42

Stefan schämte sich. Wenn er einmal nüchtern Bilanz zog, so hatte er sich während des längsten Teils seines Lebens geschämt. Martinas Hausmädchen hatte ihn eingelassen, und jetzt wartete er in dem beinahe leeren Raum, dessen Wände Felix mit Motiven der mexikanischen Geschichte bemalte. Die linke Seite mit dem Gott Quetzalcoatl, der sich aus dem Maul der Schlange befreite und ins Licht des Morgensterns flog, war bereits fertig. Derzeit war Felix auf der rechten mit dem riesenhaften Antlitz einer Frau beschäftigt, an deren Zöpfen sich etliche Gestalten in die Höhe zogen. Bilder wie die von Felix hatte Stefan noch nie gesehen. Sie waren wuchtig, prallten mit der Gewalt ihrer Farben auf den Betrachter ein und hätten nicht nur ihrer Größe wegen jeden Rahmen gesprengt.

»Es tut mir leid«, murmelte Stefan, als er das Schweigen nicht länger ertrug. Auch dieser Satz hatte ihn fraglos den längsten Teil seines Lebens begleitet.

»Was tut dir leid?« Felix unterbrach die Arbeit. »Dass du mir nicht zur Verlobung gratuliert hast? Schwamm drüber. Wenn wir keine anderen Sorgen haben, sind wir zwei ziemliche Glückspilze.«

Stefan hatte gemeint, ihm tue leid, dass er ihm lästig falle, aber das spielte keine Rolle. Bei einem wie mir ist es egal, was die Leute verstehen – mir tut alles und jedes leid.

»Wie geht es denn zu Hause?«, fragte Felix im Weitermalen. »Alles wohlauf? Ist mein Vater auf seiner Kiste inzwischen zum Standbild erstarrt wie Großmutter Hille auf dem Thron?«

Jetzt hätte Stefan anführen können, dass er gekommen war, weil seine Mutter krank war, doch stattdessen nickte er. »Ja, sie sind alle wohlauf.«

»Und worüber zerreißen sie sich die Mäuler? Darüber, dass ich ohne Trauschein mit einer Halbwilden lebe und mich von ihr aushalten lasse? Darüber, dass sie Martinas Eltern trotzdem nicht das Deutsche Haus verbieten können, weil das Deutsche Haus sonst bankrott wäre, oder darüber, dass Kathi bei uns wohnt?«

»Über Kathi«, antwortete Stefan wahrheitsgemäß, denn die Namen Felix und Martina gehörten in der Hartmann-Burg zu den verbotenen Worten. »Aber sie zerreißen sich nicht die Mäuler, sie haben Sehnsucht, und sie machen sich Sorgen.«

»Ich verstehe«, behauptete Felix. »Und du bist sozusagen der Abgesandte der Sorgenmacher, der sicherstellen soll, dass wir Kathi nicht mit Amarant füttern oder sie der gefiederten Schlange opfern? Wen willst du eigentlich sprechen, Kathi oder Martina?«

»Benito Alvarez«, entfuhr es Stefan.

Felix ließ erneut den Pinsel sinken. »Dass hier reihenweise Frauen aufkreuzen, die Benito anschmachten, bin ich ja gewohnt – aber Männer?«

Stefan spürte, wie ihm die Röte in die Wangen stieg.

»Nicht beleidigt sein!« Felix hob die Hände. »Es war nur einer meiner dummen Witze. Ich fürchte, das zweifelhafte Talent habe ich von meinem Vater geerbt.«

Und wie dein Vater trittst du zielsicher in den Napf mit Fett, dachte Stefan. Felix sah ihn noch immer an und wartete auf eine Erwiderung. Als Kind hatte er diesen Jungen auf seinen Schultern reiten lassen, und jetzt erschien er ihm so viel erwachsener als er. »Ich hatte gehofft, ich könnte Kathi sehen«, murmelte er. »Aber da du sagst, das ist schwierig, würde ich gern Martina sprechen, wenn du nichts dagegen hast.«

Felix lachte, aber es klang nicht mehr heiter. »Was sollte ich dagegen haben, dass du Martina sprichst? Viel mehr interessiert mich, warum du mir erzählst, es gehe dir um Benito.«

»Weil …«, begann Stefan, rieb sich die Stirn und setzte noch einmal an: »Felix, kann ich dich etwas fragen?«

»Warum versuchst du’s nicht einfach? Martina müsste demnächst nach Hause kommen, aber weshalb sollten wir in der Zwischenzeit nicht so tun, als wären wir Vettern und hätten uns einmal gemocht?«

»Ich mag dich immer noch. Auch wenn ich wohl nie die Kraft aufbringe, über den Riesenschatten meiner Feigheit zu springen.«

Felix legte den Pinsel auf das Abtropfbrett. Auf dem Klapptisch stand ein Krug mit Zitronenwasser. Daraus füllte er zwei Gläser, reichte eines Stefan und setzte sich zu ihm. »War vermutlich nicht einfach, Tante Traudes ganzer Stolz zu sein«, bemerkte er. »Jetzt nimm den Frosch aus dem Hals und stell deine Frage. Ich bin Künstler – mir liegt Neugier im Blut.«

Dankbar trank Stefan, dem die Kehle vor Trockenheit brannte. »Wenn du jemandem ein Unrecht getan hast«, begann er, »ein schier unaussprechliches Unrecht, und wenn du ihn irgendwann wiedertriffst, was würdest du dann tun?«

»Mich entschuldigen?«, schlug Felix vor.

»Aber wenn es viele Jahre her ist, und wenn etwas zerstört worden ist, das sich ohnehin nicht gutmachen lässt – entschuldigst du dich dann auch? Oder lässt du die Wunde, über die ja längst Gras gewachsen ist, lieber unberührt?«

»Martina würde dir jetzt erklären, dass über Wunden kein Gras wächst«, erwiderte Felix. »Es sei denn, der Mensch ist tot. Und so, wie dir die Hände zittern, kann von Graswachsen wohl kaum die Rede sein.«

»Ich bin nicht der Verletzte«, murmelte Stefan.

»Nein«, bekundete Felix, »der Verletzte ist Benito, so viel habe ich mir aus deinem Gestammel zusammengereimt. Und wenn du dich bei dem für irgendwas entschuldigen willst, rate ich dir: Tu’s. Benito mag ein bisschen überlebensgroß erscheinen, aber er ist ein Kerl zum Pferdestehlen, und vermutlich hat er das Zeug, über das du dir den Kopf zerbrichst, längst vergessen.«

»Ja, vermutlich, aber … Felix, weißt du wirklich nicht, wer Benito Alvarez ist?«

»Doch«, sagte Felix. »Das weiß ich. Aber da ich nicht weiß, was du weißt, wäre es mir lieber, wir würden darüber nicht sprechen. Martinas Vertrauensseligkeit bereitet mir schlaflose Nächte genug.«

»Das meine ich nicht«, entgegnete Stefan hastig. »Ich wollte sagen, ich meine nicht das, was er politisch tut. Das geht mich nichts an, und wenn Martina davon spricht, höre ich nicht hin. Benito war Onkel Peters Pferdebursche. Du warst noch klein, vielleicht erinnerst du dich nicht – aber er war jahrelang bei uns.«

»Benito hat bei uns gewohnt? Er kannte uns als Kinder?« Felix hatte sichtlich Mühe, das Gehörte zu verkraften. »Was für ein Geheimniskrämer! Ich frage mich nur, ob Martina das gewusst hat.«

Er sollte sofort Gelegenheit erhalten, die Frage zu stellen. Die Tür wurde aufgestoßen, und mit einem abgewetzten Koffer beladen stürmte Martina herein. Sie ließ den Koffer fallen, warf die Mantilla ab und entblößte einen mit schwärzlichem Blut bespritzten Kittel. Felix fragte sie nicht nach Benito. Er rückte ihr einen Stuhl hin und gab ihr sein Wasserglas. »War’s schlimm?«

»Ziemlich.« Sie streckte die Beine von sich und sandte Stefan ein erschöpftes Grinsen. »Nett, dich zu sehen. Falls du allerdings zu Katharina wolltest, muss ich dich enttäuschen. Wir bekommen sie selbst seit Wochen kaum zu Gesicht.«

»Ja, das hat Felix erzählt. Sie sagt auch ständig ihren Unterricht ab, obwohl das ganz und gar nicht ihrer Art entspricht.«

»Damit wäre ich vorsichtig«, entgegnete Martina. »Dass sie es zehn Jahre lang nicht gemacht hat, muss nicht heißen, dass es nicht ihrer Art entspricht. Vielleicht hatte sie nur nie einen Grund.«

Stefan biss sich auf die Lippe. »Was meinst du damit?«

»Frag sie selbst«, erwiderte Martina kühl. »Und starr mich nicht an, als wäre ich die Anstandsdame, die auf sie hätte aufpassen müssen. Das wäre an dir gewesen, nicht an mir. Sosehr es mich zur Weißglut treibt, dass sie sich von dem Säbelrassler des Usurpators einwickeln lässt – verübeln kann ich es ihr nicht.«

»Martina!«, rief Felix, wandte sich zu Stefan und beteuerte hastig: »Sie meint es nicht so.«

»Und ob ich es so meine! Maximilian von Habsburg ist ein Usurpator, und wenn ich das in meinem Haus nicht mehr sagen darf, dann darfst du auch nicht Josefa Ortiz an meine Wände malen. Obwohl mir Stefan sicher gleich erklären wird, dass der Usurpator doch so viel Gutes für uns tut, dass er den Satan Marquez ins Ausland schickt, die Protestanten toleriert und im ganzen Land neue Eisenbahnen und Telegraphen baut.«

»Ist das denn nicht richtig?«, fragte Stefan, für einen Augenblick abgelenkt. Der Kampf, den er seit Wochen mit sich selbst ausfocht, hatte ihn gehindert, die Ereignisse im Land zu verfolgen. Aufgeschnappt hatte er nur, dass die französische Armee auch Querétaro und San Luis Potosí für den Kaiser eingenommen hatte, dass Juárez nach Chihuahua geflohen war und dass niemand mehr ernsthaft mit einem Ende des Kaiserreichs rechnete. Im Deutschen Haus war man dem katholischen Österreicher nach wie vor feindlich gesinnt, aber Stefan hatte auch sagen hören, dass alles besser sei als das ewige Kämpfen. »Braucht Mexiko denn nicht endlich Frieden?«, fragte er.

»In der Tat, den braucht es.« Ihre Augen blitzten ihn an. »Aber Frieden heißt nicht, dass einer von weit her in dieses Land marschiert und mit seinen Nagelstiefeln alles stumm tritt, was den Mund aufreißt. Das Zertretene wächst nach, Stefan. Es wird so lange nachwachsen, bis der Kerl sich die Stiefel durchgelaufen hat, und unter Stiefeltritten gedeiht kein Frieden.«

Felix wollte etwas sagen, gewiss Martina hindern, sich mit ihren Worten in Teufels Küche zu bringen, doch er kam nicht dazu, da es klopfte. Das Hausmädchen meldete noch einen Besucher, Martina stieß einen Schrei aus, und dann trat wie herbeibeschworen Benito Alvarez ins Zimmer. Es war merkwürdig, ihn in Fleisch und Blut zu sehen, im gutgeschnittenen Anzug, mit zurückgekämmtem Haar und dem Hut in der Hand. Es gab nur einen Mann, an den Stefan in den vergangenen fünfzehn Jahren häufiger gedacht hatte.

»Ich könnte behaupten, ich wollte euch nicht stören«, sagte er lächelnd. »Aber um ehrlich zu sein, genau das wollte ich.«

Martina sprang auf und fiel ihm um den Hals. »Ich dachte, du bist auf dem Weg nach Michoacán«, rief sie. »Ay Dios mio, Benito, ich habe wirklich gedacht, du wärst schon fast in Michoacán.«

»Das ist das Einzige, für das ich sie schütteln könnte«, sagte Felix zu Stefan. »Man kann seinen Kopf darauf verwetten, dass sie so oft Michoacán sagt, bis du keine Wahl hast, als zu fragen, was sie damit meint.«

»Martina«, sagte Benito Alvarez noch immer lächelnd und befreite sich. »Ich versichere dir, ich bin nicht in Michoacán.«

»Warum nicht? Hat Romero Vernunft angenommen und entschieden, dich zu schonen?«

Sein Lächeln war unerschütterlich. »Du erwartest nicht ernsthaft, dass ich dir darauf antworte, oder?«

»Stefan können wir trauen!«, rief sie, senkte aber mit einer Spur Verlegenheit den Kopf.

»Selbstverständlich«, erwiderte er und hörte zu lächeln auf. »Guten Abend, Felix.« Mit einem Kopfschwenk wies er auf das unvollendete Wandbild. »Deine Josefa ist formidabel. Sie sieht aus, als könnte sie diesen Batzen von Land auf dem Kopf tragen. Genau das, was uns nottut. Guten Abend, Herr Hartmann.«

Stefan sprang auf. Da der andere ihm seine beneidenswert elegante Hand reichte, blieb ihm nichts übrig, als einzuschlagen, und auch dem Blick der braunen Augen konnte er nicht ausweichen. Der Mann war bereits in der Jugend auf eine Weise schön gewesen, die Stefan weh getan hatte, und dasselbe schmerzhafte Zucken im Herzen verspürte er jetzt. Gewiss, er war mager, wirkte erschöpft und musste an die sechsunddreißig sein, kaum jünger als Stefan selbst. Seine Schönheit aber hatte etwas Unzerstörbares, das über die klaren Züge und die körperliche Wohlgestalt hinausging und der Zeit standhalten würde. Stefan senkte den Blick.

Benito Alvarez ließ seine Hand los.

»Setz dich«, sagte Felix und zog einen Stuhl heran. »Wir sind alle ein bisschen aufgewühlt, was? Könnten etwas Stärkeres vertragen als Wasser.«

Martina hielt die Mezcal-Flasche bereits in der Hand und füllte vier Gläser.

»Für mich nicht«, sagte Benito Alvarez. »Ich muss heute noch weiter.«

»Hab dich nicht so«, versetzte Martina und drückte ihm das Glas in die Hand. »Ich verspreche, ich habe keine Windensamen eingestreut.«

»Vielleicht würde ich es trinken, wenn du welche eingestreut hättest«, erwiderte er und wollte das Glas abstellen, aber diesmal hinderte ihn Felix.

»Du trinkst das besser aus«, sagte er. »Ich habe nämlich ein Hühnchen mit dir zu rupfen.«

Benito lächelte und setzte sich. »Kannst du schnell rupfen? Ich bin schon mehr als fünf Stunden zu spät, und bevor ich gehe, wollte ich euch um einen Gefallen bitten. Auch wenn ich nicht zählen kann, um wie viele ich euch schon gebeten habe.«

»Ich habe nur eine Frage«, sagte Felix. »Mein Vetter hat mir gerade erzählt, dass du uns alle schon kanntest, als wir noch in den Windeln steckten – mich, Stefan, Kathi und den ganzen Rest.«

»Wie bitte?«, fuhr Martina dazwischen.

»Das kannst du laut sagen.« Felix fasste sein Gegenüber ins Auge. »Darf ich fragen, warum du uns das nie erzählt hast?«

Stefan sah die Ader, die an der Schläfe des Mannes zu pochen begann, und das schmale Rinnsal Schweiß. »Es ist meine Schuld«, erklärte er. »Ich habe ihn darum gebeten, jede Verbindung mit unserer Familie zu kappen. Bitte hört auf, ihm zuzusetzen. Er konnte ja nicht wissen, dass er Jahre später euch begegnen würde.«

»Vielen Dank, Herr Hartmann.« Benito Alvarez wandte sich ihm zu. »Es ist sehr nobel, dass Sie für mich in die Bresche springen, aber als Strafverteidiger müsste ich eigentlich allein fertig werden. Martina und Felix haben recht, ich hätte es ihnen sagen müssen, und ich habe es nicht aus Rücksicht auf Sie, sondern aus Feigheit nicht getan.«

»Soso«, bemerkte Felix. »Irgendwer hat mir gestern noch erzählt, du seist der mutigste Mann, der in dieser Stadt herumläuft. Ein Held, Benito.«

»Irgendwer erzählt solches Zeug immer«, erwiderte Benito müde. »Und Helden sind vermutlich Männer, denen der Mut fehlt, vor der eigenen Tür zu kehren. Verzeihst du mir? Ja, ich habe dich als Kind gekannt, zumindest vage. Du warst etwa sechs Jahre alt und hast im Stall die Wände bemalt.«

»Und Kathi auch?«

»Nein«, sagte Benito, den Stefan in der Tat erstaunlich mutig fand, und senkte zum ersten Mal den Kopf.

»Was nein?«

»Katharina hat nicht die Wände bemalt.«

Martina war hinter ihn getreten und bohrte ihm die Finger in die Schultersehnen. »Meine Freundin Katharina ist genauso eine Lügnerin wie du«, sagte sie. »Ich habe ihr hundertmal von dir vorgeschwärmt, bevor der verfluchte Säbelrassler aufgetaucht ist, aber glaubst du, sie hat ein einziges Mal zu mir gesagt: Liebste Martina, diesen Kerl, über den du mir ein Ohr abschwatzt, den kenne ich? Nicht ein Wort! Und warum seid ihr beide solche Lügner? Warum erzählst du mir, sie sei dir an dem Tag begegnet, an dem der gottverfluchte Kaiser kam?«

Felix schob Benito das Glas mit dem Mezcal hin und zwinkerte ihm zu, aber Benito schien ihn nicht zu sehen und rührte das Glas nicht an. »Weil ich der Ansicht war, das sei meine Sache«, sagte er zu Martina. »Ich weiß, das widerspricht deiner Auffassung von Freundschaft, und du hast recht, du hättest Besseres von mir verdient.«

Warum redete er sich nicht heraus, fragte sich Stefan, warum sagte er nicht, das alles sei eine längst vergessene Kinderei?

»Das hätte ich allerdings«, entgegnete Martina scharf. »Du hast mich getäuscht, mein Bester – und ich habe auch noch versucht dir zu helfen.«

»Jetzt lass doch dem armen Mann seinen Frieden«, schimpfte Felix. »Seine Abreibung haben wir ihm verpasst, aber nun muss es auch gut sein. Was ist denn schon passiert? Wenn ich richtig verstanden habe, hatte er vor Urzeiten ein Geplänkel mit meiner Base Kathi, und wenn meine heilige Familie davon etwas erfahren hätte, hätten sie ihn mit der Hundepeitsche totgedroschen. Du hast keinen Grund, dasselbe zu tun, nur weil er dir nicht jeden Kuss beichtet, den er je von einem Mädchen bekommen hat.«

Benito Alvarez drehte sich mit einem halben Lächeln zu ihm um. »Besten Dank, Kamerad. Bei Gelegenheit revanchiere ich mich, aber Martina hat trotzdem recht.«

»Und ob ich recht habe!«, rief Martina. »Die Küsse, die dieser Kerl von irgendwelchen Mädchen bekommen hat, kann er doch selbst nicht mehr zählen, aber das eine darfst du mir glauben: Wenn ein Mann dieses Funkeln in den Augen hat, dann weiß ich Bescheid. Dann geht es nicht um ein paar Küsse, und Hundepeitschen helfen gar nichts dagegen. Ist es so, oder erzähle ich Unsinn, Señor Capitán?«

»Es ist so«, erwiderte Benito höflich. »Aber es nützt nichts.«

Er liebt sie noch immer, wurde Stefan plötzlich klar. Er hat sich aus dem Elend herausgekämpft und sein Leben gestaltet, wie er es wollte, er hätte hundertmal heiraten können, aber er hat sie nie vergessen. Was wir ihm angetan haben, ist noch viel ungeheuerlicher, als ich es mir vorgestellt habe.

Sie hätten so nicht handeln dürfen. Was immer es nach sich gezogen hätte, sie hätten nicht diesen Mann opfern dürfen, der nichts verbrochen hatte, als Kathi von ganzem Herzen zu lieben. Wir hätten es Kathi nicht antun dürfen – mit der Liebe dieses Mannes hätte sie ihre Zeit in die Schranken weisen können, Kinder bekommen, ein Haus mit Leben füllen, Mexiko auf dem Kopf tragen wie Josefa Ortiz.

War es das, was seine Mutter ihr sagen wollte, hatte sie ihn nach Kathi geschickt, um sie um Verzeihung zu bitten, ehe sie starb? Aber es war doch zu spät, es nützte doch nichts mehr. Glasklar erkannte Stefan, dass das nichts änderte, dass er es dem anderen schuldig war, seinen Fehler zu bekennen.

»Señor Alvarez«, sagte er.

Der Mann wandte den Kopf und hob eine Braue.

»Was ich Ihnen erzählt habe … damals, in Veracruz – es ist nicht wahr!« Sein Herz hämmerte gegen seine Rippen. Als er seine Stirn umfasste, trafen seine Finger auf Schweiß.

»Ich weiß«, sagte Benito Alvarez.

»Sie wissen …«

»Ich habe Jahre gebraucht, um es herauszufinden. Aber ja, inzwischen weiß ich es.«

»Es ist meine Schuld!«, rief Stefan und spürte die Tränen, die ihm befreiend über das Gesicht strömten. »Ich habe zu Kathi gesagt: Er hat sich getröstet. Vergiss ihn. Wenn er es wert gewesen wäre, hätte er dich gesucht.«

»So ist es doch auch«, erwiderte Benito Alvarez und stand auf. »Lassen Sie die Schuld bitte dort, wo sie hingehört. Sie ist mein Eigentum, das Letzte, das ich an dieser Sache habe, und ich verteidige sie mit Zähnen und Klauen. Ich hätte Ihnen nicht glauben müssen, oder? Dazu haben Sie mich schließlich nicht gezwungen.« Felix hielt ihm noch einmal das Glas hin, doch er lehnte mit einer Handbewegung ab. Zu Stefan sagte er: »Auf Wiedersehen, Herr Hartmann. Hören Sie auf, sich zu zerfleischen.«

»Aber ich habe doch …«

Benito Alvarez schüttelte den Kopf. »Nicht Sie. Ich. Es war meine Entscheidung, Ihre Aussage hinzunehmen und mich in meinem Selbstmitleid zu suhlen. Stattdessen hätte ich dieses Mädchen auf der ganzen Welt suchen müssen und mich nur um eines scheren: um das, was sie mit mir tut und ich mit ihr.«

Ich auch, dachte Stefan. Ich hätte meiner Liebe um die ganze Welt folgen müssen und mich um nichts scheren als um das, was wir füreinander tun. Das Leben umarmen. Nicht es irgendwann nicht mehr ertragen wie August Messerschmidt. Er hätte dem Mann unendlich gern die Hand gegeben, er hätte unendlich gern zu ihm gesagt: Mir tut das Herz weh um Sie. Und der Schmerz, der Sie zerreißt, zerreißt auch mich.

»Wenn Sie Herrn Temperley sprechen, grüßen Sie ihn bitte von mir.« Benito Alvarez ging zwei Schritte in Richtung Tür und wandte sich Martina zu. »Auch wenn du mir bitterböse bist – darf ich Inez zu dir bringen, und kannst du sie bei dir behalten? Als ich heute Morgen aufbrechen wollte, stand sie in der Box meines Pferdes – weiß Gott, wie sie den Weg bewältigt hat. Sie will um jeden Preis in der Stadt bleiben, stößt wüste Drohungen aus, und wenn ich ihr nicht helfe, habe ich Angst um meine Familie in Querétaro.«

»Das musst du doch nicht fragen.« Martina strömten ebenfalls Tränen über das Gesicht. »Bring sie her, wir kümmern uns um sie. Und ich bin dir auch nicht bitterböse, Dummkopf. Bitte erlaube niemandem, dich totzuschießen.« Sie warf einen Blick auf das Bild von Quetzalcoatl, dann lief sie zu Benito und zeichnete auf seine Stirn ein Kreuz. »Musst du wirklich heute noch nach Michoacán? Ich will, dass du hierbleibst und mit Katharina sprichst. Dass du sie uns zurückholst und den Säbelrassler zum Teufel schickst.«

»Aber Katharina will das nicht«, sagte er, nahm ihre Hand, küsste die Luft darüber und ging.

Stefan wünschte, er hätte ihm bis an die Treppe nachlaufen dürfen, um zuzusehen, wie ein Mann das machte: die schwerste Niederlage seines Lebens einzugestehen und mit so viel Würde seines Weges zu gehen.