13

Kathi Lutenburg bekommt alles, was sie will.

Wie Hohn hallten Jos Worte Katharina in den Ohren. So heftig sie dagegen anschimpfte, sie brachte sie nicht zum Schweigen. Nun mach schon, Kathi Lutenburg, zeig uns, wie du es anfängst, oder ist es am Ende doch nur dein Vater, der seiner Prinzessin alles kauft, auf das sie mit dem Finger zeigt?

Es war so gewesen. Sie hatte sich die Nase an einem Schaufenster platt gedrückt, und ihr Vater war in das Geschäft gegangen und hatte ihr das begehrte Gut gekauft. Aber Ben konnte er ihr nicht kaufen. Im Gegenteil. Der Vater war schuld daran, dass sie ihn verloren hatte. Seit jenem schrecklichen Tag vor fünf Jahren waren sie und ihr Vater einander ausgewichen. Der Vater hatte ihr noch immer jeden erdenklichen Wunsch erfüllt, aber er war nie mehr an ihr Bett gekommen, um sie zu trösten, sie hatte nie mehr auf seinem Schoß gesessen, während er ihr ins Ohr flüsterte, dass sie sein Goldpflänzchen sei, an dessen Zweigen jeden Morgen eine Unze Gold wachse, und dass er sie so sehr liebhabe, dass die Liebe im Weltmeer keinen Platz finde.

Über das Ereignis hatten sie nie miteinander gesprochen. In den bangen Tagen danach, in denen Katharina gehofft hatte, Ben werde eines Tages wieder in der Box des Falben stehen, hatte sie manchmal erwogen, den Vater zu fragen: Was hast du Ben angetan, wo ist er jetzt, und warum um alles in der Welt hast du das fertiggebracht? Sie hatte ihn nicht gefragt, weil es nicht möglich war. Dass sie nach dem Entsetzlichen, das sie gesehen hatte, dem Vater Fragen stellte, war undenkbar. Der Vater konnte ihr nicht helfen, und auf Jo brauchte sie erst recht nicht zu zählen. Die plapperte weiterhin jedes Wort ihrer Gerlinde nach, und außerdem verstand sie von solchen Dingen keinen Deut.

Von solchen Dingen.

Um welche Dinge es eigentlich ging, fragte Katharina sich selbst, während sie wieder einmal in der Nachmittagshitze ins Viertel der Engländer trottete, nachdem ihr ein Arbeiter aus der Fabrik für ein paar Münzen anvertraut hatte, dass Ben heute nicht eingeteilt war. Weshalb brauchte sie um jeden Preis Ben? Weshalb verbiss sie sich, warf ihren Stolz in den Wind und war unfähig, loszulassen? Es war fast Oktober, der Sommer so gut wie vorüber, und sie hatte ihn damit zugebracht, einem Mann hinterherzuhecheln, der sie behandelte wie einen lästigen Straßenköter.

Einem Mann. Das war es. Ein Schauder lief über ihren Rücken, der eine seltsam wohlige Furcht auslöste. Das trotzige Kind fiel ihr ein, das Ben versichert hatte, sie werde ihn heiraten und er sei der schönste Mann auf der Welt. Von jenem Kind fühlte sie sich so weit entfernt wie Mexikos umkämpfte Nordgebiete von Veracruz. Aber die Worte des Kindes trafen noch immer. Dabei wusste sie nicht einmal, ob Ben schön war. Er hatte schöne Hände. Und er war der einzige Mann auf der Welt.

Ihn mit der Silberblonden, die Helen hieß, zu sehen, versetzte ihr einen Stich, der sich kaum aushalten ließ. Daheim hatte sie die Lise, die ihr Zöpfe flechten wollte, zornig zur Seite geschoben und versucht sich das Haar wie jene Helen aufzustecken, aber in ihrem grässlichen Haar blieb keine Nadel haften. Schließlich hatte sie vor Wut nach einer Schere gegriffen und sich eine Strähne aus der Stirn geschnitten. Natürlich sah sie danach keineswegs hübscher aus, aber dem verfluchten Haar dabei zuzuschauen, wie es schlaff zu Boden segelte, bereitete ihr grimmige Befriedigung.

Bei Lise hatte sie sich entschuldigen müssen, denn schließlich brauchte sie deren Komplizenschaft. Auch heute hatte sie sie wieder bestochen, damit ihr der Nachmittag frei für ihre Jagd auf Ben blieb. Immer unwohler fühlte sie sich dabei, der Lise das Geld auszuzahlen, das die Mutter ihr für Sprachstunden gab, und mit ihrem Englisch war sie den Sommer über nicht vorangekommen. Die Stimmung daheim war bedrückt, die Blockade dauerte an, so dass die Sanne mit mexikanischen Gewürzen kochen musste, Onkel Fiete trauerte um Jette, und wegen einer albernen Einladung zum Konsul redete Tante Traude nicht mehr mit Tante Dörte. Es war nicht recht, die Mutter, die sich mit all diesen Sorgen plagte, zu hintergehen. Zuweilen konnte Katharina ihr nicht einmal in die Augen sehen, so sehr schämte sie sich.

Es ging so nicht weiter! Inmitten der Allee, die auf Helens Gasse zulief, blieb sie stehen. Sie war es ihrer Familie, aber ebenso sich selbst schuldig, mit diesem Irrsinn aufzuhören. Konnte sie sich etwa die hochnäsige Helen vorstellen, wie sie einem Mann hinterherlief, der nichts von ihr wollte? Ich werde es ihm noch einmal sagen, beschloss sie, nur noch einmal, und wenn er mich dann immer noch nicht will, gebe ich auf. Der Gedanke an die Leere, die sie schon einmal durchlebt hatte, an lange, ereignislose Wintertage ohne Hoffnung, nahm ihr fast den Atem. Dann aber entdeckte sie etwas, das sie von dieser trüben Aussicht ablenkte.

Nicht etwas, sondern jemanden. Einen Mann, den sie kannte, den sie bereits zum sechsten Mal hier sah und der hier nicht hergehörte. Ihren Vetter Stefan. Der war zwar bei Engländern angestellt, doch das Kontor, in dem er tätig sein sollte, lag im Hafen, nicht hier. Dafür, dass er heimlich herkam, sprach auch, dass er es tunlichst vermied, Katharina zu begrüßen.

Schluss mit den Heimlichkeiten! Katharina stemmte die Hände in die Hüften und rief zu ihm hinüber: »He, Stefan! Was treibst du denn hier?«

Er zuckte zusammen, ehe er steif den Kopf wandte. »Kathi«, murmelte er lahm, machte jedoch keine Anstalten, zu ihr zu kommen.

Stattdessen lief sie zu ihm. »Besuchst du hier die Leute, für die du arbeitest?«, fragte sie betont beiläufig. »Musst du denen etwas bringen?«

»Ja, ja«, erwiderte er allzu hastig, »ich musste etwas abgeben, bei Frank & Temperley, dem Handelshaus, für das ich arbeite.«

»Wo ist das denn?«

Vage wies Stefan in die Gasse, in der Helen wohnte.

»Dort hinten? In dem letzten Haus?«

Stefan schüttelte den Kopf. »Nein, in dem hohen in der Mitte.«

»Das ist ein Wohnhaus«, stellte Katharina fest. »Hier sind nur Wohnhäuser.«

Ihre Blicke trafen sich. Das, was in den Augen von Stefan flackerte, erkannte Katharina sofort: Es war Furcht. Sie legte ihm die Hand auf den Arm. »He, ich bin doch nicht deine Mutter«, sagte sie, und in dem Wunsch, einen Verbündeten zu haben, fügte sie hinzu: »Genauso gut könntest du ja mich fragen, was ich hier treibe, denn du siehst mich auch nicht zum ersten Mal, habe ich recht?«

»Nein«, erwiderte er, als fiele ihm ein Stein vom Herzen. Sein Gesicht verzog sich zu einem Lächeln. »Wir sind zwei Geheimniskrämer vor dem Herrn, was? Wollen wir es dabei belassen, Kathi? Wollen wir uns das versprechen?«

»Was?«

»Dass das hier unser Geheimnis bleibt und wir den anderen kein Wort davon sagen.«

»Nur einander?«

Kurz zögerte Stefan, dann stimmte er zu: »Einverstanden. Nur einander.«

»Du zuerst oder ich?«

Er blickte zu Boden, ohne zu antworten. Dennoch entging Katharina nicht, dass er bis unter die Haarwurzeln errötete.

»Also gut, dann eben ich. Ich bin wegen eines Mannes hier. Das hast du dir gedacht, oder nicht?«

Stefan schwieg und schluckte. »Du bist ziemlich jung dafür«, presste er endlich heraus.

»Ach wirklich? Ich werde nächstes Jahr fünfzehn. In dem Alter ist manche schon verlobt. Und außerdem – hast nicht du mir erklärt, dafür kann man nicht zu jung sein, sondern höchstens irgendwann zu alt?«

Verblüfft sah er auf. »Du hast recht«, gab er zu. »Ich war auch noch nicht fünfzehn, als ich …«

»Als du das Mädchen kennengelernt hast, das du hier besuchst?«, beendete Katharina probeweise seinen Satz.

Er schüttelte den Kopf. Sein Gesicht wirkte angespannt, seltsam gequält. »Nein, als ich gelernt habe … als ich gelernt habe, was begehren heißt. Aber ich sollte so nicht zu dir sprechen, ich sollte das wirklich nicht, denn für ein Mädchen ist es anders als für einen Mann.«

»So, ist es das?« Katharina schnaufte. »Können Mädchen nicht lernen, was … begehren heißt?«

Bei dem Wort begehren zuckte er zusammen. »Doch«, murmelte er, »doch natürlich, das können sie, aber …«

»Aber was?«

»Aber für Mädchen ist es noch gefährlicher als für Männer. Und bitte glaub mir, für Männer ist es gefährlich genug.«

»Und was nützt mir das? Soll ich, weil es gefährlich ist, damit aufhören, und verrätst du mir auch, wie man das macht?«

»Du bist nicht bei Trost, Kathi Grashüpfer.« Prüfend sah er ihr ins Gesicht. »Das, was du zu mir sagst, würde kein anderes Mädchen seinem Vetter ins Gesicht sagen. Nicht einmal die kecke Jette hätte dazu den Schneid gehabt.«

»Ach, am Schneid hat es mir nie gefehlt«, bemerkte Katharina. »Mein Problem ist eher: Ich habe zu viel davon.«

»Das kann man wohl sagen!«

»Aber wir haben uns ja versprochen, den anderen nichts zu verraten. Also kann ich zu dir sagen, was ich will, oder nicht?«

Noch während sie auf seine Antwort wartete, wurde das Tor in Helens Gartenmauer geöffnet, und heraus trat Ben. Wie üblich trug er schwarze Stiefel und Reithosen zu einem Hemd aus grobem reinem Leinen. Immer ging er aufrecht, mit gestrafften Schultern wie der Herr der Straße. Als hätte sie ihn nicht vor drei Tagen, sondern vor drei Jahren zum letzten Mal gesehen, starrte Katharina ihn an.

»Sag mal, ist das nicht euer Bursche?«, kam es von Stefan. »Ben Alvarez?«

Katharina gab keine Antwort, starrte Ben an und wünschte sich Stefan ans andere Ende der Welt.

Dem entfuhr ein ächzender Laut. »Das Spiel, das du spielst, ist noch viel gefährlicher, als ich gedacht habe. Hüte dich, Kathi, um Gottes willen, hüte dich.«

Sie fuhr herum. »Und was machst du jetzt?«, herrschte sie ihn an. »Läufst du zu meiner Mutter, die glaubt, ich bin beim Sprachunterricht, brichst dein Versprechen und erzählst es ihr?«

Stefan senkte den Kopf. »Nein«, sagte er leise. »Vielleicht wäre es meine Pflicht, es zu tun, und vielleicht würde ich es tun, wenn nicht …«

»Brich nicht ständig ab, sprich aus, was du zu sagen hast!« Dass Ben sie hören konnte, fiel ihr erst ein, als er den Kopf nach ihr drehte.

»Wenn nicht mein Spiel genauso gefährlich wäre«, erwiderte Stefan und wandte sich zum Gehen. »Pass auf dich auf«, warf er ihr noch hin. »Und wenn du ihn liebhast, auch auf ihn.«

 

Sie gingen nebeneinanderher, Ben schweigend, Katharina plappernd, er eilig und sie bemüht, mit ihm Schritt zu halten. So wie immer. Sie hatte ihn nicht gefragt, wo er hinging. Vermutlich hätte sie auch keine Antwort erhalten. »Das ist lustig, nicht wahr?«, schwatzte sie vor sich hin, als wäre er einer ihrer Verwandten. »Dass ich hier meinen Vetter Stefan treffe, meine ich. Du erinnerst dich doch an Stefan, oder? Er war zwei Jahre in Mexiko-Stadt, aber jetzt ist er wieder hier. Er arbeitet für einen Nachbarn von deiner Helen.«

Und dann hielt sie inne. Sie fragte sich, ob sie wirklich hoffte, dass er auf ihr Geschwätz einging, und ob sie sich länger so entwürdigen wollte. Als sie feststellte, dass sie beides nicht tat, verstummte sie und blieb stehen. Er ging weiter.

Sie ließ ihn fünf Schritte gehen, dann rief sie: »Ben!«

Er blieb weder stehen, noch drehte er sich um.

»Ben!«, rief sie noch einmal. »Ich bitte dich, hör mir nur fünf Minuten lang zu. Ich schwöre dir, es ist das letzte Mal, danach lasse ich dich gehen und komme nicht wieder.«

Nach einem weiteren Schritt blieb Ben stehen und drehte sich um. »Du schwörst, du machst sofort danach kehrt und scherst dich nach Hause?« Ungläubig hob er eine Braue.

Katharina nickte beflissen.

»Und du hörst mit diesen Verfolgungsjagden auf?«

Wieder nickte sie.

»Sei’s drum«, sagte er und verschränkte die Arme vor der Brust.

Sie wartete, bis sie sicher war, dass er nicht zu ihr kommen würde, dann ging sie zu ihm. Zwar war die Gasse menschenleer, aber nur ein paar Straßen weiter tummelte sich das Leben, und das, was sie ihm zu sagen hatte, war für keinen anderen bestimmt. Sie wollte schlucken, fand aber ihren Gaumen so trocken, dass es schmerzte. Auf einmal war sie stolz auf sich. Sie hatte Angst, doch sie würde es hinter sich bringen, und was immer herauskam, sie würde damit leben. »Ich hab dich lieb«, sagte sie. Sie hatte es früher oft zu ihm gesagt, es war nichts Besonderes gewesen, aber jetzt war es so besonders, dass sie den Atem anhielt, um dem Nachhall der Worte zu lauschen. »Ich habe versucht es dir zu sagen«, fuhr sie fort. »Aber du hast mich nie ausreden lassen oder hast mir nicht zugehört. Du willst, dass ich aus deinem Leben verschwinde – doch das kann ich nicht, solange du nicht gehört hast, was ich dir zu sagen habe. Du musst es wissen. Es ist, als wenn ich etwas bei mir hätte, das dir gehört, und du würdest mir verbieten, es dir wiederzugeben.«

»Behalte es«, sagte er so wegwerfend, dass sie einen Anflug von Zorn verspürte. »Ich will nichts von dir.«

»Ich gebe es dir trotzdem«, erwiderte sie. »Es tut mir leid, was passiert ist. Es war meine Schuld. Ich habe etwas Dummes getan, und du bist dafür bestraft worden. Ich hätte dir beistehen sollen, zu dir halten, wie du vor deiner Mutter zu mir gehalten hast, aber ich war wie gelähmt. Ich bitte dich um Verzeihung, Ben. In meinem ganzen Leben habe ich nie etwas so Furchtbares gesehen wie meinen Vater, der auf dich einprügelte …«

»Halt den Mund«, fuhr er ihr ins Wort. »Mach, was du willst, nur halt endlich deinen gottverdammten Mund.«

Dass Menschen fluchten, schreckte Katharina schon lange nicht mehr. Dass aber Benito auf solche Weise mit ihr sprechen konnte, als würde er sich den Mund voll Dreck füllen und sie anspucken, tat unglaublich weh. Sie fühlte sich blind und wollte blind um sich schlagen.

»Hast du gesagt, was du so unbedingt sagen musstest?«, fragte er, nun wieder ruhig und kalt. »Kann ich jetzt gehen?«

Er wartete ihre Antwort nicht ab. Durch Schleier sah sie, wie er weiterging und hinter der Häuserecke verschwand. Und wenn sie mit Ketten an den Boden geschmiedet gewesen wäre, sie hätte nicht stehen bleiben können. Verstört, wie sie war, rannte sie hinter ihm her.

Die Gasse mündete in einen Platz mit einem ausgetrockneten Brunnen, an dessen Mäuerchen ein paar Männer lehnten. Auf der gegenüberliegenden Seite versperrte eine Kapelle aus gelbem Backstein den Weg. Die schäbigen Geschäfte, die die seitlichen Begrenzungen bildeten, waren geschlossen und verrammelt. Neben dem Brunnen drängten sich weitere Männer im Kreis um eine aus Latten errichtete Absperrung. In ihren Gesichtern schienen sich sämtliche in Veracruz vertretenen Züge zu vereinen. Sie mussten Mestizen sein, Mischlinge, weder der hellhäutigen spanischen Rasse zugehörig noch einer dunklen indianischen.

Die Absperrung war nicht mehr als kniehoch und der Bereich, den sie umgab, nicht größer als fünf Schritt im Durchmesser. Die Männer standen nicht, sondern knieten in zwei Trauben einander gegenüber. Vor beiden Gruppen hingen je drei Körbe aus Metall, so eng geflochten, dass man keinen Blick hinein erhaschen konnte. Die Körbe bewegten sich. Sie sprangen auf und ab wie Ballons, obwohl sie um vieles schwerer sein mussten.

Ben blieb stehen und sah sich nach allen Richtungen um. Offenbar war er versehentlich auf diesen Platz geflohen und konnte jetzt keinen Ausweg entdecken als den, auf dem Katharina ihm entgegenkam. Wie ein Stück Wild wirkte er, das sich umzingelt findet und die Wahl hat, in welche der Kugeln es läuft. Katharina ging weiter, ohne sich um seine Not zu scheren. Sie war und blieb die Neugier in Person. Trotz des Schlamassels mit Ben wollte sie wissen, was in der Absperrung vor sich ging und was in den sonderbaren Körben war. Einer der Männer, der einen ausgefransten Strohhut trug und sich an einem der Körbe zu schaffen machte, bemerkte sie und drehte sich um.

»Ichtaca!«, rief Ben.

In Katharinas Ohren wurde ein ungeheures Triumphgeheul laut. So war es also! Wann immer er die Kontrolle verlor und seinen Hass vergaß, entfuhr ihm der Kosename. Der Mann mit dem Strohhut rief ihr etwas zu und grinste. Mit Bedacht machte sie noch zwei Schritte auf ihn zu.

»Callate!«, schrie Ben den Mann an wie vorhin Katharina. »Halt dein Maul.« Dann sprang er zu ihr, packte sie mit schmerzhafter Heftigkeit am Arm und zerrte sie an einen freien Platz hinter der Absperrung. »Los, sieh es dir an, wenn es das ist, was du willst«, befahl er ihr auf Deutsch. »Sieh dir das dreckige Spektakel an.«

Der Mann mit dem Strohhut lachte.

Katharina versuchte ihren schmerzenden Arm zu befreien, aber Ben hielt sie erbarmungslos fest. »Was ist das?«, fragte sie, den Blick auf den Mann mit dem Strohhut gerichtet, der jetzt über die Absperrung trat, sich auf den mit Sand bestreuten Boden hockte und einen der Körbe vom Haken löste.

»Hahnenkampf.« Katharina fuhr herum und sah in Bens grimmiges Gesicht. Als der Mann die Klappe des Korbs öffnete, senkte er den Blick. Der Mann griff in den Korb und zerrte ein wild flatterndes, sich wehrendes Tier heraus, dessen gelbe und schwarze Federn flogen. Mit einer Hand hielt er es um den Hals gepackt, mit der anderen mühte er sich, ein blinkendes Metallteil an dem Fuß des Hahns zu befestigen. Auf der anderen Seite hatte ein Mann dieselbe Prozedur mit einem schwarz-roten Hahn begonnen. Als der mit dem Strohhut die Hand von dem Metallteil hob, sah Katharina, dass es eine scharf geschliffene, gebogene Klinge war.

Um beide Fesseln wurden den Hähnen solche Sporen gebunden, wobei die Männer wüste Flüche ausstießen. In der Zwischenzeit riefen die Übrigen einander Anweisungen zu, Geld wechselte den Besitzer, und bunte Stofffetzen wurden ausgegeben. »Schließen sie Wetten ab?«, fragte Katharina.

Ben nickte, ohne aufzublicken. »In dieser Stadt kannst du auf alles wetten. Gewiss auch darauf, wen der Krieg als Erstes in Stücke reißt, Nordamerika oder Mexiko.«

Eine Glocke läutete. Augenblicklich verstummten sämtliche Gespräche. Selbst die Luft schien vor Spannung zu zittern. Ein Kampfrichter sprang über die Absperrung und gab den Männern ein Zeichen, die Hähne loszulassen. Wie aus Katapulten geschleudert, schnellten die Tiere aufeinander zu. Gleich darauf sah man nichts mehr als ein ineinander verkeiltes rot-schwarz-gelbes Knäuel und eine Wolke fliegender Federn. Blut spritzte und verfärbte den Sand. Die Menschenmenge blieb still, nur das Kampfgeschrei der Tiere schrillte in den Ohren.

Für Momente taumelten sie auseinander und ließen erkennen, was sie mit Klingen und Schnäbeln einander angetan hatten. Katharina wollte sich abwenden, aber sie tat es zu spät und erhaschte einen Blick auf den schwarz-roten Hahn, auf das aufgerissene Gesicht, die Krater, aus denen Blut in Klumpen quoll, das ausgehackte Auge. Ein Schrei entfuhr ihr. In ihrem Rücken vernahm sie noch ein anderes Geräusch. Sie drehte sich um und sah Ben, der sich vornüberbeugte und würgte. »Schlappschwanz«, zischte einer der Männer und lachte.

Katharina packte Ben am Arm, wie er zuvor sie gepackt hatte. »Komm, weg von hier.« Ohne sich zu verständigen, rannten sie zurück in die Gasse, aus der sie gekommen waren, von dort in eine andere Gasse und blindlings weiter, bis Katharina völlig außer Atem war und sich in einem Durchgang gegen eine Hauswand fallen ließ. Ben blieb ebenfalls stehen, beugte sich vornüber und würgte qualvoll, ohne etwas von sich zu geben. »Es ist ja vorbei«, sagte Katharina noch immer keuchend und legte ihm die Hand auf den zuckenden Rücken. »Ich habe schon wieder etwas Dummes getan, ich hätte niemals mit dir dorthin gehen dürfen.«

»Du mit mir?« Er richtete sich auf und verzog den Mund. Zum ersten Mal lag in seinem Lächeln keine Spur von Hohn. »Soweit ich weiß, bin ich mit dir dorthin gegangen. Du wolltest das elende Gemetzel doch unbedingt sehen.«

»Ja, das wollte ich, aber ich hätte mich daran erinnern müssen, dass dir von so etwas übel wird. Ich weiß noch, einmal hat die Sanne vom Markt ein Huhn mitgebracht, und du solltest es schlachten, aber du hast mit dem Beil dagestanden und dir die Seele aus dem Leib gewürgt. Sie hat dich wie eine Furie geohrfeigt, und du hast das Beil fallen lassen und bist mit dem Huhn davongerannt …«

Das Lachen blieb ihr im Hals stecken, als sie Benitos Blick bemerkte. »Hör auf«, flüsterte er, und sein Flüstern klang gefährlicher als jedes Schreien, »hör mit dem verdammten Gerede endlich auf.«

Katharina wich zurück. Sie hatte es satt. All die Fragen, die in der Luft hingen und nie gestellt werden durften. Wie gut kannte sie das aus ihrer Kindheit – das Erstarren, sobald sie eine harmlose Frage in den Raum warf, das Erbleichen, das kalte Schweigen, mit dem ihre Mutter sie strafte, als hätte sie ihr Unsägliches angetan. Und jetzt ertrug sie dasselbe von Ben – Fragen, die verboten waren, Themen, die nicht gestreift werden durften, verächtliche Kälte ohne Erklärung. Entmutigt sah sie zu ihm auf. Hass blitzte in seinen Augen, als würde er nicht die Freundin betrachten, mit der er Jahre seines Lebens geteilt hatte, sondern eine Verbrecherin, der er Übles an den Hals wünschte. Es ist genug, befand sie. Endlich genug.

Worum ging es überhaupt? Worum war es damals gegangen? Um etwas Verworrenes, Undurchschaubares, das ihre Eltern und seine Mutter betraf, nicht sie beide. Und für diese Schimäre, die Katharina nicht einmal zu benennen wusste, warf er ihre Freundschaft von damals ebenso weg wie den Schatz, den sie heute hätten teilen können. Sie hatte keine Kraft mehr, dagegen anzukämpfen, sie musste einsehen, dass sie verloren hatte.

»In Ordnung, Ben«, sagte sie. »Ich glaube, ich habe es begriffen. Du willst mich lieber mit Blicken vernichten, statt mir zu erklären, womit ich dich verletzt habe, so dass ich es in Zukunft vermeiden könnte. Du willst mich auch nichts fragen und meine Erklärungen nicht hören. Viel lieber vergräbst du dich in deinen fünf Jahre alten Hass und klagst ein Kind dafür an, dass es in einem schlimmen Augenblick nicht wusste, was zu tun war. Ja, das ist es, was du tust, denn ich war ein Kind. Ich hätte stark sein müssen, ich hätte meinen Vater aufhalten müssen, aber verdammt noch mal, ich war zu Tode erschrocken und zehn Jahre alt!« Sie hatte ohne Pause gesprochen, so dass sie jetzt innehalten und nach Atem ringen musste. In sein Gesicht zu sehen wagte sie nicht, hob jedoch eilig die Hand, um ihn an einer Antwort zu hindern. Um keinen Preis wollte sie sich abhalten lassen, ihm auch dieses Letzte noch zu sagen. »Dass du so sein könntest, so albern und ungerecht, habe ich nicht geglaubt. Deshalb habe ich dich den Sommer lang verfolgen müssen und war nicht fähig, aufzugeben, weil ich noch immer überzeugt war, wenn du erst wüsstest, wie furchtbar das alles für mich war und wie ich dich vermisst habe, würdest du mich wieder bei dir haben wollen. Ich dumme Gans habe gedacht, dass das, was wir hatten, für dich genauso kostbar war wie für mich und dass ich dir ebenso gefehlt habe.« Noch einmal holte sie Atem, dann brachte sie den Rest heraus. »Aber ich habe mich eben geirrt, und jetzt bin ich kein Kind mehr. Ich lasse mich von niemandem mehr herumstoßen, von meinen Eltern nicht und von dir erst recht nicht. Ich bin aus freien Stücken zu dir gekommen, weil ich nicht länger erlauben wollte, dass ein Ereignis, an dem wir beide nicht schuld sind, mir wegnimmt, was mir auf der Welt das Liebste war. Aber ich habe es begriffen. Für dich war es nicht das Liebste, es war dir nicht einmal wichtig genug, einen Moment lang über deinen Hass hinwegzusehen. Also halte ich jetzt mein Versprechen und gehe aus freien Stücken wieder fort.«

Sie strich sich das Haar hinter die Ohren, auch wenn es sofort wieder hervorsprang, drehte sich um und machte sich auf den Weg, ohne zu wissen, wo sie war und wohin sie sich zu wenden hatte. In den engen Durchgang fanden die letzten Strahlen der Abendsonne keinen Einlass. Sie fröstelte und wünschte, sie hätte ihr Schultertuch nicht auf der wilden Flucht verloren. Die Zeit für ihre Englischstunde war längst vorbei, vermutlich suchte die Mutter wieder einmal die Stadt nach ihr ab, doch was kümmerte sie das? Was auf der Welt sollte sie je wieder kümmern, jetzt, da ihr Kampf verloren war?

Zumindest würde diesmal nicht Ben für sie die Strafe beziehen. Ben würde nie wieder eine Strafe für sie beziehen, er würde aus ihrem Leben verschwinden, wie er schon einmal verschwunden war, und dieses Mal würde ihre Trennung endgültig sein. Tränen brannten ihr in den Augen und raubten ihr die Sicht. Sie zwang sich, nicht darauf zu achten, sondern tapfer weiterzugehen. Irgendwann musste sie auf jemanden treffen, der ihr den Weg nach Hause wies. Irgendwann musste sie in ihrer grenzenlosen Einsamkeit auf einen Menschen treffen.

Etwas berührte ihre Schulter. Weich. Geradezu scheu. Eine Stimme sprach ihren Namen aus. Die einzige Stimme und den einzigen Namen. »Das ist nicht wahr, Ichtaca. Du hast mir auch gefehlt.«

Im nächsten Augenblick lag sie in seinen Armen, und falls er noch etwas sagte, konnte es auf der Welt kein Mensch hören, denn Katharinas Weinen war so laut wie das Clairon der Infanterie. Sie krallte eine Hand in seinen Rücken und die andere in sein Haar, wie um ihn zu hindern, ihr noch einmal zu entkommen. »Ich lass dich jetzt nie mehr weg«, stammelte sie unter Schluchzern. »Hörst du, Ben? Nie mehr.«

»Ich heiße nicht Ben«, sagte er, und sie konnte hören, dass er lächelte.

Sie hob den Kopf, wischte sich hastig das Geschmier von den Wangen und blickte zu ihm auf. Er lächelte nicht mehr, sah sie nur an, die rechte Braue erhoben. »Benito«, sagte sie, reckte sich auf Zehenspitzen und küsste ihn auf den Mundwinkel. Als kleines Mädchen hatte sie ihn hemmungslos mitten auf den Mund geküsst, aber das kleine Mädchen war nun endgültig begraben, und das Küssen als Erwachsene, als Ichtaca und Benito, würden sie erst lernen müssen.

Er neigte den Kopf und küsste sie erst auf die Stirn, dann neben die Nase, und zuletzt berührte er ihre Lippen mit seinen und ließ sie einen Herzschlag lang liegen. Sie wollte reglos mit ihm stehen bleiben, bis die Ewigkeit vorüberging, und zugleich wollte sie vor Seligkeit hüpfen, so hoch und wild, wie ihr Herz schlug. Seine Lippen, die hart und fest aussahen, waren weich wie Seide, und von seinem Duft, in dem wie früher ein wenig Heu und Sattelleder hing, wurde ihr leicht im Kopf. Als er sich aufrichtete, hätte sie ihn zu sich zurückzwingen wollen, um die Süße ohne Ende zu kosten.

»Ich darf das nicht tun, Ichtaca«, sagte er. »Das weißt du, oder?«

»Woher soll ich solchen Unsinn wissen? Warum darfst du nicht, wer verbietet es dir?«

Bitter lachte er auf. »Die halbe Welt.«

»Dann hören wir eben auf die andere Hälfte.« Sie nahm sein Gesicht in die Hände und wollte es zu sich hinunterziehen, er aber ließ es nicht zu. Geradezu zärtlich strich er ihre Hände von seinen Wangen.

»Du bist noch so jung«, sagte er.

Katharina stöhnte. »Aber du bist dein eigener Großonkel, was?«

Er musste lachen. Das hatte sie an ihm geliebt, als sie Kinder waren, dass er, selbst wenn die Wut ihn ergriff, machtlos gegen sein Lachen war. Verblüfft wirkte er obendrein. »Findest du mich jung?«

Sie packte seinen Kopf und küsste ihn. »In der Tat. Im Augenblick beträgst du dich, als wärst du gerade drei Jahre alt.«

Benito musste wieder lachen. »Du bist ziemlich unverschämt, weißt du das?«

»Ja.«

»Und unverschämt zu einem Mann zu sein ist gefährlich, weißt du das auch?«

»Zu dir nicht«, sagte sie und küsste sein Ohr.

Sachte befreite er sich, strich ihr dabei übers Haar und erlaubte seinen Fingern, sich kurz darin zu verlieren. Niemand fasste ihr Haar gern an. Aber Benito tut es, jubelte es in ihr. »Wirst du jetzt ausnahmsweise nicht unverschämt, sondern vernünftig sein und dich nach Hause bringen lassen?«, fragte er.

Furcht ballte sich in ihrer Kehle, so dass sie das Nein nicht herausbrachte.

Er musste ihr angesehen haben, was in ihr vorging, denn er berührte ihre Wange und sagte: »Nur für heute.«

Der Knoten in ihrer Kehle löste sich. »Ich will aber nicht. Ich habe so lange gebraucht, um dich zurückzubekommen, wie kann ich dich so schnell wieder loslassen?«

»Bitte, Ichtaca.« Von neuem versuchte er sich ihr zu entwinden, sah aber schnell ein, dass er mit seinen sachten Bewegungen gegen ihre Entschlossenheit nichts ausrichten konnte. »Ich muss unbedingt gehen. Ich habe eine wichtige Verabredung verpasst und muss zusehen, wie ich das wieder in Ordnung bringe.«

»Eine Verabredung? Mit wem denn, etwa mit deiner Helen, die dich ansieht, als würde sie dich gern zum Nachtmahl verspeisen?«

Er lachte schon wieder. »Eigentlich sollte ich dir jetzt erklären, dass es dich einen gesalzenen Käse angeht, mit wem ich mich verabrede, und dass ich dir verbiete zu beobachten, wer mich ansieht oder zum Nachtmahl verspeist.«

»Solltest du?«, fragte sie.

»Allerdings.«

»Aber du tust es nicht.«

Er stöhnte, zog sie an sich und hielt sie so fest, dass ihr die Rippen schmerzten. »Nein, ich tue es nicht«, murmelte er, »und warum, weiß ich selbst nicht. Vielleicht, weil mein Leben nicht kompliziert genug ist. Oder weil mein Bruder gesagt hat, er habe Angst, dass mein Zynismus mich auffrisst.«

»Oder weil du mich liebhast. Mit wem warst du verabredet?«

»Mit dem Zeugoffizier von Veracruz. Und bevor du fragst: Das ist der Mann, der die Aufsicht über das Zeughaus innehat, also über die Ausrüstung, die an Militäreinheiten ausgegeben wird.«

»Und was hat das mit dir zu tun?« Ihr Herz begann hohl zu hämmern. »Du hast doch gesagt, du gehst nicht in den Krieg!«

»Ich nicht«, erwiderte er und ließ sie los. »Aber mein Bruder.«

»Und dieser Zeugoffizier …«

»Wollte mir ein paar Sachen übergeben, die die Männer in den Bergen brauchen.«

»Was für Sachen? Und was für Männer in den Bergen?«

Benito seufzte, ließ sich schließlich auf den Boden nieder und lehnte den Rücken an die Wand. Mittlerweile hatte es begonnen zu dunkeln, und die Abendkühle verriet den nahen Herbst. Katharina setzte sich neben ihn und legte ihren Kopf an seine Schulter. Er wandte ihr sein Gesicht zu. »Du weißt überhaupt nichts von diesem Krieg, nicht wahr?«

»Müsste ich denn etwas davon wissen? Ich dachte, der Krieg findet irgendwo im Norden statt und kümmert uns nicht.«

»Nicht zu fassen. Glaubt ihr das wirklich, Ichtaca? Dass ihr in diesem Land leben könnt wie auf eurer Insel der Seligen, und das, was in diesem Land geschieht, geht euch nichts an?«

Kleinlaut zuckte sie mit den Schultern. »Bitte erklär es mir«, sagte sie. »Wenn es dich angeht, geht es auch mich an. Was macht dein Bruder in den Bergen, und was machst du mit den Sachen von diesem Zeugoffizier?«

Kurz überlegte er, dann gab er sich geschlagen. »Du wirst deiner Familie kein Sterbenswort davon erzählen, versprichst du mir das? Ich sollte mir eher die Hand abhacken, als davon zu sprechen, aber in deinen Händen scheine ich weicher als Bohnenmus zu sein.«

Sie küsste seine Hand. »Ich verspreche es dir. So wie wir es uns damals im Heu versprochen haben. Was wir uns sagen, gehört uns, sonst keinem auf der Welt.«

Benito nickte. »Mein Bruder und seine Einheit werden in einem geheimen Lager als Guerilleros ausgebildet«, begann er, und dann erzählte er ihr, wie Miguel in den Bergen lebte, wie er jeden Monat Proviant und Ausrüstung zu ihm in das Hochtal brachte und wie das, was die Armee ihm für die Soldaten gab, nie genügte, sondern höchstens ein Tropfen auf den heißen Stein war.

Katharina hatte Miguel nie gemocht. Er gehörte zu denen, die sie von Benito trennen wollten. Jetzt aber wünschte sie, sie hätte etwas tun können, um ihm zu helfen. »Warum tun die Männer das?«, fragte sie. »Werden die Guerilleros, wenn sie fertig ausgebildet sind, in den Norden gebracht, um dort zu kämpfen?«

Benito schüttelte den Kopf. »An Männern mangelt es im Norden nicht. Es sind Waffen, die fehlen. In der Schlacht von Palo Alto sollen nicht mehr als acht Geschütze aufgefahren sein, die meisten davon nicht schwerer als Sechspfünder. Außerdem sind die nordamerikanischen Soldaten glänzend geschult, während unsere Männer kaum wissen, wie man eine Muskete hält.«

»Und was bedeutet das?«, fragte sie vorsichtig.

»Es bedeutet, dass Mexiko bereits drei Schlachten und eine wichtige Grenzstadt verloren hat«, erwiderte er. »Und dass sich das Ziel, die Amerikaner im Norden zurückzuschlagen, nicht erreichen lassen wird.«

»Und was geschieht dann?«

»Dann kann alles Mögliche geschehen. General Taylors Armee könnte von oben ins Landesinnere vordringen. Es ist jedoch wahrscheinlich, dass ihnen das zu riskant ist. Die Wege sind endlos und allzu leicht zu verteidigen. Viele mexikanische Offiziere hoffen, dass sie sich entscheiden, Kräfte aus dem Norden abzuziehen und stattdessen eine Landung an der Golfküste zu wagen.«

»Aber die Golfküste …«, begann Katharina, »die Golfküste sind doch wir!«

»In der Tat«, sagte Benito. »Unsere Heeresleitung glaubt wohl, dass die Truppen ihrer hier leichter Herr werden, zumal der Vomito negro ihnen einen Teil der Arbeit abnehmen könnte. Wenn das aber nicht der Fall ist, wenn Veracruz fällt und die Amerikaner auf Mexiko-Stadt ziehen, sollen Guerilleros an den Verbindungsstraßen lauern, um sie aufzuhalten.«

»Wenn Veracruz fällt«, murmelte Katharina vor sich hin und wiederholte es noch einmal: »Wenn Veracruz fällt. Wie zum Teufel haben wir denn glauben können, der Krieg ginge uns nichts an?«

»Ich habe nicht die Spur einer Ahnung«, bekannte Benito.

Inzwischen war es völlig dunkel, und Katharina bemerkte, dass ihre Zähne aufeinanderschlugen. Benito zog sie an sich. Dann stand er auf. »Wir müssen jetzt gehen«, sagte er. »Ich muss heute noch diesen Mann treffen, und du hättest längst nach Hause gehört.«

Diesmal widersprach sie nicht, sondern schmiegte sich in seinen Arm und ließ sich wie eine willenlose Puppe führen. In ihrem Kopf tobten Empfindungen durcheinander und ließen sich so wenig trennen wie die Hähne im Kampf. Sie fühlte sich unendlich glücklich und unendlich müde, verwirrt, verängstigt, verwundert und erregt. Alles, was sie wusste, war, dass ihre Hand auf Benitos Hüfte ruhte, dass sie durch den dünnen Stoff die Wärme seiner Haut spürte und dass dies kleine Stöße ihren Arm hinauf bis in ihr Herz sandte. Sobald sie den hohen Strauch erkannte, der ihrer Siedlung eine Grenze setzte, blieb sie stehen. »Von hier gehe ich allein«, sagte sie. »Nein, Benito, versuch nicht, mich umzustimmen. Mir droht hier keine Gefahr, aber es könnte uns jemand begegnen. Dass dir noch einmal ein Mann meiner Familie weh tut, halte ich nicht aus.«

Seine Augen wurden schmal. »Wofür hältst du mich? Für einen Schlappschwanz? Der Kerl beim Hahnenkampf ist einer Meinung mit dir.«

»Hähne quälen ist für Schlappschwänze«, flüsterte sie in sein Ohr. »Im Vergleich dazu fand ich dich ziemlich tapfer.«

Er gab klein bei. »Bist du sicher, dass du allein gehen kannst?«

»Ganz sicher. Wann sehe ich dich wieder?«

»Kannst du das mir überlassen?«, bat er und hob zart ihr Kinn.

Sie wollte darauf pochen, dass er ihr hier und jetzt Zeit und Ort nannte, dann aber sah sie seine Augen und erkannte, dass sie ihm vertrauen musste. »Hasta moxtla«, sagte sie, versuchte seinen Mund zu küssen, traf daneben und lief los. Die zwei Worte waren ihr jäh wieder eingefallen. Sie hatten sie als Kinder benutzt, um sich zu verabschieden. »Bis morgen« hießen sie.