55
Inga stand in der Küche und packte Dinge in einen Korb. Ein Glas Brotaufstrich, den sie gekocht hatte, ein aus Stoffresten genähtes Kissen. Christoph hatte am Fenster gestanden und zugesehen, wie die Franzosen ihren Karren beluden. Sie verließen die Stadt, in die sie vor fast vier Jahren einmarschiert waren. Damals haben wir noch alle hier gelebt, dachte er, und als die Offiziere einquartiert wurden, war das Haus zu eng. Jetzt, da die Männer ihre Zimmer räumten, war auf einmal zu viel Platz da und kein Mensch, der in die leeren Räume einziehen konnte. Familien sollten wachsen, nicht schrumpfen. Hermann hatte vor, die Zimmer zu vermieten, aber wer würde bei ihnen wohnen wollen, wenn nicht einmal jemand ihre Hüte kaufte?
An den Straßenrändern drängten sich Menschen, die zusahen, wie die Besatzungsarmee aus ihrer Stadt zog. Sie jubelten nicht und riefen keine Beschimpfungen, sondern standen samt ihrer Kinder still da. Vielleicht waren sie zu erschöpft, um ihren Gefühlen Ausdruck zu verleihen. Vielleicht waren sie zu erschöpft und zu ungläubig, um überhaupt etwas zu fühlen. Dicht an die Mauer des Hauses gepresst stand Juliane, mit der uralten Hille auf dem Rücken. »Die Alte will das sehen«, hatte Hermann gesagt und seine Frau hinausgeschickt.
Christoph wandte sich ab und schloss das Fenster. Die Scheibe war neu – irgendwer hatte wohl einen Glaser bezahlt. Inga stellte ein hölzernes Schiffchen, das einem ihrer Jungen gehört haben musste, zu den Sachen in den Korb. »Was machst du?«, fragte Christoph.
»Sieht man das nicht? Ich packe einen Korb mit Geschenken.«
»Weihnachten ist doch schon sechs Wochen her«, versuchte er einen hilflosen Scherz.
»Soweit ich weiß, beschenken wir an Weihnachten niemanden mehr«, erwiderte Inga und bedeckte den Korb mit einem Tuch. »Warum wir es überhaupt noch begehen, ist mir ein Rätsel.«
Um nicht aufzugeben, hätte er antworten können. Um eine Familie zu bleiben, als kämen die Verlorenen zurück, als würden irgendwann neue Kinder geboren. »Für wen ist der Korb?«, fragte er.
Inga drehte sich nicht zu ihm um, auch wenn sie an dem Korb nichts mehr zu tun hatte. »Dörte und ich machen einen Besuch bei unseren Enkeln. Der Baron und die Baronin nehmen sie mit auf ihr Landgut, damit sie in Sicherheit sind, falls es hier zu Kämpfen kommt. Wir wollen ihnen gute Reise wünschen. Stefan fährt uns, Dörte schafft es nicht, so weit zu laufen.«
Um ein Haar hätte er gefragt: Was für Enkel? »Stefan kann doch nicht fahren«, platzte er stattdessen dümmlich heraus.
»Er muss es gelernt haben«, erwiderte Inga gleichmütig. »Felix hat ihm einen Wagen geliehen.«
War es nicht verboten, Felix’ Namen zu nennen? Erst jetzt wurde ihm bewusst, was seine Frau gesagt hatte. Er ging zu ihr und legte den Arm um sie. »Liebes, das könnt ihr nicht tun. Ich verstehe, was in euch vorgeht, aber es ist wirklich nicht möglich.«
»Und weshalb nicht?« Sie befreite sich. »Bist du etwa nicht zu Martina von Schweinitz gegangen, um Kathi zu sehen? Verkehrt ihr mit dem Baron nicht ständig und nehmt sein Geld?«
»Aber das ist doch etwas anderes!«
»Warum? Weil die heilige Familie es absegnet? Spar dir die Mühe, Christoph. Säusle mir nichts ins Ohr, frag nicht deine Schwester, was du tun sollst, und droh mir auch nicht an, dass du den Hermann holst. Das alles nützt nichts. Gehen werden wir trotzdem, und am besten macht ihr kein Drama daraus. Wir verbünden uns nicht mit dem Teufel, wir sind nur zwei alte Frauen, die ihren Enkeln ein paar Kekse bringen. Dafür wird uns der Hermann wohl kaum auf die Straße setzen.«
»Ich verstehe dich ja«, beteuerte Christoph noch einmal. »Ich würde selbst gern gehen. Felice fehlt mir. Ich wünschte, ich hätte ihr, solange sie hier war, mehr Zeit gewidmet.«
»Mehr Zeit, Christoph? Wie hättest du das denn tun sollen? Was immer du an Zeit und Kraft hattest, hat deinen Schwestern gehört, und das bleibt auch so, wenn deine Schwestern und ihre Kathi es nicht mehr brauchen. Wo sollst du schließlich nach all den Jahren damit hin?«
»Ich könnte sie dir geben«, erwiderte er. »Dir und den Kindern.«
Inga lachte. »Besten Dank, Christoph. Ist es dafür nicht ein bisschen spät? Die Kinder sind erwachsen, allen dreien ist ihr Leben missglückt. Vielleicht hätten sie dich manchmal gern um Rat gefragt, doch du warst ja in Gedanken nie bei uns. Nicht in unserer Hochzeitsnacht, als du mich allein im Hotel gelassen hast. Nicht nach Josephines Schändung, als wichtiger war, dass Kathi sich mit dem falschen Mann herumtrieb. Nicht, als wir herkamen und die Jungen immer mehr außer Kontrolle gerieten. Da musstest du dich wiederum um Kathi sorgen, und als Felice zur Welt kam, hattest du auch keine Zeit, denn die war ja nur Jos, nicht Kathis Kind.«
»Ich habe die Schuld nicht ertragen«, murmelte Christoph tonlos. »Felice, meine ich. Hätte ich auf Josephine aufgepasst, wäre sie nicht von einem Schänder schwanger geworden. Ich konnte das arme kleine Mädchen nie ansehen, ohne daran zu denken.«
»So geht es euch Hartmanns euer Leben lang, nicht wahr? Ihr könnt niemanden ansehen, ohne euch zu fragen, was gewesen wäre und was ihr hättet tun sollen.« Inga wandte sich ihm zu. Er fand sie immer noch schön. Sie hatte die Art von weißblondem Haar, die nie ganz ergraute, und wasserhelle Augen. Wie Josephine. Woher war ihm nur die fixe Idee gekommen, Josephine sei nach Vera geraten? »Ihr betragt euch, als wäre an einem einzigen Tag über euer Leben der Stab gebrochen worden«, fuhr sie fort. »Und keiner von euch hätte je die Möglichkeit gehabt, einen anderen Weg einzuschlagen.«
Die Worte blieben im Raum stehen. Christoph ging zu dem Korb und zog das Schiffchen heraus. Kinderfinger hatten das alte Holz in Jahren blank gerieben. Sein Vater hatte es ihm gekauft, bei einem Holzschnitzer auf dem Fischmarkt. Wie war es wohl in das Gepäck geraten, das in rasender Hast für die Überfahrt geschnürt worden war? Er hatte es Friedrich geschenkt, zu einem Weihnachtsfest, als sie für Spielzeug kein Geld hatten. Unzählige Male hatten er und Marthe sich gewünscht, sie könnten diesen einen Tag in ihrem Leben noch einmal durchleben und das Schicksal umkehren – und jetzt wünschte er sich nichts als dieses Weihnachten zurück. Er wünschte, er hätte sich auf den Boden knien und mit seinem kleinen Sohn mit dem Holzschiff spielen können.
»Pack das ein«, sagte Inga. »Hier braucht es keiner mehr.«
Christoph drückte das kleine Schiff in seiner Hand und legte es zurück in den Korb. »Du hast recht, wir hätten andere Wege einschlagen müssen. Schon um euretwillen.«
»Das letzte Mal hättest du das tun können, als Kathi ging«, sagte sie. »Hast du dich gefragt, wie ich mich fühle, wenn du dieses Ammenmärchen über deine Vaterschaft öffentlich machst? Hast du dich gefragt, wie deine Kinder sich fühlen?«
»Aber das musste ich doch!«, rief Christoph. »Das hatten Marthe und ich vereinbart …« Dann verstummte er. Sie hatte wiederum recht. Flüchtig glaubte er, sie werde den Korb nehmen und die Küche verlassen, weil es ja nichts mehr gab, das er zu seiner Verteidigung sagen konnte. Sie aber blieb stehen, lehnte den Rücken an den Küchentisch und wartete.
»Ich glaube, wir waren verrückt«, sagte er langsam. »Das klingt wie eine Ausrede, aber sooft ich an uns denke, kommen wir mir vor wie Verrückte. Wie Menschen, die sich in der Welt nicht zurechtfinden und blindlings ins Leere tasten. Marthe und ich. Vera nicht. Vera war so zart und still, aber im Inneren hatte sie erstaunlich viel Kraft. Schon auf dem Schiff hatte sie uns überrascht, weil sie Spanisch lernte. Marthe und ich dagegen waren wie die Überseekoffer – über Nacht aus unserem Leben gerissen und auf dieses Schiff geworfen. Wir sollten einem neuen Glück entgegensegeln, aber Marthe und ich waren seekrank, hatten Heimweh, und ich glaube, wir wussten beide nicht, wo Mexiko liegt.« Er brach ab. »Verzeih mir. Ich sollte mich nicht herausreden.«
»Sprich weiter«, sagte sie.
»Vielleicht hätten wir uns ja gefangen«, fuhr er fort. »Unser Vater hatte versprochen, der Onkel würde uns im Hafen abholen, er hätte eine Stellung für mich und würde für Vera und Marthe geeignete Bräutigame finden. Unter einem Hafen stellten wir uns Hamburg vor, aber der Hafen von Veracruz war eine Sammlung Blechhütten und von Fliegen umsummter Marktstände. Kein Mensch sprach Deutsch, und in der Gluthitze konnte Marthe nicht atmen. Am Kai wartete kein Onkel – der war mit seinen Silberbergwerksanteilen gerade bankrottgegangen und hatte keine Ahnung, dass wir auf ihn warteten. Wir kannten keinen Menschen, wir mussten irgendwie das Gepäck aus diesem Hafen schleppen und den Onkel finden. Und dann kam der Überfall. Wenn wir bis dahin noch einen Rest von Kraft hatten – danach hatten wir keine mehr.«
»Ihr wart drei Wochen lang in der Gewalt der Banditen, richtig?« Ihre klaren Augen sahen ihn an. »Es waren alles Indios, und ihr konntet kein Wort mit ihnen sprechen?«
Christoph nickte. »Fünf Männer. Mit ihnen sprechen konnte nur Vera. Die fragten sie, wer Lösegeld für uns zahlen würde, und sie gab ihnen den Zettel mit Onkel Sieverts Adresse. Aber das alles kennst du ja. Das wurde ja hundertmal erzählt.«
»Nein«, sagte Inga. »Es wurde hundertmal angedeutet, aber sooft Fiete oder ein anderer die Geschichte fortführen wollte, bekam Marthe einen ihrer Anfälle. Ich habe es nie im Ganzen gehört. Es war eines dieser Geheimnisse, an die man nicht rühren durfte, weil sonst angeblich das Gebäude einstürzte.«
Vor dem Fenster zogen in endloser Reihe die Franzosen aus der Stadt. »Die Männer sagten zu Vera, sie würden uns töten«, fuhr Christoph fort. »Sie würden uns mit ihren Macheten die Hälse durchschneiden, wenn Onkel Sievert nicht zahlte. Onkel Sievert zahlte nicht. Er hatte selbst nichts, und außerdem glaubte er von der Geschichte kein Wort. Damals waren solche Entführungen gang und gäbe, aber er wusste schließlich nicht einmal, dass seine Nichten und sein Neffe sich in Veracruz befanden.«
»Hattet ihr Angst, ihr würdet sterben?«, fragte Inga.
Christoph schluckte. An das Gefühl, den knochentrockenen Gaumen, erinnerte er sich bis heute. »Ich glaube, wir hatten so viel Angst, dass wir keine Angst mehr hatten«, antwortete er. »Dass wir nichts mehr fühlten und auch nichts Klares mehr dachten. Ergibt das einen Sinn? Die Männer waren alle klein, nur der Anführer war ein großer Kerl mit unglaublich eleganten Händen. In diesen Händen hat er die Machete gehalten und zu Vera gesagt, dass er noch einen Tag wartet. Danach schnitte er jeden Tag einem von uns mit der Machete durch den Hals.«
»Aber das hat er nicht getan.«
»Nein. Am nächsten Morgen kam ja der andere Mann. Der Freund des Anführers.«
»Vicente«, sagte Inga.
Jahrzehntelang hatte er den Namen nicht mehr gesprochen gehört. Für ein paar Herzschläge schwiegen sie, wie zum Gedenken.
»Er hat die anderen bewegt, euch gehen zu lassen?«, fragte Inga dann.
Christoph nickte. »Vera hat später gesagt, sie hätten uns ohnehin gehen lassen. Sie hatten Hunger. Sie waren aus irgendeinem Bergland mit viel Wald gekommen, um im Hafen Arbeit zu finden, aber es gab ja keine, und sie hatten einen Haufen kleiner Kinder. Sie waren keine Mörder, hatte Vicente zu Vera gesagt, aber für Marthe und mich war das Gerede ohne Bedeutung. Der Anführer hatte mir doch die Machete gezeigt und mir gesagt, ich sei am nächsten Morgen tot. Wie kann sie sagen, es sind keine Mörder?, habe ich gedacht. Verstehst du das?«
»Ja«, antwortete Inga. »An deiner Stelle hätte ich genauso gedacht.«
Er wollte nicht weitersprechen. Er wollte, dass sie die Arme um ihn legte, wie sie es getan hatte, als sie jung waren, sooft ihn die Träume aus dem Schlaf rissen. »Alles, was wir danach taten«, begann er mühsam, »war, als täten es nicht wir. Als handelte die Angst für uns. Marthe, die sich in Peter verliebte, die überzeugt war, sie müsse sterben, wenn sie nicht Peter bekam. In der Heimat war Marthe das vernünftigste Geschöpf, das herumlief, aber dort, in der Fremde, verlor sie den Verstand. Wir mussten uns an etwas festklammern. An der Familie. An Peter Lutenburg. An irgendetwas, um nicht ohne Halt in diesem Meer aus Angst zu treiben.«
»Ich verstehe«, sagte Inga. »Deshalb musste Marthe um jeden Preis Peter haben, und dass der ihre Schwester wollte, war nicht zu ertragen. Aber was war mit dir, Christoph? Hast du dich auch nur verzweifelt an etwas festgekrallt?«
Es war die erste Antwort, über die er nicht nachdenken musste. »Nein«, sagte er. »Ich habe dich geliebt. Ob in der Heimat oder in der Fremde, ich hätte dich überall gefragt, ob du mich nimmst. Nur wäre ich ohne das alles vielleicht in der Lage gewesen, aus unserer Ehe etwas zu machen.«
Wieder waren sie lange still, ehe Inga fragte: »Willst du mir einen Gefallen tun, Christoph? Lerne, diese Orte beim Namen zu nennen – Hamburg, Veracruz, Mexiko-Stadt, nicht die Heimat, die Fremde und wer weiß, wie weiter. Du kannst doch nicht etwas Heimat nennen, das du bald vierzig Jahre nicht gesehen hast. Und wenn es jetzt sein muss, dass wir auch diese Stadt wieder verlassen, kommt man mit Heimat und Fremde allmählich durcheinander.«
»Ich will das nicht«, sagte er fast unhörbar. »Diese Stadt verlassen. Ich will, dass wir hierbleiben und endlich ankommen können. So zerrupft, wie wir eben sind.«
Sie deckte das Tuch wieder über den Korb. Dann hob sie die Hand und strich ihm flüchtig über die Wange. »Ich gehe jetzt. Dörte und Stefan werden warten, und die von Schweinitz wollen vor dem Abend aufbrechen.«
»Inga, ich weiß, die Familie bedeutet dir nichts …«
»Da irrst du«, sagte sie. »Die Familie bedeutet mir alles, denn etwas anderes habe ich nicht. Aber zur Familie gehören auch Felice, Felix und sein kleiner Sohn.«
»Und Kathi.«
Inga und Christoph drehten sich um. In der Tür stand Marthe. Sie hielt das uralte Bild, die Daguerreotypie, in der Hand. »Nimmst du das mit?«, fragte sie. »Für den Kleinen. Helene hat es nicht haben wollen, und ein anderes Bild gibt’s ja von uns nicht.«
Die beiden Frauen sahen einander an. Einmal hob Inga den Arm, senkte ihn aber wieder und tat keinen Schritt. Kurzerhand durchmaß Marthe den Raum und stopfte das Bild in ihren Korb. »Erklär’s ihm, ja? Seine Familie von der väterlichen Seite. Tante Jette, Tante Luise, Tante Helene, Tante Josephine und Tante Katharina. Onkel Stefan kennt er ja schon.«
Von der Vordertür rief Stefan in erstaunlich resolutem Ton, er müsse fahren. Inga nahm den Korb auf den Arm und lief mit erstaunlich leichtem Schritt aus dem Raum.
Das Wasser des Weihers schillerte grünlich, aber unter der Oberfläche war es rein wie Glas. Es war eine Wohltat, sich waschen und die Kleider wechseln zu können. An die Schwaden von Gestank, die sie auf ihren Märschen umhüllten, würde sich Benito nie gewöhnen.
Hier in Puebla, das sie in einem Blitzangriff genommen hatten, würde seine Einheit nicht lange bleiben. Porfirio Diaz, der ein Feldherr wie ein doppelschneidiges Schwert war, plante, einen Teil seines Heeres nach Norden zur Verstärkung der Truppen Escobados zu senden, also galt es, die kurze Pause zu nutzen. Benito stieg in die Hosen, füllte einen Napf mit Wasser und kniete sich davor, um sich zu rasieren. »Ihr Indios wachst zu wie die Affen«, hatte Guerrero gesagt. »Und ihr Kreolen werdet kahl wie die Eier«, hatte Benito erwidert, und sie alle hatten gelacht.
»Du musst nicht denken, dass ich dich nicht schätze, Capitán«, beteuerte der Sohn eines Hacendados, der ihm kaum je von der Seite wich. »Du bist mein Held, und wenn du hundertmal die falsche Hautfarbe hast. Falls du nach dem Krieg Arbeit suchst, dann denk an Gustavo Guerrero. Auf meines Vaters Hacienda wird sich schon Platz für dich finden – mit bester Behandlung, dafür stehe ich ein. Kein Schlafen im Stroh, keine Schläge, keine Würmer.«
»Das kann ich nicht annehmen«, hatte Benito gesagt. »Was soll ich ohne Würmer denn essen? Kleine Kinder?«
Sie lachten jetzt viel, und das ewige Versprechen »nach dem Krieg« klang wie ein Lied, an dessen Refrain sie zu glauben lernten. Dass dennoch ein jeder von ihnen unter denen sein konnte, die die Erfüllung des Versprechens nicht erlebten, schwang in all ihren Worten mit, in der ständigen Verbrüderung wie im Austausch von Lebensgeschichten, in den Sentimentalitäten selbst beim Pinkeln. Vielleicht würde es ihnen später einmal peinlich sein, einander zu begegnen, doch in diesen Monaten hätten sie miteinander ihr letztes schweißverkrustetes Hemd geteilt.
Dem Versuch, sich mit dem Rasiermesser das Haar im Nacken zu stutzen, war kein Erfolg beschieden. Benito fluchte, als ihm die Klinge in die Haut schnitt. Gleich darauf ertönte eine Stimme hinter ihm. »Bei der Jungfrau, womit habe ich das verdient? Der Teufel soll mich holen, wenn das nicht mein Amarantfresser ist.«
Ehe er sich umdrehen konnte, sauste Ferrantes Hand auf seinen bloßen Rücken nieder. »Dios mio. Das letzte Mal waren Sie aber deutlich hübscher.«
»Wir werden eben alle älter.« Einen wiederzusehen, den man totgeglaubt hatte, war besser als alles Schwärmen vom Sieg.
Ferrante lachte. »Erzählen Sie’s mir. Was haben Sie angestellt, um sich derart erbarmungslose Prügel einzuhandeln?«
»Kaum sind Sie hier, wollen Sie schon wieder Geständnisse von mir? Ich denke, ich lasse mich in General Coronas Regiment versetzen.«
»Kommt nicht in Frage, Freundchen.« Ferrante griff ihm ins Haar und zog ihm den Kopf nach hinten. »Jetzt, wo ich Sie wiederhabe, behalte ich Sie bis zum bitteren Ende. Wenn Sie Ihrer Eitelkeit genug gefrönt haben, kommen Sie zur Besprechung in mein Zelt. Bis dahin kann ich Ihnen gern einen Spiegel borgen.«
»Vielen Dank. Ich begnüge mich lieber mit der Illusion.«
»Da tun Sie auch besser dran.« Lachend klatschte Ferrante ihm aufs Schulterblatt. »Beeilen Sie sich. Ich will heute Abend aufbrechen und euch Laffen vorher wenigstens die Marschroute zeigen.«
»Durch die Nacht mit den Kavalleristen und den schweren Geschützen? Haben wir es so eilig?«
Ferrante nickte.
»Und wohin gehen wir?«
»Nach Querétaro.«
»Das freut mich.«
»Was ist an der-Teufel-soll’s-holen-Querétaro zum Freuen?«
»Ich bin da geboren«, erwiderte Benito.
»Das hätte ich mir ja denken können.« Ferrante schnitt eine Grimasse. »Dass wir von da noch woanders hingehen, bezweifle ich.«
»Heißt das, der Habsburger gibt die Hauptstadt auf?«
»Ja, das heißt es.« Ihre Blicke trafen sich. »Es dauert jetzt nicht mehr lange. Sie können mir schon einmal erzählen, wovon Sie träumen, wenn der ganze Zauber vorbei ist.«
»Ich werde Bauer«, erwiderte Benito, während sein Gehirn sich fieberhaft mit anderem beschäftigte. »Und ab und an vertrete ich in Santiago de Querétaro ein paar Nachbarn, die sich wegen Taubendrecks vor ihren Fenstern verklagen.«
»Oho.« Der Coronel pfiff durch die Zähne. »Es geht doch nichts über einen Mann mit Ehrgeiz. Sind Sie jetzt schön genug? Können wir gehen?«
»Ich komme nicht mit.«
»Sie kommen nicht mit? Sind meine Ohren krank oder Ihr Verstand?«
Benito erhob sich, streifte sein Hemd über und suchte Ferrantes Blick. »Ich verspreche, ich stoße zwei Tage später zu Ihnen. Meine Einheit führt mein Teniente. Dass ich fehle, fällt überhaupt nicht auf.«
»Was Sie nicht sagen. Und was tun Sie in den zwei Tagen? Lassen Sie sich Locken brennen?«
Er senkte den Blick, sah in das hohe, von Kräutern und Farnen durchwucherte Gras. »Ich habe etwas zu erledigen.«
»Ach, und wo? Vielleicht in Veracruz?«
Ohne aufzublicken, schüttelte Benito den Kopf. »In der Hauptstadt. Aber Sie haben trotzdem recht.«
»Soso. Sie wollen also einen Wimpernschlag vor der Entscheidungsschlacht Ihre Truppe verlassen, um mit Ihrem Kinderliebchen zu poussieren. Dass das ein völlig wahnwitziges, unverschämtes Gesuch ist, ist Ihnen bewusst?«
»Ja, mein Coronel.«
»Wissen Sie was? Wenn Sie für Ihre Unverfrorenheit gepeitscht worden sind, haben Sie Ihren Teil noch lange nicht bekommen. Können Sie eigentlich bitte sagen?«
»Ich kann auf die Knie gehen. Ich kann kopfstehen und dabei mit den Ohren wackeln, wenn Sie wollen.«
»Und was tun Sie, wenn ich es Ihnen trotzdem verbiete?«
Benito hob den Kopf. »Dann desertiere ich.«
Der Coronel rieb sich den Bart und ließ ihn nicht aus den Augen. »Auf die Knie«, sagte er dann. »Zumindest den Anblick gönne ich mir. Und nicht länger als zwei Tage, haben Sie mich verstanden? Ich habe Ihr Wort, Alvarez.«
»Ja, mein Coronel.« Benito ließ sich vor ihm auf die Knie sinken. Ferrantes Hände umspannten seine Schultern und schüttelten ihn. »Sie sind das Verrückteste, Verwegenste und Vermessenste, was mir je untergekommen ist. Es lebe das freie Mexiko. Machen Sie der Señorita Veracruz gefälligst einen Haufen Bälger, wir haben Massen von Leuten verloren. Als Bauer in Ihrem Taubendreck haben Sie ja ohnehin nichts Besseres zu tun.«
Sie vertrug keinen Alkohol mehr. Schon seit Weihnachten nicht. Sie hatte sich einen leichten, spritzigen Weißwein, eine Gabe des Kaisers, eingeschenkt, aber sobald sie daran roch, wurde ihr sterbensübel. Über ihre Pferdegesundheit hatten ihre Vettern Witze gerissen. »Der Kathi kannst du Unkraut füttern. Die bringt nichts um.« Hatte sie sich mit dem Trinken diese prächtige Gesundheit ruiniert? Sie schob den Wein beiseite. Was, wenn kein Alkohol half gegen die ewige Angst, gegen den Abgrund aus Einsamkeit?
Vor ein paar Tagen war Claudius von Schweinitz da gewesen, war an dem Sepp, der ihm drohte, einfach vorbeispaziert. »Ich glaube nicht, dass Sie auf mich schießen möchten«, hatte er gesagt. »Ihr Kaiser würde noch immer gern Geld von mir borgen, er gäbe Ihnen sicher keinen Orden dafür.«
Katharina hatte er erzählt, der Abzug der Franzosen sei so gut wie abgeschlossen. Er und seine Frau würden mit den Kindern nach Tula fahren, falls es in den nächsten Tagen zu Tumulten käme. Sie nähmen eine kranke Frau namens Inez mit, und der letzte Platz in der Kutsche gehöre Katharina. »Ich kann nicht kommen«, hatte sie herausgepresst. »Ich muss hierbleiben. Bitte seien Sie mir nicht böse.«
Mir seinen breiten Schultern und seinem weißen Bart hatte er vor ihr gestanden wie ein freundlicher Bär. »Darf ich Sie einmal in die Arme nehmen, wie ein Vater es täte?« Im nächsten Moment hatte er sie schon an seine Brust gepresst. »Ihnen ist ganz gewiss niemand böse, Sie tapferes Ding. Wir haben nur Sorge um Sie.«
»Wird es denn schlimm werden? Was wird denn geschehen?«
»Das weiß ja kein Mensch, mein Mädchen. Ich denke, es wird nach ein paar Tagen Ruhe einkehren, aber es gibt eben immer Leute, denen Schlimmes widerfahren ist und die nicht wählerisch in ihrer Rache sind. Versprechen Sie mir eines? Meine Tochter und mein Schwiegersohn bleiben in der Stadt. Martina wird als Ärztin natürlich gebraucht, und Felix assistiert ihr, vermutlich sind die beiden ständig unterwegs. Versuchen Sie trotzdem sie zu erreichen, wenn Sie Hilfe brauchen. Sie sind nicht allein, Kathi. Bitte denken Sie nicht, Sie seien allein.«
Doch, das bin ich, dachte sie, aber die warme Woge, die sie durchströmte, tat wohl. Kaum war der Baron gegangen, schlotterten ihr wieder die Glieder. Sie musste sich in den Sarape wickeln und auf die Veranda setzen, in das bisschen Sonne, das durch die Kronen der Zypressen fiel. Bei mir fängt es an wie bei Valentin und seinem Kaiser. Mein Leben macht mich krank.
»Wie siehst du denn aus?«
Vor der Veranda sprang Valentin vom Pferd. Sie hatte ihn nicht erwartet. Er sei jetzt kaum mehr abkömmlich, hatte er ihr zu verstehen gegeben, zum Schutz des Kaisers werde er jetzt ständig gebraucht.
»Liebster!« Im Aufspringen wurde ihr bewusst, was er gesagt hatte. In der Tat, sie sah zweifellos grauenhaft aus. Das Haar zerrauft, das Gesicht nicht zurechtgemacht, das Kleid ohne Schnürleib und die Füße nackt. Am schlimmsten aber war der Fetzen, den sie um die Schultern trug. Sie ließ ihn fallen und trat ihn unter den Stuhl. »Ich wusste ja nicht, dass du kommst.«
»Eine Frau, die auf sich hält, sieht zu jeder Zeit gepflegt aus«, tadelte er. Ein Blick auf ihn verriet ihr, dass er es nötig hatte, sie zu kränken. Er war noch bleicher, noch abgezehrter als vor Tagen. Als wäre er dem Tod begegnet, sah er aus. Sie umarmte ihn.
Sein Sträuben dauerte nicht lange. Sie ließ ihn das Pferd anbinden, dann zog sie ihn mit sich ins Haus. Den missbilligenden Blick, den er dem zerwühlten Bett zuwarf, bemerkte sie, doch wenn sie ihn nur fest genug liebte, käme er rasch darüber hinweg. Sie warf sich mit ihm nieder. Ihr war schon wieder übel, und sie fühlte sich zum Lieben zu müde, aber um seinetwillen gab sie, was sie konnte. Ihr Lohn war sein Gesicht, das sich, als er aus ihr herausglitt, für kurze Zeit entspannte, seine schönen, gequälten Augen, die sich friedvoll schlossen. Sie küsste seine Wangen und liebkoste seine Stirn. Dann stand sie auf und holte die Karaffe mit seinem liebsten Port. Er hatte ihr beigebracht, welche Gläser zu dem Getränk gehörten, aber heute war es ihr egal. Sie stellte die beiden kristallenen Weingläser bereit, die er ihr geschenkt hatte, die Gläser, die sie in ihrer glücklichsten Zeit, bei ihren Picknicks in der Alameda, benutzt hatten.
Mit ihrer Gesundheit würde es wieder besser werden, vielleicht vertrug sie nur den herben Weißwein nicht. Sie setzte sich vor das Bett, schenkte die Gläser voll und streichelte die glatte Haut seiner Hüfte. Leise stöhnte er auf. Sie liebkoste ihn weiter.
»Katharina?«
Er nannte sie fast nie beim Namen. Sie blickte auf und reichte ihm ein Glas.
»Ich muss fort.«
»Ich weiß, Liebster. Ich weiß.« Es war ja nichts Neues. Dass er die Nacht über bleiben konnte, hatte sie nicht erwartet, und wenn sie ehrlich war, war sie nicht einmal enttäuscht. Sie fühlte sich schwach – wenn sie Zeit hatte, wieder zu Kräften zu kommen, würde sie ihm mehr zu geben haben.
»Du verstehst mich nicht«, sagte er. »Warum nimmst du dein Glas nicht? Willst du nicht wenigstens auf mein Kriegsglück trinken und beten, dass der Allmächtige mich schützt? Du bist keine Katholikin, das habe ich nie so stark gespürt wie in der Not.«
Sie nahm ihr Glas, streichelte weiter seine Hüfte, legte alle Zärtlichkeit in die Bewegung. »Natürlich trinke ich auf dein Glück, mein Liebster, und ich bitte Gott, dich zu behüten. Willst du, dass ich Katholikin werde?« Sie hatte nie darüber nachgedacht, aber wenn es ihm so viel bedeutete, warum sollte sie es ihm nicht geben? Sie hob ihr Glas. »Auf dich, Geliebter, auf den tapfersten Offizier des Kaisers.« Als der Geruch des Ports ihr in die Nase stieg, begehrte ihre Kehle auf, als würde sie sich umstülpen. Sie ließ das Glas fallen, sprang auf und rannte nach draußen. Das Klirren, mit dem das Kristall zersprang, gellte ihr in den Ohren, ehe sie sich ins Gras vor der Veranda erbrach.
Es dauerte lange, ehe sie sich stark genug fühlte, sich aufzurichten. Sie taumelte hinunter zum flachen Ufer des Sees, wusch sich das Gesicht und spülte sich den Mund aus. So beherrscht wie möglich kehrte sie zu ihm zurück.
»Was ist los mit dir?« Zornig wies er auf die Scherben, die in dem dunklen Port wie in einer Blutpfütze lagen. Eines der Gläser, die ihre Ritte überdauert und den Beginn ihrer Liebe begleitet hatten, war auf immer zerstört. »Ich sage dir das nicht gern, aber wenn du dich so gehenlässt, siehst du geradezu hässlich aus.«
Sie blickte an sich hinunter. Fraglos hatte er recht. Sie packte eine Strähne ihres grässlichen Haars und riss daran. »Es tut mir leid«, sagte sie.
»Ruf Rosa, die soll die Schweinerei beseitigen.«
»Rosa hat frei. Es geht ihrer Mutter nicht gut.«
»Maria und Josef, wozu bezahle ich das Weibsstück?«
»Lass gut sein«, sagte sie und ging, um die Kehrschaufel zu holen. Als sie die Scherben auffegte, musste sie noch einmal würgen, doch ihr Magen war leer.
»Hörst du mir jetzt endlich zu?«
Katharina nickte.
»Ich habe gesagt, ich muss fort. Ich habe nicht gemeint, ich gehe in eine Schlacht und komme, so Gott will, hierher zurück. Ich gehe mit dem Kaiser fort.«
Du hast jeden Satz mit »Ich« angefangen, durchfuhr es Katharina. Obwohl sie nichts gesagt hatte, biss sie sich auf die Lippe.
»Die entscheidende Schlacht steht bevor«, fuhr Valentin fort. »Wir verlassen Mexiko-Stadt, um unser Hauptquartier an einem geeigneten Ort einzurichten und die beiden Heere des Feindes einzeln zu schlagen. Dem Kaiser wurde angeraten, seine europäischen Truppen hierzubelassen, aber ohne einen einzigen Vertrauten kann nicht einmal er dieser Herkulesaufgabe ins Auge sehen. Er hat mich gebeten, ihn zu begleiten, und ich werde voll Stolz an seiner Seite sein.«
Wie schon oft dauerte es eine Weile, den aufgeblasenen Worten die Luft auszulassen und zu erfassen, was als Inhalt darin steckte. »Wohin gehst du?«, fragte sie endlich. Als sie in seine Augen sah, fand sie die Todesangst, die er so mühsam verbarg.
»Das musst du nicht wissen.«
»Doch, Valentin.« Sie beugte sich über ihn und küsste ihn auf die zerfurchte Stirn.
»Nach Querétaro.«
Ihr Herz vollführte einen Satz. Als würde man den Namen eines lang vermissten Menschen hören. Sie schloss die Hände um sein gequältes Gesicht. »Ich komme mit dir, Liebster«, sagte sie.
»Das geht nicht!«
»Doch. Wohin du auch gehst, ich komme mit dir.«
Sie spürte die Nägel seiner Finger, die sich in ihr Fleisch gruben. Das, was er nicht aussprach – lass mich nicht allein –, sagte ihr der scharfe Schmerz. Sie schloss die Arme um seine Schultern und wiegte ihn. »Ich lasse dich nicht allein, mein Liebster. Was immer geschieht, ich lasse dich nicht allein.«
Seine Nägel krallten sich noch fester. »Wir kommen vielleicht nicht mehr wieder. Es geht um alles. Um mehr als Leben und Tod.«
Mehr als Leben und Tod konnte es ja nicht geben. Sie küsste ihn. Seine Wangen hinunter rannen Tränen. »Deshalb bleibe ich bei dir«, sagte sie. »Wie kannst du denn denken, ich ließe dich allein?«
Sie mochten das Kristall aus der Zeit ihres Glücks zerschlagen haben, aber sie würden einander nicht alleinlassen. Sie hatten alles verloren, um einander festzuhalten.
»Ist es dir ernst damit? Du kommst mit mir?«
»Ich liebe dich, Valentin. Wo soll ich denn hin ohne dich?«
Er atmete auf. Sie hielt ihn an sich gepresst. Als noch einmal ein Schub der Übelkeit aufkam, schluckte sie, bis das Würgen verebbte.