22

Eines Tages würde es in den Geschichtsbüchern stehen: Am Nachmittag des 22. März 1847, eine Viertelstunde nach vier, eröffneten Truppen der Vereinigten Staaten das Feuer auf die Stadt Veracruz. Die ersten Treffer erfolgten auf der Plaza de las armas, dem Zócalo der Stadt.

Zu dieser Zeit war Marthe mit ihrer Schwägerin Dörte nach Hause gekommen. Dörte hatte Verschiedenes für den Empfang der Brauteltern besorgen müssen, und Marthe hatte sie begleitet. Offiziell, um ihr mit Rat zur Seite zu stehen, in Wahrheit jedoch, weil Dörte kaum Geld hatte. Es tat ihr gut, die Großzügige zu spielen, sich Brokatband abmessen zu lassen und auszurufen: »Ach, lass doch mich das für die liebe Luise kaufen, ich bin als Tante schließlich auch in der Pflicht.«

Warum es ihr so gut tat, wusste sie nicht. Vielleicht, weil es ihr das Gefühl gab, Dörte sei ihre Freundin, sie beide, während sie eingehakt durch Alleen schlenderten, wären fast wie Schwestern. Als sie mit Paketen beladen die Siedlung erreichten, war es damit allerdings vorbei. Dörte begann über die Hitze zu klagen, obwohl sonst sie von ihnen allen das Klima am besten ertrug.

»Komm doch auf einen Sprung mit herein«, schlug Marthe vor. »Die Sanne macht uns Limonade, und wir planen ein bisschen für Luises großen Tag.«

»Sei mir nicht böse«, erwiderte Dörte, »aber ich möchte lieber heim. Ich muss dir etwas sagen, Marthe, ich bekomme noch einmal ein Kind. Fiete ist natürlich im siebenten Himmel, aber mir wird es mit meinen fünfundvierzig Jahren doch beschwerlicher als früher.«

Marthe war zumute wie nach einem Schlag in den Bauch. Jahrelang hatte sie sich nichts sehnlicher gewünscht, als mit dieser Nachricht vor die Familie zu treten: Peter und ich, wir bekommen noch einmal ein Kind. Warum war es der anderen vergönnt, deren Tochter im Mai verheiratet sein und ihr Enkel schenken würde? Das aber war noch nicht das Schlimmste. Es war der Gedanke an die nächtliche Umarmung, die zu diesem Kind geführt hatte, die Marthe den Atem nahm.

Sie hatte sich damit abgefunden, dass die Jahre, in denen eine Frau hoffen durfte, von ihrem Mann begehrt zu werden, vorüber waren. Zuweilen war sie darüber sogar froh, weil sie dem qualvollen Ringen entkam. Es lag nicht länger an ihr, wenn Peter im Bett an die Wand starrte. Es lag am Alter, es traf alle Frauen irgendwann.

Doch eben das tat es nicht. Im Gegenteil. Die rundliche Dörte wurde von der Witzfigur Fiete so heiß begehrt, dass ein Kind dabei entstand. Als Mädchen hatte Marthe gelernt, dass Männer ein Verlangen hatten, und Frauen hatten keines, und wenn das Verlangen der Männer erlosch, waren alle Frauen froh. Aber so war es nicht gewesen. Das Verlangen hatte Marthe gehabt, es war unstillbar gewesen, und es hatte ihr Leben geprägt. Lag es daran? Bekam sie, weil sie die Sünde begangen hatte, einen Mann zu begehren, nie das, was andere mit leichter Hand errangen?

Und wennschon!, versuchte sie aufzutrumpfen. Ich habe eine Tochter, die tausche ich für nichts auf der Welt. Es war gut, dass sie Dörte los war, denn so konnte sie sich Katharina widmen. Sobald die Belagerung vorbei war, musste sie dem Mädchen einen Bräutigam finden. Sie sollte alles bekommen, was der Mutter versagt geblieben war. Und dann wird sie uns ihre Kinder bringen, und Peter und ich werden als Großeltern auf der Chaiselongue sitzen. Alle Lustseufzer der Welt spielen dann keine Rolle mehr.

Kurz streifte sie der Gedanke, dass Katharina von ihren Kindern vermutlich nur in Briefen berichten würde, da sie dann ja mit ihrem Mann in der Heimat lebte. Immer hatte sie davon geträumt, dass Katharina ihre Eltern mitnehmen würde, aber im Grunde wusste sie, dass das nur Träume waren. Wenn Katharina in der Heimat ihre Kinder aufzog, war es, als wäre ein Stück von Marthe mit ihr dort. Sie steckte ihren Schlüssel ins Schloss. In diesem Augenblick schlug auf der Plaza de las armas die erste Granate ein.

Marthe hörte fernen Kanonendonner, ohne sich viel dabei zu denken. Erst als sie ihr Haus betrat und Katharina nicht fand, als der Donner nicht aufhörte und auch Lise wieder einmal nicht aufzufinden war, begann die Angst sich in ihr auszubreiten.

Kurz darauf kamen Christoph, Fiete und Hermann und hämmerten wie besessen an die Tür. »Marthe«, schrie Christoph, »seid ihr alle dadrinnen? Dem Himmel sei Dank.«

Sie redeten durcheinander, stießen Worte heraus wie geplatzte Wasserspeicher. »Der Hafen ist unter Beschuss. Unsere Kontore. Alles.«

»Ihr müsst im Haus bleiben, Marthe. Meine Luise und mein Sievert sind bei den Eycks in Sicherheit, alle anderen dürfen die Siedlung nicht verlassen.«

»Josephine ist doch bei euch, nicht wahr, Marthe? Sie ist doch drinnen bei euch?«

Als hätte die Zeit sich verlangsamt, brauchten sie unendlich lange, um zu erfassen, dass sowohl Peter und Katharina als auch Josephine und Felix fehlten. Wer in Traudes Haus war, wusste niemand. »Wir dachten, Peter wollte nach Hause«, murmelte Fiete, »aber er ging wohl erst noch in die Brauerei.«

»Ich hole ihn«, sagte Marthe.

»Das darfst du nicht!«, jammerte Christoph, aber Marthe war entschlossen. Sie würde Peter holen, und dann würden sie gemeinsam Katharina finden. Sie mochten einander nie wie die Tiere geliebt haben, aber sie waren Eltern desselben Kindes, durch dieses Kind verbunden wie kein anderes Paar.

Christoph war toll vor Angst um Josephine, außerdem hatte er Marthe noch nie an etwas hindern können, und Fiete war ein Hund, der bellte, aber nicht biss. Es war Hermann, der sich ihr in den Weg stellte. »Die Familie hat beschlossen, dass du nirgendwo hingehst«, sagte er, spreizte die Beine und warf sich in die Brust.

Es waren diese Worte, die Marthe zurückweichen ließen. War Hermann nicht eben noch ein Rotzlöffel gewesen, der die Hosen strammgezogen kriegte? Wann war er ihnen über den Kopf gewachsen, und woher nahm er diesen Ton? Es war nicht Fietes Ton, und es waren auch nicht Fietes Worte. Marthe schauderte. Sie, die allen Paroli bot, ließ sich von einem Lümmel einschüchtern, der nicht einmal wusste, was er sagte. Aber er sagte es. Die Familie hat beschlossen, dass du nirgendwo hingehst.

Im nächsten Moment erfolgte eine tosende Detonation, und über den Himmel schoss eine Sternschnuppe mit brandhellem Schweif. Sternschnuppen fielen nicht am Tage. Inmitten des Einschlags, der folgte, vernahm Marthe das Geschrei von Tauben. Das Gebäude, in das die Sternschnuppe hineingefahren war, fing im Handumdrehen Feuer. Erst schossen einzelne Lohen über den Dächern auf, dann vereinigten sie sich zur Feuersbrunst, die den Himmel grellrot färbte. »Peter«, hörte Marthe sich flüstern. Als sie losrannte, sprang Hermann zur Seite. Mit blinder Sicherheit wusste sie, dass das brennende Gebäude die Brauerei ihres Mannes war.

Für diesen Mann hatte sie alles gegeben. Um ihn haben zu können, war sie zur Verräterin geworden und hatte das Liebste, das sie besaß, als Preis gesetzt. Ihrer beider Träume waren zerbrochen, aber sie hatten dennoch ihr Leben geteilt. Wenn es Peter nicht mehr gab, wer schleppte mit ihr die Last bis zum Ende? Ihr Bruder war ein Schilfhalm im Wind, es war allein Peter, auf den sie sich verlassen konnte. So wahnwitzig es ihr vorkam, glaubte Marthe in diesem Augenblick zu begreifen, was Liebe war: dass schon alles vorbei ist und ich immer noch zu dir gehöre. Dass ich zu dir muss, was immer geschah und geschieht.

Auf das Gelände der Brauerei drang sie vor, doch vor dem Sudhaus war ihr Weg zu Ende. Hatte sie geglaubt, dass nur Todesmut dazu gehörte, so hatte sie sich geirrt. Der Rauch, der aus dem Gebäude wallte, wurde zur Wand, die sie mit all ihrer Willenskraft nicht durchdringen konnte. Die hölzernen Bauten der Anlage brannten bereits lichterloh. Auch wenn die beißenden Schwaden ihr die Sicht nahmen, kam sie nicht umhin zu erkennen, dass, wer immer auch darin war, nicht überleben konnte.

Aber das steinerne Hauptgebäude, das Brauhaus und die Geschäftsräume! Der Komplex befand sich hinter dem Wall aus Rauch, und der Dachstuhl stand in Flammen, aber dennoch musste ein Entkommen möglich sein. Sie versuchte einen Schritt zu gehen, musste jedoch hustend zurückweichen und fiel auf Hände und Knie. Mühsam kämpfte sie sich hoch und floh rückwärts, gedrängt von wallenden Schwaden. Peter, wollte sie schreien, doch ihre wunde Kehle brachte keinen Laut hervor.

Stattdessen rief jemand ihren Namen. Nicht sehr laut, aber unverkennbar. »Marthe!«

Mit Getöse brach der Dachstuhl des Brauhauses ein. War sie schon jenseits von Gut und Böse, dass sie glaubte die Stimme ihres Mannes zu hören, der von brennenden Balken erschlagen wurde? Mit letzter Kraft drehte sie sich um. Vom Ende der Straße kamen ihr zwei Menschen entgegengerannt. Sie machten beide noch einen Schritt, dann erstarrten sie. Peter und Lise.

»Marthe«, sagte Peter noch einmal, ehe seine Stimme brach. Er blickte sie nicht mehr an, sondern über sie hinweg auf das Inferno, das aus seiner Brauerei geworden war. Marthe brauchte nichts mehr zu sehen, keine hastig gelösten Hände, keinen verstohlenen Blick. Sie wusste alles, und unerklärlich war nur, dass sie es nicht seit Jahren gewusst hatte.

Hatte man sie nicht von klein auf gelehrt, dass Männer keine Treue kannten? Hatte nicht die Mutter zu ihr noch in der Heimat gesagt: Du gehörst nicht zu den Mädchen, die einen Mann fesseln können? Hatte sie es nicht jedem Mann, der herumlief, zugetraut, ihrem Vater, ihren Vettern, sogar ihrem Bruder? Warum nicht Peter, obwohl sie doch wusste, dass er bei ihr seinen Trieb nicht befriedigt bekam?

Weil das, was zwischen uns war, anders ist. Größer. Heiliger.

Das Lachen über sich selbst zerriss ihr fast die Kehle.

Ich dumme Gans habe daran geglaubt: Er wollte eine, die er nicht haben konnte, und ich wollte ihn, den ich nicht haben konnte, wir waren tapfer und haben es zusammen ertragen. So wie das Brauhaus stürzte Marthes Luftschloss zusammen. Sie hatte wahrhaftig geglaubt, der Mann, der sie nie bei der Liebe angeschaut hatte, sei ihr treu, weil sie beide demselben Verlust treu waren. Es war, als stürbe alles in einem einzigen Augenblick. Ihre Illusion, ihre Ehe, Peter. Und im nächsten Augenblick, während eine Detonation ihr die Ohren taub schlug, fiel ihr ein, was ihr blieb. Das Wichtigste. Katharina.

Sie würde Katharina nehmen und aus dem Inferno fortgehen, fort von Betrug und Verrat, von Peter, der sich nackt auf Lise wälzte, von Wilden, die nach ihrer Tochter griffen, von Seuchen, die Kinder töteten, und von Päckchen auf dem Malecon. Warum hatte sie es nicht längst getan? Damit Katharina ein Heim hat, den Hort der Familie, ein Elternhaus. Was für ein Hohn! Noch einmal drehte sie sich nach den Flammen um, in denen ihre Selbsttäuschung aufging, dann rannte sie los, ohne auf Peter und Lise zu achten.

Katharina war in Sicherheit. Ohne Zweifel war sie zu diesem englischen Fräulein gegangen, Georgia Temperley, mit der sie sich angefreundet hatte. Marthe hätte ihr die Besuche nicht verbieten dürfen, schließlich hatte das Mädchen sonst kaum passende Gesellschaft. Sie würde sie bei den Temperleys abholen und sich bei ihnen bedanken. Vielleicht würden die Temperleys ihr sogar helfen, aus der Stadt zu fliehen. Aus Veracruz, hallte es in ihren Ohren. Vera Cruz.

Sie hatte es sich leicht vorgestellt, sich zum Haus der Temperleys durchzuschlagen, aber es war schier unmöglich. Was ein nobles Wohnviertel gewesen war, hatte sich in eine Hölle aus Feuer, brechenden Mauern und schreienden Menschen verwandelt. Der erste Mann, den sie fragte, ein Weißer in ordentlichem Anzug, brach, statt ihr Antwort zu geben, vor ihr zusammen. Erst als er am Boden lag, sah sie, dass sein linkes Bein eine von Granatsplittern zerfetzte Masse war. Ihn liegen zu lassen war grausam, aber helfen konnte sie ihm nicht. Helfen konnte sie nur Katharina, ihrem kleinen Mädchen, das zu Tode verängstigt sein musste und sich in ihre Arme werfen würde.

Nach schier endlosem Irren stand sie schließlich vor dem Haus mit der hohen Gartenmauer, das dem Schild zufolge Little Hetford hieß und den Temperleys gehörte. Wie aber sollte sie sich Einlass verschaffen? In dem Pförtnerhaus saß kein Mensch, und durch die Streben des Tors war niemand zu sehen. Natürlich nicht. Vom Hafen herauf dröhnte unentwegt Geschützfeuer. Wer irgend konnte, verschanzte sich in seinem Haus. In ihrer Not begann Marthe zu schreien: »Katharina! Fräulein Temperley?« Jede Silbe tat weh, als würde eine Feile über ihre Kehle schaben. Aber Marthe schrie weiter. Irgendwann tauchte aus einer Seitentür ein Mann im dunklen Hausrock auf und kam den Gartenweg entlang auf sie zu.

»What is the matter? Can I help you, Lady?«

Erst jetzt fiel Marthe ein, dass sie kein Wort Englisch sprach. Ihr blieb nichts übrig, als auf das verhasste Spanisch auszuweichen. »Meine Tochter, Katharina Lutenburg … Ich bin gekommen, um meine Tochter abzuholen.«

»Ka-tha-ri-na«, probierte der Mann. War er der Vater von Fräulein Georgia, ein Besucher, der Butler? »Wir haben keine Ka-tha-ri-na«, erklärte er in schwer verständlichem Spanisch.

Also musste er wohl ein Bediensteter sein, dem Gäste nicht vorgestellt wurden. »Ihr Name ist Ihnen vielleicht nicht bekannt«, sagte Marthe schnell. »Ein großes Mädchen, Europäerin, dunkles Haar, helle Augen. Sie kommt her, um Señorita Georgia zu besuchen.«

»Señorita Georgia«, wiederholte der Mann und schüttelte unwillig den Kopf. »Wir haben auch keine Señorita Georgia.«

Hatte sie sich den Namen falsch gemerkt? Aber sie war sicher, dass Katharina und Stefan Georgia gesagt hatten! »Hören Sie«, bedrängte sie den Mann, »die Dame ist die Tochter des Hauses. Bitte lassen Sie mich zu ihr.«

Der Blick, den der Mann ihr zuwarf, war nicht länger unwillig. Eher enthielt er eine Spur des leicht pikierten Mitleids, mit dem man schwachsinnige Bettler bedachte. »Es tut mir leid«, sagte er, »Sie haben jemanden verloren, vermutlich hat heute die ganze Stadt jemanden verloren, aber helfen kann ich Ihnen nicht. Sie haben sich im Haus geirrt. Eine Tochter gibt es hier nicht. Keine Catherine, keine Georgia, und jetzt entschuldigen Sie mich.«

 

Eines Tages würde es in den Geschichtsbüchern stehen. Die Schlacht um Veracruz dauerte vier Tage. Um die Stadt durch Feuer in die Knie zu zwingen, setzten die Truppen der Vereinigten Staaten zweiunddreißigpfündige Kanonen, Congreve-Raketen, Mörser für Granaten und von der Seeseite eine Flottille von Geschützbooten ein. Am Morgen des fünften Tages erklärte Brigadegeneral Morales die Kapitulation der Stadt. Über dem Fort San Juan de Ulúa wurde das Sternenbanner gehisst, und die siegreichen Truppen zogen in die Ruinen der Stadt.

Marthe war in ihr Haus zurückgekehrt, weil sie hoffte, dort Katharina zu finden. Vielleicht auch, weil sie sonst keinen Ort hatte, an den sie hätte gehen können.

Am Abend nach der Kapitulation kehrte auch Katharina zurück. Sie war bleich und verdreckt, doch ansonsten unversehrt.