, nur die Hand des Mannes stach klar daraus hervor. Katharina sah, wie die Hand die Peitsche aus dem Halter riss, sie sah die Peitschenschnur, die mit scharfem Pfeifen die Luft zerschnitt, und dann sah sie das von Furcht verzerrte Gesicht des Jungen, der hintenüber zu Boden stürzte. Sein Gesicht. Die Taube schrie.

Katharina stand von der Mutter gehalten, ein buckliges Päckchen zwischen ihre Körper gepresst. Wieder schnalzte die Peitschenschnur, Katharina kämpfte sich los, da traf die Schnur ihren Bauch und schlitzte ihr wie eine Machete Hemd und Haut auf. Nie zuvor war sie in einem dieser Träume verletzt worden, jetzt aber schien der Schmerz ihr den Leib zu zerreißen. Sie fiel auf die Knie, presste die Hände auf den Schnitt, dann hob sie sie vor ihr Gesicht und starrte sie an. Von den Handflächen troff ihr Blut, das nicht aufhörte aus der Wunde zu sickern. Auch das Hemd war voll Blut, all das Rot auf dem Weiß. Dass man, wenn man sein Blut verlor, starb, wusste jedes Kind, und der Druck ihrer Hände vermochte den Strom des Blutes nicht aufzuhalten. Die Taube schrie. Es klang nicht länger schrill, sondern als ob sie weinen würde.

Wenn sie als Kind den Traum gehabt hatte und aus dem Schlaf geschreckt war, hatte ihr Vater vor ihrem Bett gestanden und sie in die Arme gezogen. Ihr Vater mit seiner kratzigen, ungeübten Stimme war ein kläglicher Sänger, aber ihr hatte er immer ein Lied gesungen: »Es wird ja alles wieder gut, nur ein kleines bisschen Mut.«

Jetzt war sie kein Kind mehr. Sie war fast vierzehn, und seit jenem Tag vor fast vier Jahren gab es zwischen ihr und ihrem Vater kein Trösten mehr. Als der Traum zerplatzte und jäh in Wachheit überging, wurde ihr klar: Niemand wird kommen. Ich bin allein. Mit dem nächsten Herzschlag begriff sie, dass zwar der Traum, nicht aber das Entsetzen zu Ende war. Sie lag nicht in ihrem Bett, sondern kniete davor im abgedunkelten Raum. Von ihren Händen troff Blut. Das weiße Hemd war rot und klebte zwischen ihren Beinen.

Ich muss sterben! Sie hatte gestöhnt, wenn die Mutter sie vor der Unzahl Krankheiten gewarnt hatte, die in der mexikanischen Luft auf sie lauerten, und jetzt wurde sie für ihren Leichtsinn bestraft. Eine der Krankheiten hatte sie erwischt, weil sie sich niemals vorsah, sondern ging, wohin sie wollte. Sie würde auf dem Boden ihrer Kammer sterben! Das Weinen, das durch die Nacht brach, war ihr eigenes, aber es klang kaum anders als das Heulen der Llorona, die Klage völliger Einsamkeit.

Und dann war doch jemand bei ihr. Jemand kniete sich zu ihr und zog sie in die Arme, hielt sie fest und beschmierte sich mit ihrem Blut. »Ach, mein Liebchen, mein armes Liebchen. Hätte der Herrgott uns das nicht noch eine kleine Weile ersparen können?«

Die Mutter. Katharina ließ sich fallen. »Ich will nicht sterben«, brachte sie kaum verständlich unter Schluchzern heraus.

»Du stirbst ja nicht, mein Schätzchen. Ein Teil von dir stirbt, den ich so gern behalten hätte, aber der Rest lebt weiter. Es ist das Frauenübel, es befällt uns alle. Du musst jetzt doppelt vorsichtig sein und zu niemandem davon sprechen. Ich hole dir Wasser und ein frisches Hemd, und nachher gebe ich dir Tücher, die du dir zwischen die Beine legen kannst.«

Katharina, die aufgehört hatte zu weinen, wurde von neuem Schrecken überfallen und hielt sich an der Mutter fest. »Geh nicht weg. Bleib noch ein bisschen hier.«

Die Mutter schloss die Arme wieder um sie. Leise summte sie eine Folge von Tönen, die Katharina vertraut schien. Sie konnte sich nicht erinnern, je so mit der Mutter gesessen zu haben. Es war der Vater, der zärtlich zu ihr war, wohingegen die Mutter sie zwar bestens versorgte, aber Gefühlsduseleien nicht mochte. Jetzt jedoch schienen sie einander so nahe, wie sie keinem anderen hätten sein können. Katharina fiel etwas ein, das die vorlaute Jette unter Gekicher herumschwatzte, dass nämlich die Kinder in den Leibern ihrer Mütter wüchsen. War sie in dem Leib, an dem sie lehnte, gewachsen? Es war schön, von der Mutter gehalten zu werden – als könnte sie noch einmal in sie hineinkriechen. Katharina atmete tief und beruhigte sich. »Mutter«, fragte sie, »warum bin ich nicht im Bett? Gehört das zu dem Frauenübel?«

Auf ihrem Scheitel spürte sie, wie die Mutter den Kopf schüttelte. »Mach dir darum keine Sorgen. Dir ist noch nie etwas geschehen, und dir geschieht auch in Zukunft nichts. Darauf gebe ich acht.«

»Aber was ist es?« Sie war kurz davor, ihrer Mutter von dem Traum zu erzählen, da fiel ihr das bucklige Päckchen ein, und sie schwieg.

»Mondsucht«, erwiderte die Mutter. »Die Familienkrankheit. Ich blieb verschont, aber deine Großmutter litt daran und deine Tante auch.«

»Welche Tante? Inga?«, fragte Katharina verblüfft.

»Nein, nicht Inga«, entgegnete die Mutter hastig. »Inga ist ja uns nicht im Blut verwandt. Ich meinte eine Base von mir, meine Base Ilse litt an Mondsucht, aber sie hat trotzdem gelebt wie jede andere. Man muss nur achtgeben, dass keine Mondsüchtige des Nachts aus dem Haus läuft oder aus dem Fenster springt.«

Katharina musste lachen. »Ich springe doch nicht aus dem Fenster! Hier unterm Dach ist es doch viel zu hoch. Wer da runterspringt, bricht sich den Hals.«

»Darüber scherzt man nicht«, verwies die Mutter sie streng. »Wer an Mondsucht leidet, hat es auch mit der Schwermut, und ich hätte längst dafür sorgen sollen, dass deine Fensterläden verriegelt werden. Jetzt lass mich dir beim Waschen helfen, und dann leg dich noch mal hin. Es kommen nie zwei Anfälle in einer Nacht, und ich will, dass du morgen hübsch aussiehst in deinem neuen Kleid.«

Morgen war der Adventsball, den Tante Traude für Stefan gab. Stefan, der Schlaukopf der Familie, war zwei Jahre lang in Mexiko-Stadt gewesen. Zum Studieren, beteuerte Tante Traude, obwohl sie alle wussten, dass er keine Universität, sondern lediglich eine Gruppe von Professoren in der deutschen Siedlung der Hauptstadt besucht hatte. Liebend gern hätte die Tante ihn an eine Lehranstalt in die Heimat geschickt, aber das Geld dafür hätte sie nicht auftreiben können. Selbst für Stefans Aufenthalt in Mexiko-Stadt und für den Ball, den sie ihm gab, hätte sie nie genug Geld gehabt, hätte Katharinas Vater ihr nicht Anteile an seiner Brauerei verkauft.

Zwei Jahre war Stefan fort gewesen, und morgen kam er mit der Postkutsche aus der Hauptstadt zurück. Tante Traude gab in ihrem Haus einen Ball, und alle Mädchen hatten dafür neue Kleider erhalten. Katharinas lindgrünes, mit Brüsseler Spitze besetztes Kleid war natürlich das teuerste, obgleich sie sich nicht im mindesten darum scherte, während Jette und Luise ein Gewese darum machten, als würden sie mindestens der Königin von England vorgestellt. Gern hätte Katharina ihr teures Kleid der armen Josephine geschenkt, die mit einem schäbigen Gewand vorliebnehmen musste. Auch wenn es ihnen allen gutging, wie die Erwachsenen ständig betonten, ging es dem traurigen Onkel Christoph nie ganz so gut wie den Übrigen. Jo jedoch war bescheiden und mit ihrem grauen Kleidchen vollauf zufrieden.

Ihre Mutter strich ihr übers Haar, wie sie es selten tat. Niemand berührte Katharinas Haar gern, nicht einmal die Lise, die noch immer dazu verdonnert wurde, es ihr abends auszukämmen. »Komm zum Waschen, Kathi. Es ist das letzte Mal, dass ich dir dabei helfen kann. Du bist jetzt eine Frau.«

Auf schwachen Beinen stand Katharina auf. Warum es die Mutter so traurig machte, dass sie jetzt eine Frau war, hätte sie gern gewusst, doch sie fragte nicht.

 

»Es geht uns doch gut«, sagte Marthe und sandte ihrem Bruder einen prüfenden Blick. Sie war hinübergelaufen, um Inga ein Schultertuch für Josephine zu bringen, damit diese nicht vollends wie ein Mauerblümchen wirkte. Statt der Schwägerin hatte der Bruder ihr geöffnet, noch in Hemdsärmeln und ohne Kragen, aber immerhin frisch rasiert.

Sein Hemd wirkte im fahlen Flurlicht fadenscheinig. Warum kaufte er sich kein neues? Es ging ihnen doch wirklich gut. Die Handelsverträge zwischen den Hansestädten und Mexiko waren endlich ratifiziert worden, so dass ihnen künftig der Schutz ihrer eigenen Vertretung zustand, und die ewigen Aufstände und Kleinkriege hatten sich beruhigt. Dass die Vereinigten Staaten von Amerika im Februar Texas annektiert hatten, brauchte den Hanseaten keine Sorge zu bereiten. Sie waren keine Mexikaner, was sollte es sie also kümmern, ob Mexiko ein Stück Land im Norden gewann oder verlor? Für sie ging es aufwärts – mit jedem Tag und jedem fleißigen Handschlag ein Stück.

Traude ging es sogar so gut, dass sie Marthes Angebot, das Willkommensfest für Stefan in ihrem Haus zu geben, abgelehnt hatte. »Meinem Sohn ein Fest auszurichten steht mir zu, sonst keinem«, hatte sie in jenem Ton gesagt, der keinen Widerspruch duldete. Genauso war sie vor Jahren in Peters Schreibstube getreten und hatte erklärt, ihr stehe ein Anteil an seiner Brauerei zu. Für eine lächerliche Summe wollte sie ihn Peter abkaufen und die Erlöse benutzen, um ihren Sohn in die Hauptstadt zu schicken. »Wenn schon mein Junge auf die Ausbildung in der Heimat verzichten muss, weil ihm der Vater fehlt, auf den Unterricht in Mexiko-Stadt hat er ein Recht.«

Die Brauerei trug mehr ein als die übrigen Geschäfte zusammen. Dass die anderen keine Anteile daran besaßen, war sonderbar. Jeder wusste, wie großzügig Peter war, wenn es um ein Mitglied der Familie ging, doch mit der Brauerei verhielt es sich anders. Sie war sein Augapfel, und auch Traude hatte er nichts davon geben wollen.

Traude aber hatte noch einmal mit Stefans Klugheit und seinen Rechten angefangen, und als Peter sich davon nicht beeindruckt zeigte, sondern erklärte, August Messerschmidt sei schließlich auch für seine Kathi gut genug, hatte sie ihm und Marthe in die Gesichter geschrien: »Glaubt ihr nicht, dass ihr zwei mir zumindest so viel schuldig seid?«

Am nächsten Morgen hatte Peter Traude in sein Büro in der Brauerei bestellt und ihr einen Anteil am Geschäft überschrieben. Eine Woche später war Stefan mit dem Überseekoffer, mit dem sein Großvater nach Veracruz gekommen war, in eine Postkutsche gestiegen, um nach Mexiko-Stadt zu reisen.

Marthe zuckte zusammen. Wie lange schwiegen sie und Christoph einander schon an? Sein Gesicht war ihr vor den Augen verschwommen, jetzt aber sah sie es wieder scharf. Die ewige Müdigkeit, die Leidensmiene. »Es geht uns gut«, wiederholte sie munter. »Euch doch auch, Christoph? Wenn nicht, du weißt, du brauchst nur ein Wort zu sagen, ich kann jederzeit mit Peter sprechen.«

Christoph verzog den Mund zu einem halben Lächeln. »Danke, du Liebe. Du hast natürlich recht. Ich mache mir höchstens ein bisschen Sorgen um diesen amerikanischen Präsidenten, der wohl keine Ruhe geben wird, ehe er uns Kalifornien abgenommen hat.«

»Nicht uns«, fiel ihm Marthe ins Wort. »Nur Mexiko. Weshalb soll es uns kümmern, was dieses Land mit seinen Nordgebieten macht? Kalifornien oder Texas, was bedeutet das uns? Wir haben uns etwas aufgebaut. So viel, dass wir vielleicht irgendwann …« Sie brach ab. Keiner von ihnen sprach es mehr aus.

Christoph nickte beflissen. »Ja, das stimmt, wir haben uns etwas aufgebaut.«

»Dann sieh gefälligst nicht so sauertöpfisch drein.«

»Weshalb denn sauertöpfisch? Sehe ich nicht immer so drein?«

»Nein, nicht immer«, widersprach Marthe heftiger als beabsichtigt. »Du warst einmal anders, hast du das völlig vergessen? Der Schwarm der Mädchen warst du – so wie sie jetzt Traudes Klappergestell den schönen Stefan nennen, haben sie dich den feschen Christoph genannt.«

Heiser und unfroh lachte Christoph auf. »Das ist ein Leben lang her, Marthe.«

»In der Tat«, versetzte sie. »Es war, bevor du Inga geheiratet hast, die genauso sauertöpfisch dreinsieht wie du. Und merkt ihr beide eigentlich nicht, dass eure Tochter sich das längst von euch abgeschaut hat? Hier, gib dem armen Mädchen ein wenig Farbe.« Sie warf ihm den Schal zu, eins von den zahllosen Stücken, die sie für Katharina angeschafft hatte. »Wir feiern kein Begräbnis, sondern einen Tanz zum Advent, auch wenn ich nicht weiß, wie Traude das in ihrem Kämmerchen hinbekommen will.«

Christoph fing den Schal und betrachtete das Muster in Rottönen. »Du kannst doch nicht Inga die Schuld geben«, murmelte er. Dann aber hob er den Kopf und fügte lauter hinzu: »Und meine Jo ist ein feines Mädchen. Es kann nicht jede ein Hansdampf wie Jette oder ein Bündel Leben wie Kathi sein.«

»Wenn ich so etwas sage, dann nur, weil ich Jo helfen will«, verteidigte sich Marthe, und das entsprach der Wahrheit. Darüber, ob sie Jo mochte, dachte sie nie nach. Sie war ihre Nichte, sie war ein Mitglied der Familie. Wie Katharina entwuchs sie den Kinderschuhen, also würde man sich um ihre Heiratschancen kümmern müssen. Wenn es mit den Beziehungen zwischen der Hanse und Mexiko weiter gut lief, würden renommierte Händler aus der Heimat ihre Söhne hersenden. Auf diese Söhne hoffte Marthe – für Katharina, für Jo und auch für Jette, Luise und Helene. Sie hatten den Kindern so vieles unter Wert geboten, sie durften sie nicht auch noch unter Wert verheiraten und ihnen damit den Rückweg versperren. Auch wenn wir es vielleicht nicht mehr erleben, die Kinder müssen es schaffen!

Der heutige Abend war ein Anfang, obgleich er in Traudes beengter Klitsche stattfand. Der neue Konsul samt Familie war geladen, und er würde noch einen Verwandten seiner Frau mitbringen, einen Handelsagenten aus Mexiko-Stadt, der dem Adel entstammte. In der Fremde rückten die Hanseaten zusammen, kleine Unterschiede in Rang und Stand wurden ausgelöscht. »Christoph«, begann Marthe noch einmal, »ich meine es doch gut.«

»Ich weiß.« Sein Lächeln wirkte noch immer verkrampft. »Und ich gebe mir Mühe, das verspreche ich. Jetzt beeile ich mich besser, damit ich fertig werde, ehe Inga mit den Jungen heimkommt und man in diesem Haus keinen ruhigen Winkel mehr findet.«

»Wo ist denn Inga?«, entfuhr es Marthe.

Christoph zuckte mit den Schultern. »Sie muss Torben und Friedrich beschäftigen. Es sind Zwillinge, das ist, als bräche der Vulkan da drüben aus zwei Kratern aus, und außerdem sind sie im schlimmsten Flegelalter.«

Davon verstand Marthe nichts. In ihrem Haus hatte es nie einen Sohn im Flegelalter gegeben. »Wir sehen uns bei Traude«, warf sie Christoph hin und öffnete die Tür. In der kurzen Zeit, die sie im Haus ihres Bruders verbracht hatte, war es draußen Nacht geworden, und noch immer ertappte sie sich dabei, dass sie zu dieser Jahreszeit auf etwas hoffte, das es nicht mehr gab.

Auf das Glitzern von Schnee.