53

Kaiserin Charlotte war im Juli nach Europa gereist, um Louis Napoleon an den Vertrag von Miramar zu erinnern. »Vertrag von Miramar« gehörte zu den Worten, die Valentin neuerdings ohne Unterlass im Mund führte. »Es war ein historischer Augenblick. Ein heiliger Eid. Ewige Freundschaft hat er Max zugesichert, unterstützen wollte er ihn, bis seine Stellung gesichert sei. Und jetzt lässt er ihn fallen, in der Stunde höchster Not? Wie kann er so einfach ein Gelöbnis brechen, das ein Kaiser dem anderen gab?«

Katharina bemühte sich, seinen Gedanken zu folgen. Sie wollte die Sorgen begreifen, die ihn kaum noch aus den Klauen ließen. Immer häufiger aber stellte sie fest, wie fremd ihr die Gesetze und Gebräuche waren, die Europas Geschicke bestimmten. Dass der Kaiser der Franzosen seinen kostspieligen Truppeneinsatz in Mexiko beenden wollte, schien ihr einleuchtend. Der Kaiser sitzt mehr als zwei Jahre auf dem Thron, hätte sie zu Valentin sagen wollen. Wenn es ihm immer noch nicht möglich ist, sich allein zu halten – muss dann nicht ein Fehler in dem ganzen Unternehmen stecken?

Natürlich stellte sie Valentin solche Fragen nicht. Er hatte Kummer genug. Die Franzosen, die ihren Abzug vorbereiteten, weigerten sich, Chihuahua zurückzuerobern. Aus den mexikanischen Einheiten, die Valentin mit so viel Mühe aufgebaut hatte, desertierten die Männer in Scharen. In den wenigen Nächten, die er bei ihr verbrachte, brach die Verzweiflung aus ihm heraus. »Uns zerrinnt unser Lebenswerk unter den Händen!« Katharina hielt ihn in den Armen, wiegte ihn und wünschte sich sehnlichst, die brennenden Wunden, die seine Seele davontrug, heil zu lieben. »Kein übermächtiger Gegner zwingt uns in die Knie, sondern Verrat in unseren eigenen Reihen. Wie soll Max damit fertig werden – Max, der alles gegeben hat?«

Vom Kaiser sprach er jetzt nie mehr anders als von Max. Als wäre der Kaiser sein Schützling. Und du bist meiner, dachte Katharina und wiegte ihn, bis er einschlief. Seine Qual zerriss ihr das Herz.

Von der Reise der Kaiserin war Valentin alles andere als angetan. Gegen den Willen ihres Mannes hatte Charlotte ihren Plan durchgesetzt. »Sollte eine Frau nicht an der Seite ihres Mannes stehen? Weiß sie, was sie Max damit antut, dass sie seine Entscheidung übergeht und sich als Bettlerin an Frankreichs Hof erniedrigt?«

»Nimmst du dir diese Dinge nicht zu sehr zu Herzen?«, wagte Katharina einmal zu fragen. »Darin, wie er seine Ehe führt, kannst du dem Kaiser doch nicht helfen. Weißt du, was ich denke? Wir beide sollten irgendwo hinfahren, wie es so viele Offiziere mit ihren Frauen tun. Nur ein paar Tage zur Erholung, Liebster. Damit du auf andere Gedanken kommst.«

»Zur Erholung?«, hatte er sie angeschrien. »Auf andere Gedanken soll ich kommen, während man Max in diesem vom Satan beseelten Land das Wasser abgräbt?«

Wann immer er so auf sie losging, tat es ihm hinterher leid. Er überschüttete sie mit Geschenken und Liebesworten und schwor, es sei die zermürbende Lage, die ihn um die Beherrschung bringe. Sie ließ ihn gewähren. Ihre Angst um ihn wuchs. Der Kaiser war krank und musste sich von Tee und Haferschleim ernähren, und Valentin kam ihr nicht minder krank vor, obwohl er weiterhin mit ihr trank.

Anfang September überschlugen sich Nachrichten von den Misserfolgen der Kaiserin. Napoleon hatte sie kaltschnäuzig abgewiesen. Zu Beginn des neuen Jahres würden die letzten französischen Soldaten Mexiko verlassen. Auch finanziell könne Frankreich den maroden Staatshaushalt nicht länger stützen. »Weißt du, was er Max anrät?«, schrie Valentin. »Er rät ihm, abzudanken! Die begonnene Aufgabe hinzuwerfen und als Gescheiterter zurück nach Miramar zu gehen!«

»Und was sagt der Kaiser dazu?«

»Was soll er dazu sagen? Er ist ein Habsburger. Nie und nimmer wäre er zu solcher Feigheit fähig.«

Beim Papst in Rom erreichte Charlotte ebenfalls nichts, und ihrem Bruder und Schwager in Belgien und Österreich war sie nicht willkommen. »Eines hat diese vermaledeite Reise immerhin gezeigt. Wir sind auf uns gestellt. Aus eigener Kraft müssen wir das Ruder herumreißen, indem wir über uns hinauswachsen. Wie der Stierkämpfer, weißt du noch? In der letzten entscheidenden Runde haben alle Helfer ihn verlassen, und er ist allein mit der Bestie. Kein Mensch kann einen wilden Stier ohne Hilfe bezwingen, nimmt man an – aber der Matador vollbringt das Wunder, weil er sich Übermenschliches abverlangt.«

In der letzten Runde war doch der Stier schon halb tot, hätte Katharina um ein Haar eingewendet, aber sie besann sich gerade noch. Er fachte ihre Angst an, wenn er so sprach. Was geschah mit einem Menschen, der Übermenschliches von sich verlangte und mit seinen Kräften nicht haushielt?

Am 16. September, dem Unabhängigkeitstag Mexikos, ließ der Kaiser ein Volksfest feiern. Vom Balkon des Palacio Nacional hielt er eine Rede, die klang, als hätte Valentin sie ihm geschrieben. »Wenn unser Reich auch Stürme erschüttern, so wollen wir unsere Pflicht doch gegen keine andere tauschen. In Gefahr die Flucht zu ergreifen, ist dem Herzen eines Habsburgers fremd.«

Es ist so seltsam, dachte Katharina, dass Worte so gewichtig sein können und doch immer noch hohl klingen. An früheren Unabhängigkeitstagen hatten die Leute in den Straßen ihre sinnlichen Tänze, ihre Maskenspiele, ihre würzigen Speisen und ihren Pulque genossen, bis Ordnungshüter sie zurück in ihre Häuser scheuchten. Die kaiserlich verordnete Feier hingegen blieb gedämpft und schlecht besucht. Gespannte Stille herrschte, als läge die Stadt auf der Lauer und würde warten. Die Gesellschaft des Kaisers, darunter Katharina und Valentin, fuhr auf direktem Weg zurück nach Chapultepec, wo im Festsaal einer der selten gewordenen Bälle stattfand.

Auf den Ball hatte sie sich gefreut. Der Saal, den der Kaiser sich neu hatte ausstatten lassen, wirkte mit seinen Säulen und Deckengemälden, den Stuckverzierungen und den gleißenden Lüstern wie einer Märchenwelt entsprungen. Habsburg unter Zypressen nannten die österreichischen Angehörigen des Hofes den Palast unter sich. Es war ein eigenes Reich, fern von den Nöten der Wirklichkeit, vielleicht der letzte Ort, an dem es Valentin gelang, sich im Tanz mit ihr zu entspannen.

Nicht so an diesem Abend. Von den köstlichen Speisen bekam er kaum etwas hinunter, vom schweren Port trank er zu viel, und mitten im Walzer riss er sich aus ihren Armen los. »Ich habe mit Oberst López etwas zu bereden. Entschuldige mich.«

Allein kehrte Katharina an ihren Tisch zurück. Jäh schien es ihr, als würden sich aller Blicke – in Häme oder Mitleid – auf sie richten. Vor ihr lag ein Abend in der Hölle. Kein Mensch würde sich auf ein paar Worte zu ihr setzen, und noch weniger würde jemand sie zum Tanz auffordern. Persona non grata, das war sie. Keine Gattin, nicht einmal eine Verlobte, sondern eine Geliebte, die in Sünde lebte – noch dazu eine, von der niemand wusste, woher sie eigentlich stammte. Geduldet, solange sie an Valentins Arm ging, doch allein nur ein Anlass, um sich die Mäuler zu zerreißen. Katharina straffte den Rücken. Sie würde hier sitzen bleiben, den Kopf erhoben tragen und so tun, als würde sie weder die Blicke noch das Tuscheln bemerken. Als würde sie die Einsamkeit nicht quälen. Als würde sie sich nicht nach Menschen sehnen.

Und dann kam doch jemand zu ihr, verbeugte sich und bat sie förmlich um den Tanz, jedoch mit einem Schmunzeln in der Stimme, das sie kannte. Claudius von Schweinitz. Dankbar sprang sie auf und ließ sich von ihm in einen langsamen Walzer führen.

Krampfhaft suchte sie nach etwas, das sie sagen konnte, doch wenn man so viele Tage ohne ein Gespräch verbrachte, schien die Sprache zu versiegen. Hatte man sie daheim nicht Plappermaul genannt? »Ich habe Sie hier noch nie gesehen«, war schließlich alles, was ihr einfiel.

Claudius von Schweinitz lachte. »Das ist kein Wunder. Ich bin ja auch nur Ihretwegen hier.«

»Meinetwegen?«

»Nun, nachdem meine Tochter auf keinen ihrer Briefe Antwort erhielt und mein Versuch, Sie zu besuchen, an Ihrem zweibeinigen Wachhund scheiterte, beschloss ich, dieser Einladung Folge zu leisten, in der Hoffnung, Ihnen hier zu begegnen. Und voilà – da saßen Sie auch schon vor mir. Die bezauberndste Dame des Abends und noch ohne Tänzer. Das nenne ich Glück.«

Briefe? Martina hatte ihr Briefe geschrieben? Und weshalb hatte der Sepp ihr den Besuch nicht gemeldet? So weit konnte doch Valentin nicht gehen – der Baron genoss in der Stadt einen tadellosen Ruf.

»Habe ich etwas Falsches gesagt?«, erkundigte er sich.

»Nein, wirklich nicht«, antwortete sie hastig. »Ich habe nur … Ich habe gar keine Briefe bekommen.«

»Tatsächlich nicht? Wie merkwürdig. Nicht nur meine Tochter hat Ihnen geschrieben, auch mein Schwiegersohn, Ihr Vetter Stefan und die kleine Felice.«

Martina hatte ihr geschrieben! Felix, Stefan und Felice hatten ihr geschrieben! Vor Freude hätte sie den Baron beinahe umarmt. Was mit den Briefen geschehen war, beschäftigte sie nicht. Nur eines zählte – für ihre Freunde war sie keine Persona non grata, trotz ihres Verrats, trotz ihrer furchtbaren Tat.

»Ist Ihnen nicht wohl?« Der Baron blieb in der Drehung stehen. Katharina war froh. Sie fühlte sich schwindlig und verspürte das dringende Bedürfnis, sich zu setzen. »Kommen Sie. Beim Walzer lässt sich ohnehin schlecht schwatzen.« Fürsorglich geleitete er sie an den Tisch, setzte sich ihr gegenüber und musterte sie. »Ich soll Ihnen Grüße ausrichten«, sagte er und zwinkerte ihr aufmunternd zu. »Martina fragt, ob Sie sie nicht endlich besuchen und den kleinen Tomás kennenlernen wollen? Mein Enkel feiert ja bald schon seinen ersten Geburtstag. Wie es aussieht, wird er in die Fußstapfen seines Vaters treten – im ganzen Haus gibt es keine Wand, die nicht mit Farbe beschmiert ist.«

Am liebsten hätte Katharina ihn gebeten, sie auf der Stelle zu Martina zu fahren. Wie ein Hieb traf sie die Erkenntnis, dass das nicht möglich war. Dass die Briefe nicht grundlos verschwunden waren und dass sie die Wandmalereien des kleinen Tomás nie würde sehen dürfen. »Ich kann nicht«, murmelte sie.

»Ist das Ihr letztes Wort?«, fragte er. »Uns allen fehlen Sie sehr.«

»Ich weiß nicht, warum«, entfuhr es ihr. »Sie müssen mich hassen – Sie alle wissen doch, was ich getan habe.«

Der Baron lächelte. »Es war vielleicht anfangs nicht so einfach, das zu wissen. Aber Sie haben ja einen leidenschaftlichen Fürsprecher, der nichts auf Ihnen sitzenlässt. Ich glaube, Ihre Freunde würden sich gern für ihr vorschnelles Urteil entschuldigen, doch dazu müssten Sie ihnen die Gelegenheit geben.«

Was redete er? Ihre Freunde wollten sich bei ihr entschuldigen? »Was für einen Fürsprecher?«, fragte sie verstört.

Der Baron langte über den Tisch und nahm ihre Hand in seine. »Das wissen Sie, oder?«

»Nein!«, rief Katharina und schüttelte den Kopf. »Nein, nein, nein.« Du darfst nicht für mich sprechen, du darfst mir nicht verzeihen. Komm nie wieder in meine Nähe, verschwende nie wieder einen Gedanken an mich. Auf dem Tisch stand eine Karaffe mit Weißwein, aus der sie sich zerstreut das Glas füllte. Sie hatte es schon angesetzt, als ihr einfiel, wie unhöflich sie war.

Hastig wies sie auf die Karaffe, doch der Baron winkte ab. Vor ihr verschwamm sein Gesicht. Als ihr Blick sich wieder klärte, war in seinen Augen ein Lächeln. »Der junge Mann macht nicht den Eindruck, als ließe er sich das verbieten«, sagte er. »Nicht einmal von Ihnen. Bitte versuchen Sie sich nicht so sehr zu fürchten. Es ist gut, Freunde zu haben, Katharina, auch wenn man meint, dass sie auf der falschen Seite stehen. Irgendwann werden wir in unserem Mexiko ja wieder alle zusammengehen müssen – einerlei, auf welcher Seite wir standen.«

»Das ist es nicht«, sagte Katharina.

»Was ist es dann?«

»Ich habe solche Freunde nicht verdient.«

Noch immer lächelnd, nahm er ihr das Glas aus der Hand. Sie hatte es, ohne es zu bemerken, geleert. Ich muss aufhören so viel zu trinken. Es ist feige, und es macht mich krank. »Vielleicht sollten Sie die Entscheidung Ihren Freunden überlassen«, sagte Claudius von Schweinitz. »Und falls ich mich zu diesen selbst noch zählen darf, erlauben Sie mir die arrogante Bemerkung: Um so außerordentlich reizende Freunde zu haben, muss man ein außerordentlich reizender Mensch sein – oder wollen Sie etwa behaupten, wir hätten keinen Geschmack?«

Sie musste lachen. Wie lange war es her, dass sie mit jemandem gelacht hatte? Er drückte ihre Hand. Dann wurde er mit einem Schlag ernst. »Versprechen Sie mir eines, Katharina. Vergessen Sie nicht, dass man Freunde jederzeit um Hilfe bitten kann. Sie wissen, wo wir wohnen, Micaela und ich – wir sind ja sozusagen Nachbarn. Bitte scheuen Sie sich nicht, uns zu verständigen, wann immer Sie jemanden brauchen.«

»Wie meinen Sie das?« Seine Eindringlichkeit ließ sie schaudern.

»In jedem erdenklichen Sinn«, erwiderte er. »Im Augenblick aber vor allem auf das Drängendste bezogen: Es könnte ratsam werden, die Umgebung des Palastes und auch die Hauptstadt für eine Weile zu verlassen. Micaela und ich nähmen Sie gern mit auf unser Gut bei Tula – wie übrigens auch Felice und unseren Enkel, falls die Lage sich zuspitzt.«

»Aber das kann ich doch nicht«, rief Katharina. Aus dem Gartenhaus fliehen, um mit Martinas Eltern die Stadt zu verlassen? Wie schlimm konnte denn die Lage sich zuspitzen, damit das nötig wurde? Unvermittelt zogen Bilder von Veracruz vor ihr auf, die in Flammen stehenden Häuser, die unter Trümmern begrabenen Menschen. Im Glanz der Kronleuchter erschien das Szenario wie einem Alptraum entsprungen, erdacht von einem überreizten Geist. Und wenn es tatsächlich so kam? Wie könnte sie fliehen und Valentin zurücklassen? Ihr Herz krampfte sich zusammen. »Das kann ich nicht«, wiederholte sie.

Der Baron hob zu einer Entgegnung an, verstummte aber, als ein Mann an ihren Tisch trat. Katharina blickte auf und sah in das Gesicht des Kaisers. Seine Haut wirkte grau, das Weiß in seinen Augen gelblich. Valentin hatte recht, der Kampf um Mexiko zerrüttete ihm die Gesundheit. »Darf ich Ihnen Ihre Dame entführen, Herr Baron? Fräulein Lutenburg eilt ein großer Ruf als Habanera-Tänzerin voraus.«

Katharina hatte sich kaum von ihrem Platz erhoben, als die Musik einsetzte. La Paloma. Das Lied der Taube. Die Augen zu schließen half nichts gegen die Bilder. Zerfetzte Haut, rote Ströme. Braune Augen. Ein Rinnsal Blut auf zerbissenen Lippen. »Es ist mein Lieblingslied«, sagte der Kaiser und breitete ihr den Arm um die Taille.

Er hatte die Figuren des Tanzes offenbar mit Eifer einstudiert und auch gelernt, dass der Herr dabei die Hüften der Dame entgegenschwingen durfte, mehr noch, als es beim Walzer gestattet war. Etwas fehlte dennoch. Eine Habanera kann ein Schlaflied oder ein Liebesakt sein, durchfuhr es Katharina, der die Röte in die Wangen schoss. Es machte den Kaiser liebenswert, dass er es selbst bemerkte. »Manches lässt sich bei aller Mühe nicht lernen, nicht wahr?«, sagte er traurig.

Katharina fiel keine Erwiderung ein.

»Ich hoffe, ich habe Sie nicht gestört«, begann er von neuem. »Baron von Schweinitz ist ja ein sprühender Geist. Leider ließ sich sein Bankhaus für unseren Geschäftsvorschlag nicht erwärmen. Einem Kaiser mit leeren Taschen mag eben niemand mehr Kredit geben.« Bedauernd lächelte er. Sein Atem ging schwer, als würde der langsame Rhythmus ihm Mühe bereiten.

Schon wieder fiel Katharina nichts ein, das sie hätte sagen können. Das Lied von der Taube und die Bilder, die dazu im Kreis um sie wirbelten, verwirrten ihre Gedanken.

»Sie dürfen sich darüber jedoch keine Sorgen machen«, sprach der Kaiser weiter. »Meine Offiziere sind die Stützen meines Reiches. Für sie ist gesorgt und wird immer gesorgt sein. Darin vertrauen Sie doch Ihrem Kaiser, nicht wahr?«

»Gewiss, Majestät«, sagte Katharina und dachte: Wie kann dieser arme, kranke Mann mein Kaiser sein? Was hat er mit mir und meinem Land zu tun?

»Sie sind mir doch nicht böse, weil ich Ihren Valentin so oft von Ihnen fernhalte? Glauben Sie mir, wenn jemand weiß, wie sehr Sie an der Trennung leiden, dann ich. Das größte Opfer, das ich diesem Land erbracht habe, ist die Trennung von meiner Charlotte. Es tut mir im Herzen weh, Ihnen ähnlichen Schmerz zuzumuten, doch es soll Ihr Schaden nicht sein. Ich habe vor, Gruber demnächst erneut zu befördern. Er gehört zu meinen besten Leuten, und das nicht nur, weil er ein feiner Offizier und ein Muster an Tapferkeit ist.«

»Vielen Dank, Majestät«, murmelte Katharina und wünschte sich, das Lied nähme ein Ende.

»Sie sollen auch wissen, dass ich Eheschließungen meiner Offiziere hier in Mexiko stets wohlgesinnt bin«, fuhr er fort. »Wer heiratet, bleibt im Land, und wir sind gekommen, um zu bleiben. Natürlich hat Gruber starke Bindungen nach Tirol, doch für jeden von uns schlägt einmal die Stunde der Entscheidung. Denken Sie nur an all diese Schlangen und Schlangengötter in den Malereien der Azteken – das Grausen könnte einen packen, doch wissen Sie, was man mir erklärt hat? Die Schlange steht mitnichten für die durchtriebene Giftmörderin, die das alte Europa in ihr sieht. Sie steht für die Nabelschnur, die uns nährte und von der wir uns lösen müssen, um in unserem Leben voranzuschreiten.« Er machte eine kurze Atempause, ehe er in der Drehung ihren Blick suchte und hinzufügte: »Sie verzeihen mir doch, nicht wahr, Fräulein Lutenburg? Natürlich dürfte ich vor einer Dame derlei Dinge nicht zur Erwähnung bringen, aber es ist ein Teil Ihres Reizes, dass man sich in Ihrer Gegenwart so unbefangen fühlt wie in männlicher Gesellschaft – und dann doch wieder gänzlich anders, wenn Sie verstehen, was ich meine.«

Katharina verstand nur zu gut, was er meinte, und wusste auch, dass die Bemerkung eine Beleidigung war. Es war ihr gleichgültig. Was er gesagt hatte, hallte in ihr nach: Die Schlange steht für die Nabelschnur, von der wir uns lösen müssen. Wie aber kann ich mich lösen, wenn ich nicht einmal weiß, wo ich gebunden bin?

Mit einem Geigenton, der einem Weinen glich, verklang das Lied. Der Kaiser blieb mit ihr stehen, nahm aber seinen Arm nicht von ihrer Taille. »Ich danke Ihnen, mein Fräulein. Sie haben einem von Leid zerquälten Mann einen Liebesdienst erwiesen. Nehmen Sie es Ihrem Kaiser und seinem Offizier nicht übel, wenn sie Ihnen derzeit nicht mit der Wertschätzung begegnen, die unseren Damen zukommt. Wollen Sie uns das versprechen? Man nimmt uns hart her, selbst unser zartestes Gefühl bleibt nicht verschont. Doch es besagt nichts gegen die Qualität eines Mannes, wenn er in der Erfüllung seiner Pflicht nichts zurückhält – im Gegenteil. Ein Mann, der sich mit solchem Opfermut und Treue seinem Kaiser ergibt, wird dies einst, wenn wir mit Gottes Hilfe diese Prüfung bestanden haben, auch für die Frau tun, die er liebt. Sie haben sich einem Mann von rarer Tugend verschrieben. Bei meinem Tiroler, bei Valentin Gruber, gibt es nichts Halbes. Er mag Ihnen kein leichtes Leben bereiten, aber er ginge in den Tod für Sie.«

Weshalb erzählt er mir das?, begehrte es in Katharina auf. Glaubt er, ich wisse das nicht? Sie wollte hier weg, wollte in Valentins Augen versinken und das Gerede, die Bilder und das Lied vergessen.

»Leider muss der Mann Ihres Herzens den Schmerz der Trennung heute wieder auf sich nehmen«, sagte der Kaiser. »Uns sind Meldungen über Schritte unserer Gegner zugegangen, die eine sofortige Entsendung von Truppen unausweichlich machen.« Er verbeugte sich. »Ich wünschte, er könnte Ihnen eine Taube mit einer zärtlichen Botschaft senden. Was wären wir Männer ohne unsere Frauen, die mit der Furcht um uns klaglos noch Schlimmeres ertragen als wir selbst?«

Katharina wünschte, sie hätte sich die Ohren zuhalten dürfen wie als Kind, wenn ihre Vettern Unsinn redeten. Sie musste zu Valentin! Ohne sich länger um die Etikette zu scheren, lief sie dem Kaiser davon und aus dem Saal. Sie fand die Tür des Herrenzimmers offen, auf den Tischen die Aschenbecher noch qualmend und die Gläser halb geleert, doch die Herren waren fort. Erst auf dem Sattelplatz, außer Atem vom Rennen, fand sie ihn bei seinem Goldfuchs. Als einziger Offizier hatte er keinen Burschen bei sich, denn der Sepp war ja zu ihrer Bewachung abgestellt.

»Valentin!«, rief Katharina durch die Nacht und fiel ihm um den Hals. Mehrere der Kameraden um ihn lachten.

»Was ist denn los? Bist du von Sinnen?«

»Was los ist? Ich liebe dich.«

»Du stellst mich vor meinen Vorgesetzten bloß«, knurrte er und versuchte sie abzustreifen. »Was ist dir denn? Wir sind im Krieg, es wird noch oft geschehen, dass ich plötzlich abberufen werde.«

»Bleib hier«, sagte sie und hielt ihn fest. »Ich fürchte mich. Da oben herrscht so seltsames Gerede vom Sterben und La Paloma.«

»Ich kann das vermaledeite Lied nicht mehr hören.«

»Ich auch nicht. Und ich mag hier nicht länger allein sein. Ich will zurück in die Stadt, irgendwohin, wo Menschen sind. Wenn nun etwas geschieht …«

»Maria und Josef, was soll denn geschehen?« Fluchend übergab er den Goldfuchs einem der Männer und zog sie vom Sattelplatz fort ins Dunkel. »Hast du zu viel getrunken?«

»Wahrscheinlich. Wir trinken beide zu viel. Ich habe Angst, Valentin. Wenn etwas geschieht, während du nicht hier bist, habe ich keinen Menschen, der mir hilft.«

»Und sagst du mir jetzt endlich, was überhaupt geschehen soll?«

»Vieles«, erwiderte Katharina mit einer Ruhe, die sie wunderte. »Juárez’ Republikaner könnten die Stadt einnehmen.«

»Bist du wahnsinnig? Wie kannst du es wagen, das auszusprechen? Soll jemand dich hören?«

»Du«, sagte sie, »du sollst mich hören«, aber sie wusste bereits, dass er das nicht konnte.

»Ich muss aufbrechen«, versuchte er zu drängen. »Jetzt sei vernünftig, Liebste. Letzten Endes fechten wir diesen Kampf doch für euch aus – damit unsere Frauen und Kinder vor den Republikanern nichts zu fürchten haben.«

»Ja, du hast recht.« Sie küsste ihn. »Ich war undankbar, nicht wahr?«

»Ja, das warst du.« Erleichtert ließ er sich in ihre Umarmung fallen. »Aber das ist eben deine Wildheit, die mit dir durchgeht, und du weißt, wie sehr ich dich manchmal dafür liebe. So wie du auch weißt, dass ich nur meine Pflicht tue, oder?«

Sie sah das Flehen in seinem Gesicht und sagte: »Ja, Liebster. Das weiß ich. Ich liebe dich.«

Als sie in den Saal zurückkehrte, fand sie den Ball in Auflösung. Die ersten Lichter wurden gelöscht, und Claudius von Schweinitz war nirgends mehr zu entdecken. Ein Wachmann des Kaisers begleitete sie zu ihrem Haus und übergab sie der Obhut des Sepp. Allein in ihrer dunklen Sala, übermannten sie Furcht und Kälte. Sie steckte Kerzen an, schenkte sich ein großes Glas Port ein, aber nichts davon half. Das ganze Ausmaß ihrer Einsamkeit schlug über ihr zusammen. Ihre Briefe wurden abgefangen, jeder Mensch, der sich um sie sorgte, ferngehalten. Ihr Haus stand im Schatten eines Palastes, in dem ein sterbender Traum sich zu Tode zuckte. Erschrocken fuhr sie zusammen. War es wirklich sie, die so gedacht hatte?

Ja, sie war es. Und sie war in diesem Sterben gefangen, weil sie Valentin nicht verlassen konnte. In dieser Nacht war ihr klargeworden, dass sie ihn nicht brauchen und nichts von ihm verlangen durfte. Aber er brauchte sie. Das war die Fessel, die sie hielt.

Vor Kälte zitternd öffnete sie die Truhe, in der sie ihre alten Kleider, die Valentin hasste, aufbewahrte. Sie suchte nach irgendetwas, das warm war und nicht nach französischen Duftwässern, sondern nach Leben roch. Onkel Christophs Gedichtband fiel ihr in die Hand. Ich denke dein, wenn mir des Mondes Flimmer in Quellen malt. Weinen konnte sie nicht. Auf dem Boden der Truhe, unter verschossenen Blusen ertastete sie etwas Rauhes, einen Stoff aus festgewebter Wolle. Sie zog es heraus. Es war dunkelrot, es hatte einmal, in Veracruz, unter ihrem Bett gelegen, und wie es in die Truhe kam, wusste sie nicht. Jemand musste es eingepackt haben, als sie Veracruz verlassen hatten. Es roch nicht nach Leben, sondern stank nach Mottenkugeln, aber es war das wärmste Kleidungsstück, das sie je besessen hatte.

Sie legte sich den Sarape um und trat hinaus auf die Veranda, vor den im Dunkeln glitzernden See. Hätte sie eine Taube gehabt, hätte sie sie aussenden wollen, auch wenn sie nicht einmal wusste, in welche Richtung. Du darfst nicht für mich sprechen, du darfst mir nicht verzeihen. Komm nie wieder in meine Nähe, verschwende nie wieder einen Gedanken an mich. Aber hab Dank, dass du mich nicht hasst. Ich hasse dich auch nicht mehr. Etwas fehlt mir für immer, und das ist von dir.