53. Reset

 

Markus Steller

 

»Was machen wir jetzt?«, fragte Katta.

Steller wollte am liebsten überhaupt nichts mehr machen. Sie alle saßen seit einer halben Ewigkeit in diesem auf Stelzen stehenden Verbindungstunnel fest, der die Geflügelhalle mit dem Hauptgebäude verband. Seitdem sie dieses seltsame Wesen gesehen hatten, waren sie wie gelähmt. Da lebte man neuerdings in einer Welt von irren Halbzombies und dachte, dass einen nichts mehr überraschen könnte. Und dann das. Hätte er das Vieh alleine gesehen, dann hätte die Möglichkeit bestanden, die Erscheinung als Sinnestäuschung abzutun. Aber so? Er hob vorsichtig seinen Kopf und sah zum Fenster hinaus. Überall stolperten Infizierte durch die Gegend. Von dem unheimlichen Wesen fehlte jede Spur. »Das Ding ist verschwunden«, sagte Steller.

»Das ist nicht verschwunden. Es ist nur außer Sicht. Das sind zwei verschiedene Dinge«, sagte Wolf.

»Du meinst, es ist noch da?«, fragte Katta.

Wolf nickte. »Schlechte Dinge verschwinden für gewöhnlich nicht einfach wieder.«

Steller sah sich das vierstöckige Hauptgebäude an. So wie es aussah, diente es der Verwaltung. »Die anderen müssen da drin sein.«

»Wir sollten sie suchen«, sagte Wolf.

Steller nickte. Die anderen zu finden würde zwar nichts an der Gesamtlage ändern, aber es war eindeutig besser als hier zu verschimmeln. »Machen wir uns auf den Weg.« Er runzelte die Stirn.

»Was ist?«, fragte Demir.

»Ich wundere mich, dass die anderen nicht nach uns suchen. Wir sind schon länger überfällig«, sagte Steller.

»Ich denke, die ziehen gerade genauso den Kopf ein wie wir«, sagte Wolf.

»Ja, vermutlich.«

Demir versuchte auf die Beine zu kommen. »Bist du bescheuert? Bleib unten. Wir müssen krabbeln.« Steller sah Demir zornig an. Der Junge dachte nicht nach. »Wenn die dich am Fenster sehen, sind wir im Arsch.«

Demir ließ sich wieder fallen. »Ist ja schon gut.«

»Wir... «

Es schepperte. Eine Art Knall. Das Echo des Geräusches zog an ihnen vorbei. Das kam aus der Geflügelhalle. »Was war das?« Stellers Herz stolperte. »Sie sind in der Halle. Wir müssen sofort verschwinden.«

»Oh, mein Gott.«

»Los jetzt. Wir haben... «

Die Flügeltür flog auf und spuckte einen Mann aus, der nur unter Mühe sein Gleichgewicht halten konnte. Es sah aus, als ob Betrunkene einen Cowboy durch die Saloontür geworfen hätten. Steller riss die MP hoch und schoss den Typen nieder. Da kamen noch mehr. »Anna«, schrie er. »Lauf weg. Versteck dich.« Das Kind zögerte. »Renn weg!« Anna sprang auf die Beine und rannte so schnell sie konnte in Richtung des Verwaltungsgebäudes. »Demir, pass auf sie auf. Ich halte euch den Rücken frei.« Inzwischen waren sie alle aufgesprungen. Das Versteckspiel war beendet. Demir rannte hinter dem Kind her. Katta folgte ihm. Wolf hatte die Maschinenpistole in Anschlag gebracht. Gemeinsam mit Steller lief er langsam rückwärts in Richtung der anderen. Die Tür sprang erneut auf. Diesmal waren sie zu dritt. Nach wenigen Metern brachen sie im gemeinsamen Feuer der beiden Männer zusammen. Steller wusste, was als Nächstes geschehen würde. Immer mehr würden kommen, bis sie den Strom nicht mehr aufhalten konnten.

»Wir müssen verschwinden«, rief Wolf. »Uns verstecken. Irgendwo verbarrikadieren.« Die beiden drehten sich um und rannten den anderen hinterher. Gemeinsam stolperten sie durch die Flügeltür, die zum Verwaltungsgebäude führte. »Wir müssen sie blockieren«, schrie Wolf. Steller sah sich hektisch um. Ein Gang führte nach links und rechts, verlor sich nach wenigen Metern in der Dunkelheit. Von den anderen fehlte jede Spur. Hier gab es nichts, was ihnen helfen konnte. Neben der ersten Bürotür stand ein Kübel mit einem Farn. Das war alles. Die Türblätter der Tür besaßen jeweils einen Griff. Er musste irgendetwas finden, um sie zusammenzubinden. Aber was? Schnürsenkel? Wolf sah gebannt durch die Scheibe der Tür zurück in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Seinem Gesichtsausdruck entnahm Steller, dass der Gang im Moment leer war. Das würde nicht so bleiben. Diese Irren traten immer in Massen auf. Außerdem mussten die Schüsse die ganze Gegend mobilisiert haben. Er öffnete den Klippverschluss seines taktischen Gürtels, an dem das Pistolenholster und die Magazintaschen hingen, und legte ihn auf den Boden. Dann machte er seinen Hosengürtel auf und zog in aus den Schlaufen. Wolf blickte ihn kurz von der Seite an. »Meinst du, das hält?«

»Nicht lange.« Mit dem Gürtel knotete er die beiden Türgriffe zusammen und legte seinen Waffengürtel wieder an. »Wir müssen weiter«, sagte er.

»Wohin?«, fragte Wolf.

Ohne zu antworten, wandte sich Steller nach links und trabte den Gang entlang. Wolf folgte ihm. Sie mussten die anderen finden. Am wichtigsten war Anna. Er hoffte, dass Demir und Katta bei ihr waren. Aber auch den Rest der SEK-Truppe würde er gerne wiedersehen. Getreu dem alten Motto: Der Feind deines Feindes ist dein Freund. Nach zwanzig Metern erreichten sie ein Treppenhaus. Sie befanden sich im zweiten Stock. »Hoch oder runter?«, fragte Wolf.

Welchen Weg hätte Anna genommen? Da die Infizierten sozusagen unten vor der Tür standen, wäre der natürliche Impuls nach oben zu gehen, um Abstand zwischen sich und der Bedrohung zu schaffen. »Wir gehen nach oben.«

Als sie im dritten Stockwerk ankamen, machte sich Wolf bemerkbar. »Warte.«

»Was ist?«

»Ich brauche ich eine Pause.«

»Das geht nicht. Wir... «

»Ich meine es ernst. Ich kann nicht mehr.« Unter ihnen polterte es. Dann hörten sie Schreie und das Trampeln von Füßen. Steller öffnete die nächstgelegene Bürotür. So leise wie möglich traten sie ein und verbarrikadierten die Tür. Im Grunde war das egal. Wenn die Irren sie hier aufstöberten, spielte es keine Rolle mehr, ob ein Schreibtisch vor der Tür stand. Aber es war eine Art Reflex, der einem ein leichtes Gefühl der Sicherheit gab. Der Raum hatte etwa vierzig Quadratmeter und war in mehrere Arbeitsbereiche aufgeteilt. Steller flüsterte. »Was ist los?«

Wolf hatte sich auf den Boden gesetzt. »Ich glaube, mein Fuß ist gebrochen.«

»Gebrochen?«

Der SEK-Mann nickte. »Wann ist das passiert?«

»Als wir uns im Krankenhaus abgeseilt haben.«

»Wissen deine Kollegen das?«

Er schüttelte den Kopf. »Keine Zeit. Als wir hier notgelandet sind, bin ich euch hinterher, weil die anderen zu schnell waren. Außerdem war der Weg kürzer.«

»Bist du sicher, dass er gebrochen ist? Vielleicht nur verstaucht? Oder ein Band gedehnt?«

»Ich bin mir sicher.«

Das war erstaunlich. Steller hatte nichts von Wolfs Verletzung bemerkt. Kein Humpeln, kein Stöhnen beim Gehen. Allerdings schien es nun mit der Härte vorbei zu sein. Wolf saß da wie ein Schuljunge, der sich beim Spielen die Knie aufgeschlagen hatte. Er hatte Tränen in den Augen. »Gut, dass du es den anderen nicht gesagt hast.«

»Warum?«

»Denk an Schwede. Ich glaube nicht, dass Fieber dich mit einer solchen Verletzung noch gebrauchen kann. Schwede hat er ja auch stehen gelassen, als er nicht mehr nützlich war.«

»Was willst du damit sagen?«

Steller wunderte sich. Dachte Wolf wirklich, dass sie Schwede aus Versehen zurückgelassen hätten? Vielleicht gehörte er nicht zum innersten Kreis und bekam nur so viel gesagt wie gerade notwendig. Das gab Anlass zur Hoffnung. Vielleicht war die Gruppe doch nicht so verschworen, wie er gedacht hatte. Auf dem Flur lief jemand. Das Geräusch war leise und die Schritte langsam. Aber Steller hatte es gehört. So wie Wolf aus der Wäsche schaute, hatte er die gleiche Wahrnehmung gehabt. »Freund oder Feind?«, hauchte der SEK-Mann. Unmöglich, das zu bestimmen. Wenn sich die Infizierten im Angriffsmodus befanden, dann schlichen sie auf keinen Fall. Aber im Stand-by-Betrieb sah das anders aus. Dann schlurften sie durch die Gegend. Steller stellte sich an die Tür und legte sein Ohr an das Holz. Zunächst hörte er nur sein eigenes Blut rauschen. Er konzentrierte sich. Da flüsterte jemand. Die Verseuchten flüsterten nicht, da gab es keinen Zweifel. Bevor Wolf etwas einwenden konnte, verschob Steller den Schreibtisch ein Stück und öffnete die Tür einen Spalt weit. Sofort wurde er durch das Licht einer Taschenlampe geblendet. »Nicht schießen«, presste er hervor. Steller zog die Tür weiter auf. Als Erstes drückte sich Fieber in den Raum. Dann folgten Dallas und Schippe. Zu seiner Enttäuschung musste er feststellen, dass Anna, Katta und Demir nicht bei ihnen waren.

»Wo sind die anderen?«, fragte Fieber.

»Wir wurden getrennt. Die Irren sind in das Gebäude eingedrungen. Sie kamen durch die Geflügelhalle. Die anderen müssen sich irgendwo versteckt haben. Ich hatte gehofft, dass sie euch gefunden hätten.«

Fieber schüttelte den Kopf und wendete sich Wolf zu. »Was ist mit dir? Bist du verletzt?«

»Er hat sich vermutlich den Fuß gebrochen«, sagte Steller.

»Gebrochen?« Fieber verzog das Gesicht. »Dallas. Gib ihm Morphium.«

Dallas nahm seinen Rucksack von den Schultern und begann darin zu wühlen. Dabei sah er Wolf an. »Was ist mit deinem Funk? Wir haben dich gerufen.«

»Das habe ich beim Abseilen verloren. Als ich mich auf die Fresse gelegt habe. Scheiße, tut das weh.« Er hielt sich seinen Knöchel.

»Das ist sehr schlecht«, sagte Fieber. »Sehr schlecht.« Er wandte sich an Steller. »Warum habt ihr den Schreibtisch vor die Tür gestellt?«

Steller legte die Stirn in Falten. »Wie meinst du das?«

Fieber deutete mit seinem Zeigefinger auf eine weitere Tür, die Steller übersehen hatte. Es machte wirklich keinen Sinn nur eine Tür zu sichern. Steller lachte leise auf. »So eine Scheiße.« Die Männer machten sich daran, beide Türen mit Büromöbeln zu blockieren.

»Und wie habt ihr eure Zeit so verbracht?«, fragte Steller.

»Wir haben gewartet, dass ihr kommt. Es ist ein Fehler, sich gegenseitig zu suchen. Man läuft aneinander vorbei. Da Wolf nicht auf den Funk reagierte, musste ich davon ausgehen, dass er tot war.« Fieber sah Steller an. »Bist du sicher, dass sie noch lebt?«

»Du meinst Katta?«

Fieber blinzelte kurz. »Ich meine alle drei.«

»Das hoffe ich.«

»Du hast gesagt, die Irren sind in das Gebäude eingedrungen.«

»Sie sind definitiv unter uns. Vermutlich bald überall. Habt ihr unsere Schüsse nicht gehört?«

»Doch. Das ist der Grund, warum wir uns auf den Weg gemacht haben.«

Steller berichtete von dem seltsamen Wesen, das sie gesehen hatten. Die Polizisten blickten ungläubig. »So ein Scheiß.« »Hast du was geraucht?« Aber als Wolf schwor, dass er es auch gesehen hatte, wurde es still.

»Was soll das für ein Viech gewesen sein?«, fragte Schippe.

»Jedenfalls war es nicht von dieser Welt und ganz sicher kein Pflanzenfresser.«

»Meinst du, dass wir es mit unseren Waffen töten können?«

Steller sah Schippe durchdringend an. »Das werden wir bald herausfinden.«

 

 

***

Rainer Theißen

 

 

»In fünf Minuten erreichen die Marschflugkörper ihr Ziel«, sagte Theißen. Auf dem Bildschirm des ComSys blickte er in Torbecks grau eingefärbtes Gesicht. Sie sah aus, als hätte sie den Leibhaftigen gesehen.

»Es tut mir leid, ich kann nicht kommen. Wir haben ein Problem, das meine Anwesenheit erfordert.«

»Verstehe.«

»Gehen Sie vor wie besprochen.« Sie machte eine kurze Pause. »Ich möchte Ihnen noch etwas sagen. Egal, wie es ausgeht. Ich danke Ihnen.«

Theißen erwiderte nichts und Torbeck beendete das Gespräch. Ein Problem, das ihre Anwesenheit erforderte? Ein Problem, das sie davon abhielt, bei dem Versuch ihre Tochter zu retten, dabei zu sein? Er wollte sich gar nicht vorstellen, was das für ein Problem sein mochte. »Wie sieht es aus?« Theißen stellte sich neben Feldwebel Stark.

»Die Marschflugkörper für den Angriff auf das Objekt sind noch vier Minuten und dreißig Sekunden entfernt. Ich denke, wir sollten die Laser der Drohne einschalten. Ansonsten wäre es, als ob wir aus siebenhundert Kilometern Entfernung mit Schrot auf das Ziel schießen würden.«

»Warte noch. Ich habe Angst, dass dieses Ding den Laser registriert und richtig interpretiert.«

»Glaubst du ernsthaft, dass die Taurus dem Teil etwas anhaben können?«

Theißen zuckte mit den Schultern. Er hoffte es. Mehr aber auch nicht. In Wahrheit rechnete er fest damit, dass das Objekt einen Schutzschild besaß oder die Raketen einfach abschießen würde. Theißen war kein großer Science-Fiction-Fan, aber er konnte sich einfach nicht vorstellen, dass der Angriff Erfolg haben könnte. Wenn die spanische Armada aus dem Nichts in der Gegenwart auftauchen würde, dann würde eine verrostete Fregatte reichen, um dem Spuk ein Ende zu bereiten. Hier war der technologische Unterschied weitaus dramatischer. Außerirdische. Er hatte bisher keine Zeit gefunden, sich ernsthaft mit der Situation zu beschäftigen. Was für ein Wahnsinn.

Die Drohne kreiste in zwei Kilometern Höhe über der Farm und dem gelandeten Objekt. Die hochauflösenden Kameras hatten Hunderte von Aufnahmen gefertigt. Das Raumschiff hatte in etwa die Ausmaße des Frankfurter Messeturms. Seine Form erinnerte an einen lang gezogenen Tropfen. Dort, wo es den Boden berührte, war es am dicksten. Theißen konnte keine Landebeine oder dergleichen erkennen. Eigentlich sah es so aus, als dürfte das Gebilde nicht stehen bleiben. Seine Unterseite war abgerundet und es schien gegen die Natur zu sein, dass es nicht einfach zur Seite kippte. Es glühte von innen. Am seltsamsten war seine Oberfläche. Milliarden von Härchen, jeweils einen Meter lang, bedeckten es vollständig. Das Schiff hatte einen Pelz. An dem Ding war nichts zu erkennen, das bei einem Menschen den Eindruck erweckte, es könne sich um ein Raumschiff handeln. Eher wirkte es organisch. Länger hatten sie darüber beratschlagt, wie sie am besten angreifen sollten. Einen besonders wichtigen oder empfindlichen Punkt konnten sie nicht ausmachen. Also erschien es logisch die Stelle zu attackieren, an der das Ding den Boden berührte, in der Hoffnung es damit zum Sturz bringen zu können. Der Angriffsmodus für das Manöver nannte sich Cave Type. Die Marschflugkörper würden sich in geringer Höhe dem Objekt nähern. Kurz vor dem Ziel würden sie in einen extremen Tiefflug gehen und in wenigen Metern Höhe über dem Boden einschlagen. Sie hatten dafür drei Taurus KEPD zur Verfügung. Die Abkürzung stand für Kinetic Energy Penetrator and Destroyer. Die Taurus waren mit MEPHISTO Tandem-Gefechtsköpfen bestückt. Die aus einer einhundert Kilogramm schweren Vorhohlladung und einem vierhundert Kilogramm schweren Penetrator bestanden. Zwei Laserentfernungsmesser maßen dabei die Distanz zum Ziel und lösten die Vorhohlladung im optimalen Abstand aus. Der Hohlladungsstachel durchschlug das Ziel, um den Penetrator, das Eindringen zu erleichtern. Das intelligente Zündsystem war in der Lage, den Durchschlag durch verschieden dichte Materialien zu messen. Damit war es möglich, eine Taurus in einem bestimmten Stockwerk eines Gebäudes explodieren zu lassen. Würde man die drei Sprengköpfe an geeigneter Stelle in den Frankfurter Messeturm jagen, so würde er einfach in sich zusammensinken. Da hatte Theißen keinen Zweifel. Aber hier? Das einzig Gute war, dass sie nicht das Geringste zu verlieren hatten.

Blieb noch der Angriff auf die Farm. Dafür standen ihnen ebenfalls drei Marschflugkörper zur Verfügung. Sie trugen das wenig eingängige Kürzel MUSJAS und waren mit Streumunition bestückt. Derzeit flogen diese drei Flugkörper eine Kurve, um ihre Ankunft zu verzögern. Eine Minute nachdem sie das Raumschiff attackiert hätten, würden die restlichen drei Raketen die Farm erreichen und rings um das Hauptgebäude und die große Halle einschlagen. Im Gegensatz zum ersten Teil des Angriffs war Theißen von dem Erfolg überzeugt. Im Umkreis von mehr als dreihundert Metern würde nichts und niemand mehr auf den Beinen stehen. Allerdings würden auch die Gebäude betroffen sein. Auch wenn die Splittermunition keine hohe Durchschlagskraft besaß, so gab es für Personen in dem Gebäude keine Garantie. Torbeck war davon überzeugt, dass sich ihre Tochter auf dem Gelände aufhielt. Er nahm das so hin. Wenn es stimmte, dann hatten sie es aus der Stadt geschafft, was für sich alleine bereits eine große Leistung war. Blieb am Ende nur zu hoffen, dass sie im richtigen Moment den Kopf einzogen.

»Noch vier Minuten«, sagte Stark.

»In zwei Minuten aktivieren wir den Laser der Drohne. Sobald die Taurus das Ziel selbstständig erfassen können, schalten wir ihn wieder ab.« In vier Minuten wären sie schlauer.

 

 

***

 

 

Karl Wiegner

 

 

Wiegner stand in einem Flur. An der Decke flackerte eine Neonröhre. Das Ganze erinnerte an einen drittklassigen Horrorfilm mit furchtbar aufgesetzt wirkendem Plot. Nicht der Rede wert. Schade nur, dass er die Hauptrolle erhalten hatte. Auf beiden Seiten des Ganges gab es Türen. Torbeck hatte ihm versichert, dass sie verschlossen waren. Er ging zur Wand rechts von ihm und öffnete eine im Beton eingelassene Klappe. Dahinter verbargen sich ein Feuerlöscher, mehrere Atemmasken und eine Handaxt. Wofür die Axt gut war, konnte er sich nicht erklären. Die Türen waren aus Stahl. Im Falle eines Brandes gab es nichts, was man damit einschlagen könnte. Vermutlich war das irgendeine unsinnige Normvorschrift von 1954. Oder hatte man vielleicht geahnt, dass es in der Anlage mal zu einer Apokalypse kommen würde? Er nahm die Axt aus der Halterung. Sie war nicht besonders groß und gut ausbalanciert. Ein Soldat aus dem Mittelalter wäre jetzt klar im Vorteil. Er selber hatte keine Erfahrung mit Hieb- und Stichwaffen. Allerdings hatte er Erfahrung mit dem Kämpfen und wusste, dass das alles nicht so leicht war, wie sich der Laie das für gewöhnlich vorstellte. Denn genauso, wie in einem Feuergefecht nicht jeder Schuss ein Treffer war, so hatte auch nicht jeder Schlag eine finale Wirkung. Ganz im Gegenteil. Wenn einer dieser Infizierten auf ihn zu rannte, dann würde er mit voller Wucht zuschlagen müssen. Ob er dann den Kopf eines beweglichen Ziels treffen konnte, war die Frage. Abgesehen vom Treffen musste auch die Schlagkraft stimmen. Da er es mit völlig Durchgedrehten zu tun hatte, musste der Hieb sitzen. Von einem halbherzigen Schlag würden sich die Verrückten nicht beeindrucken lassen.

Wiegner durfte von sich behaupten, ein mutiger Mensch zu sein. Aber das Vorhandensein von Mut bedeutete nicht zwingend die Abwesenheit von Angst. Er hatte Angst. Sehr große Angst. Noch vor wenigen Minuten hatte er darüber nachgedacht, sich das Leben zu nehmen. Es war seltsam, dass ein Mensch bereit war, sich selber zu töten, es aber überhaupt nicht leiden konnte, wenn dies andere für ihn übernehmen wollten.

»Geht es dir gut?« Torbecks Stimme kam aus dem laut gestellten NanoCom. Wiegner bemerkte, dass er vor sich hin gestarrt hatte. Er drückte auf die Sprechtaste. »Alles in Ordnung.« Er ging den Gang weiter, bis ihm eine Tür den Weg versperrte.

»Das nächste Teilstück ist sicher. Wir öffnen jetzt die Tür.«

In dem Wissen, dass Torbeck jeden Schritt von ihm über die Kameras verfolgen konnte, nickte er nur. Sie hatte ihm gesagt, dass auf der anderen Seite nichts Schlimmes auf ihn warten würde. Trotzdem verkrampften sich seine Hände um den Axtstiel, als die Tür mit einem leisen Zischen zur Seite glitt. Der Flur vor ihm glich dem, aus dem er kam. Nach zwanzig Metern bog der Gang nach links ab. Weitere zehn Meter weiter meldete sich Torbeck. »Siehst du die Tür rechts?«

Wiegner hob den Daumen zur Bestätigung.

»Das ist ein Treppenhaus. Du musst zwei Etagen nach unten. Leider ist das Treppenhaus nicht frei. Wir haben einen Infizierten.«

»Über oder unter mir?«

»Er ist unter dir.«

Das war gut. Für einen Kampf war eine erhöhte Position immer wertvoll. »Seht ihr ihn aktuell?«

»Er steht eine Etage unter dir am Treppenabsatz.«

Wiegner hatte also einige Sekunden Zeit, wenn die Tür aufging.

»Bist du bereit?«

Nein. Auf gar keinen Fall. »Schaut mal bitte kurz weg.« Wiegner öffnete seinen Reißverschluss und pinkelte an die Wand. Er hatte das Gefühl Durchfall zu bekommen, aber diese Schmach wollte er sich nicht antun. Er stellte sich vor die Tür, hielt die Axt in beiden Händen. Mit welcher Seite sollte er zuschlagen? Die Schneide konnte am Schädelknochen abprallen. Vielleicht hackte er dem Kerl dann in die Schulter und bekam sie nicht mehr heraus. Wenn er mit der anderen Seite, die wie ein Hammer geformt war, zuschlug, konnte das nicht passieren. Allerdings wäre ein Volltreffer nicht so verheerend. Er hatte keine Ahnung, was richtig war. Ihm fiel etwas ein. »Wer ist das eigentlich. Kennen wir den?«

»Nein. Also ich meine höchstens vom Sehen. Flüchtig.«

Das war gut. Die Hemmung war geringer. Wie hatte Aila gesagt? Du musst das nicht tun. »Ich bin so weit. Macht die Tür auf.«

 

 

***

 

 

Markus Steller

 

 

»Wir müssen die anderen suchen«, sagte Fieber.

»Und dann? So wie es aussieht, sitzen wir hier fest.« Steller hatte sich auf einen der Bürostühle gesetzt und beobachtete Wolf. Seitdem der die Morphiumspritze bekommen hatte, war er still geworden. Er dämmerte vor sich hin. Fieber würde ihn zurücklassen. Allerdings bedeutete jemanden zurückzulassen, dass man selber überhaupt wegkam. Sie waren von Infizierten belagert. An dieses riesige Vieh wollte er gar nicht denken.

»Eins nach dem anderen. Dallas und Markus bleiben bei mir. Wir können Wolf nicht alleine lassen. Schippe sucht nach den dreien.«

»Ich sollte mitgehen«, warf Steller ein. »Anna vertraut mir.«

»Ich glaube, in der derzeitigen Situation wird sie jedem vertrauen, der sich wie ein normaler Mensch aufführt. Lass das Schippe erledigen.«

Steller nickte nur. Er hatte nicht die Kraft, um sich zu streiten. Die Hauptsache war, dass sie Anna fanden. Schippe machte sich bereit. Sie schoben die Möbel ein Stück zur Seite und der SEK-Mann drückte sich durch den Türspalt. Wolf war mittlerweile eingeschlafen. Fieber nickte Dallas zu. Der griff in seinen Rucksack und zog eine weitere Spritze Morphium auf. Ohne Steller anzusehen, sagte er: »Das ist das Einzige, was wir für ihn tun können.«

Steller sagte nichts. Er stand auf und setzte sich einige Meter entfernt auf den Boden. Er wollte da nicht zuschauen. Eigentlich sollte er entsetzt sein. Aber in Wahrheit war es das Beste, was Wolf passieren konnte. Einfach nicht mehr aufwachen. Steller schloss die Augen. Als er sie wieder öffnete, hatte sich Dallas auf einen der Stühle gesetzt. Wolf lag da und schien zu schlafen. Wenn er nicht bereits tot war, würde er es bald sein. Steller war so unglaublich müde. Er spürte, wie ihm der Kopf auf die Brust sackte.

»Kannst du mir mal helfen?«, fragte Fieber.

Steller rappelte sich auf und ging auf Fieber zu. Dallas saß hinter ihm auf dem Stuhl. »Wobei soll ich dir helfen?« Ein Gedanke sprang in seinen Kopf. Steller wirbelte herum. Direkt vor ihm stand Dallas. Er hatte sich angeschlichen. Zwischen seinen Fäusten, die sich auf Bauchhöhe befanden, spannte sich eine Schnur.

 

 

***

 

Arthur Keim

 

 

Keim hockte unter dem Schreibtisch. Nachdem er den ersten Schock überwunden hatte, gelang es ihm, sein NanoCom von der Tischplatte zu fingern und eine Verbindung mit Torbeck herzustellen. Mit hastigen Sätzen erklärte er ihr seine Lage und flehte, dass sie ihm helfen solle. Sie versprach ihm, dass sie alles tun würde, was in ihrer Macht stand. Trotz seiner Panik erkannte er an ihrer Stimme, dass das wohl derzeit nicht besonders viel war. Danielsen hatte sich immer noch nicht beruhigt und Keim wusste natürlich, dass dies auch niemals wieder geschehen würde. Trotz besseren Wissens hatte er einige Minuten auf den Professor eingeredet. »Beruhigen Sie sich.« »Kommen Sie zu sich.« »Wir können Ihnen helfen.« Lauter dummes Zeug. Gleich zu Beginn seiner Attacke hatte der wütende Weihnachtsmann die Glasscheibe des kleinen Türfensters zertrümmert. Seitdem versuchte er dort einzusteigen. Das war so albern, dass es fast lustig war. Niemals würde der dicke Kerl da durchpassen. Die Metalltür als solche war auch nicht zu überwinden. Aber zum Lachen war Keim dennoch nicht. Zum einen brauchte er Hilfe. Wenn niemand kam, dann saß er hier fest. Endgültig. Er selber war nicht in der Lage zu kämpfen. Selbst wenn er hier etwas Waffenähnliches fände. Nein, völlig ausgeschlossen. Er wusste überhaupt nicht, wie das gehen sollte. Bereits seit seiner frühsten Kindheit war er ein ausgesprochener Bewegungslegastheniker. Außerdem war der Professor wesentlich schwerer und größer. Von dieser alles zerreißenden Wut ganz zu schweigen. Aber das drängendste Problem war nicht seine mangelnde Kampferfahrung. Danielsen musste nur zwei Schritte nach links oder rechts machen. Dort begann die Verglasung des Kontrollraums. Keine Minute würde es dauern und er säße bei Keim auf dem Schoß. Trotz seiner Angst fand er den Gedanken faszinierend, dass ein Mann, der noch vor wenigen Minuten einen IQ von 150 gehabt hatte, jetzt nicht mehr in der Lage war, diesen Fakt zu erkennen. Allerdings konnte sich das jede Sekunde ändern. Das NanoCom piepte.

»Ja.«

»Hier ist Hauptmann Gärtner. Wie ist Ihre Lage?«

»Unverändert.«

»Bewahren Sie Ruhe.«

»Ich versuche es.«

»Sie machen das gut. Kann Danielsen Sie sehen?«

»Ja.«

»Dann behalten Sie Ihre Position bei. Wenn wir Glück haben, dann wird er immer weiter gegen die Tür anrennen.«

»Was heißt hier wir? Im Moment bin nur ich es, der Glück braucht.«

»Ich habe eine gute Nachricht für Sie.«

»Welche?«

»Hilfe ist unterwegs. Oberst Wiegner müsste bald bei Ihnen sein.«

»Dem Herrn sei Dank.«

»Bewegen Sie sich nicht.« Das Gespräch wurde beendet. Nicht bewegen? Er war dermaßen erstarrt, dass er sich nicht einmal bewegen könnte, wenn man unter seinem Hintern ein Lagerfeuer entfachen würde. Hilfe war unterwegs. Ob er das glauben sollte? Irgendetwas hatte ihn an Gärtners Stimme gestört. Ob sie ihn anlogen? Aber warum sollten sie das tun? Nein, das war es nicht. Wiegner war auf dem Weg. Aber sich auf dem Weg zu befinden, bedeutete nicht, dass man sein Ziel erreichte. Das war es. Hoffnungslosigkeit. Keim beobachtete weiter, wie Danielsen versuchte, sich durch den kleinen Fensterrahmen zu quetschen und sich dabei die Lunge aus dem Leib schrie. Aber mehr als der Kopf und ein Arm bis zur Schulter passten nicht hindurch. Der Mann sah furchtbar aus. Sein Gesicht war zerschnitten und er blutete stark. Ein Wunder, dass er noch auf den Füßen stand. So wie er mit dem Kopf gegen die Tür gerannt war, musste er mindestens eine schwere Gehirnerschütterung haben. Seine Nase sah schief aus. Vermutlich nicht der einzige Knochen, den er sich gebrochen hatte. Wie lange konnte der alte Mann das durchhalten? Keim zwang sich zum Nachdenken. Der Professor war immer noch ein lebendes Wesen. Kein Untoter. Kein Zombie. Auch wenn das schwer zu glauben war. Aber wenn etwas lebt, dann stirbt es auch. Dann verliert es an Kraft. Das brachte ihn auf eine Idee. Wenn er ihn nicht selber töten konnte, dann musste Danielsen das eben für ihn erledigen. Das Problem war, dass der Professor nicht weiter mit dem Schädel gegen die Tür anrannte. Er versuchte nur wie besessen, durch das viel zu kleine Türfenster zu steigen. Schwer verletzen würde er sich dabei nicht. Vielleicht war die Rundumverglasung doch nicht so schlecht. Waren die Scheiben vielleicht dick genug? Was, wenn er den Mann zu den Fenstern lockte? Mit den Fäusten würde Danielsen das Glas nicht einschlagen können. Er würde wieder mit seinem Schädel dagegen rennen. Das konnte nicht ewig gut gehen. Wenn er das ein paar Mal machte, dann musste er einfach umkippen. Sehr seltsam. Vor einigen Minuten war seine größte Sorge gewesen, dass Danielsen die Fenster erkennen würde und jetzt bestand sein Plan darin, ihn genau dorthin zu locken. Natürlich nur, wenn der Oberst es nicht schaffen würde. Waren die Scheiben wirklich dick genug? Es war kein gewöhnliches Fensterglas. Soviel war sicher. Möglicherweise konnte er die Stärke des Glases einschätzen, wenn er aufstand und sich den Rahmen der Scheibe ansah. Wenn nur dieses ewige Schreien nicht wäre. Kein Mensch konnte dabei einen klaren Gedanken fassen. Mühsam krabbelte er unter dem Schreibtisch hervor und zog sich an der Tischplatte nach oben. Er sah unscharf und rieb sich mit Daumen und Zeigefinger die Augen, lehnte sich etwas zur Seite, um näher an die Scheibe zu kommen. Er musste einschätzen können, wie dick das Glas war. Nur für den Fall, dass Wiegner auf der Strecke blieb. Keim verbog seinen Oberkörper noch ein wenig mehr, stützte sich mit der Hand auf der Schreibtischplatte ab. Das Stück Papier unter seiner Hand bemerkte er nicht. Das Blatt rutschte samt Hand über die Platte. Keim verlor das Gleichgewicht und schlug der Länge nach hin. »Mist!« so schnell er konnte, stellte er sich wieder hin. Als er aufblickte, stand Danielsen plötzlich vor der Verglasung. So hatte er sich das nicht vorgestellt. Der Professor nahm zwei Schritte Anlauf und klatschte er wie eine Fliege auf der Autobahn gegen das Glas. Sofort bildete sich ein langer Riss in der Scheibe. Das Glas war nicht dick genug. Das hatte der praktische Versuch bereits bewiesen.

 

 

***

Markus Steller

 

 

Dallas wollte ihn erwürgen. Das war sein Glück, denn nun hielt der Penner einen Strick in seinen Händen und kein Messer. Bei einem frontalen Angriff wurde aus der tückischen Mordwaffe plötzlich ein nutzloses Utensil. Dass Steller herumwirbelte, hatte Dallas überrascht. Diesen Bruchteil einer Sekunde nutzte Steller und packte ihn mit der Rechten unter dem Kinn. Mit der anderen Hand verkrallte er sich am Hinterkopf in seinen Haaren. Seine Linke zog die Haare nach unten, die Rechte drückte das Kinn nach oben. Gleichzeitig warf er seinen Körper in Dallas‘ Richtung. Der Mann verlor den Stand und kippte nach hinten. Bevor er auf den Rücken fallen konnte, gab Steller vollen Schub. Dallas hing in einem 60-Grad-Winkel über dem Boden und wurde im Rückwärtsgang durch den Raum geschoben. Steller versuchte, das Tempo weiter zu erhöhen. Dann fand der Raum sein Ende. Dallas schlug mit dem Kopf in der Wand ein. Es klang wie eine Kokosnuss, die von einer Palme auf einen Stein fiel.

Statt sich umzudrehen, sprang Steller mit einem Hechtsprung zur Seite. Er musste es nicht sehen, um es zu wissen. Fieber hatte der Aktion nicht tatenlos zugesehen. Steller schlug auf dem Boden auf und sprang sofort auf die Füße, zog dabei seine Pistole. Sein Plan war einfach. Waffe ziehen, herumwirbeln und auf alles schießen, was sich bewegte. Nur war er einfach nicht schnell genug. Bevor er sich in Fiebers Richtung drehen konnte, spürte er einen irrsinnigen Schmerz in seinem Rücken. Er konnte die Waffe nicht mehr halten und ließ sie zu Boden fallen. Reflexhaft griff er nach hinten, spürte das Griffstück eines Messers. Mit einer schnellen Bewegung hatte Fieber es ihm in den Rücken geworfen. Da steckte es nun zwischen seinen Rippen. Sicher hatte es seinen rechten Lungenflügel perforiert. Es gelang ihm, die Klinge herauszuziehen. Steller taumelte. Tränen schossen ihm in die Augen. Verschwommen sah er in den Lauf einer Pistole. Steller hatte noch immer seine MP. Aber bis er die von seiner Schulter genommen hätte, hätte Fieber ihn zehnmal erschossen. Ende der Reise. Mit dem Handrücken wischte er sich das Wasser aus den Augen. Fieber stand da, schien abwesend. Noch immer richtete er die Pistole auf ihn, drückte mit der freien Hand gegen sein Ohr. Dann hallten Schüsse durch das Gebäude. Eine Menge Schüsse. »Zieh dich zurück!«, schrie Fieber. Es dauerte eine Sekunde, bevor Steller begriff, dass der Mann nicht ihn meinte, sondern in sein Funkgerät brüllte. Hinter Fieber wuchs ein Schatten vor dem Fenster. »Hinter dir!«, schrie Steller. Der Schatten sprang durch die Scheibe.

 

 

***

 

Karl Wiegner

 

Die Tür öffnete sich. Wiegner machte einen Schritt in das Treppenhaus hinein. Torbecks Stimme aus dem NanoCom klang panisch. »Er kommt!« Wiegner hörte die Schritte, sah die Treppe hinab. Der Mann trug einen blauen Overall. Er musste ein Techniker gewesen sein. Während er die Stufen nach oben rannte, hob er den Kopf, sah Wiegner und begann zu brüllen. Wiegner hob die Axt über den Kopf. Wenigstens waren die Typen so dämlich, dass sie die Gefahr nicht kommen sahen. Noch ein paar Stufen, dann war der Kerl in Reichweite. Eine Sekunde warten.

Die Axt fiel nach unten. Die Entfernung war perfekt. Der Schlag mit Wucht ausgeführt. Leider war der Winkel schlecht. Beim Ausholen hatte sich der Stiel in seinen Händen leicht gedreht. Er würde den Kopf des Angreifers treffen. Allerdings weder mit der Schneide noch mit dem Rücken. Seitlich schlug die Axtklinge dem Mann auf die Stirn. Noch bevor die Trefferwirkung eintrat, wusste Wiegner, dass es mit dem Schlag nicht getan war. Aber er reichte, um den Infizierten von den Beinen zu holen. Der Mann fiel rückwärts die Stufen hinab und blieb am Absatz liegen. Sofort setzte Wiegner hinterher, hob die Axt und schlug zu. Es knackte. Blut spritzte gegen seine Hose.

Wiegner betätigte die Sprechtaste seines NanoComs. »Ich habe ihn ausgeschaltet.«

»Ja.« Torbecks Stimme klang leise.

Wiegner wandte seinen Blick von der Leiche und ging weiter die Stufen hinab. Er wischte sich mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn. »Wie geht es weiter?«

»Warte kurz. Wir haben ein Problem.«

»Problem?« Er schüttelte den Kopf, legte seinen Kopf in den Nacken und blickte in die Kamera. »Auch auf die Gefahr hin, dass ich zickig klinge.« Mit jedem Wort wurde seine Stimme lauter. »Was denn für ein gottverschissenes Problem?«

 

 

***

 

Markus Steller

 

 

Für einen Moment schien die Zeit stehen zu bleiben.

Die Kreatur war so groß wie ein Tiger. Sie stand auf sechs Beinen. Da das Wesen keine Flügel hatte, musste es drei Stockwerke nach oben durch die Scheibe gesprungen sein. Es hatte keine Augen, keine Nase. Auch ein Maul war nicht zu erkennen. Aber Steller war sich sicher, dass es eins hatte. Ein Riesiges, mit Zähnen so scharf wie Rasierklingen und hart wie Diamanten. Seine Haut sah aus wie mattschwarzer Kunststoff. Das Viech war ein einziger Muskel. Anna hatte gesagt, dass es ein Dämon sei. Dem war nichts hinzuzufügen. In Zeitlupe sah er, wie Fieber um seine eigene Achse kreiselte. Steller verspürte keine Angst. Möglicherweise war das eine Nachwirkung davon, dass er soeben mit seinem Leben abgeschlossen hatte. Das Einzige, was sich geändert hatte, war die Tatsache, dass sie jetzt beide sterben würden. Und das war eindeutig eine gute Sache.

 

 

***

 

Arthur Keim

 

Keim rannte so schnell er nur konnte. Nachdem Danielsen die Glasscheibe zertrümmert hatte, tat er das einzig Richtige und flüchtete durch die Tür. Danielsen hatte brüllend die Verfolgung aufgenommen. Er war schnell. Unglaublich schnell. Wenn der Mann dreißig Jahre jünger wäre und vierzig Kilo weniger auf den Rippen hätte, dann wäre die Jagd schnell beendet gewesen. Der Mathematiker rannte durch die Gänge. Bog links ab, die nächste Möglichkeit wieder rechts. Lief ohne Plan im Zickzack. Danielsen hatte schon längst die Sicht auf ihn verloren, schrie immer noch. Aber es klang weiter entfernt.

Plötzlich wurde es still. Keim blieb stehen und lauschte. Die Schreie hatten aufgehört. Die ganze Zeit hatte er sich genau dies gewünscht. Aber jetzt wo es ruhig war, wäre es ihm eindeutig lieber, der Mann würde weiter brüllen. Zwar wusste Danielsen nicht, wo er sich befand. Aber das galt auch andersherum. Hinter jeder Ecke konnte er lauern. Keim konnte nur hoffen, dass Wiegner bald hier auftauchte. Wo blieb die Kavallerie, wenn man sie brauchte?

 

 

***

 

Karl Wiegner

 

 

»Also, wo ist das Problem?«

»Wir bekommen eine Tür nicht auf. Das Schließsystem funktioniert immer noch nicht richtig.«

»Kriegt ihr das nicht in den Griff?«

»Das weiß ich nicht. Auf absehbare Zeit nicht.«

»Gibt es keinen anderen Weg?« Wiegner wusste, dass es einen gab. Er kannte sich gut genug aus, um das zu wissen.

»Doch. Aber der ist nicht passierbar.«

»Warum? Funktionieren die Türen dort auch nicht?«

»Das ist es nicht.«

»Ich höre.«

»Die Route, die wir vorgesehen hatten, hätte die dich noch zweimal an jeweils einem Infizierten vorbeigeführt.« Torbeck stockte. »Die neue Route wird dich nur einmal an Verseuchten vorbeiführen.«

Das klang grundsätzlich nach einer guten Sache. Da es das aber nicht sein konnte, ahnte Wiegner es bereits. »Wie viele?«

»Drei.«

Das waren zu viele. Mit einer Schusswaffe kein Problem. Aber mit der Axt?

»Wie weit stehen sie auseinander?«

»Jeweils in einem Abstand von ungefähr fünfzehn Metern.«

»Dann werden sie mich getrennt angreifen.«

»Das ist nur eine Hoffnung.«

Das stimmte. Dafür gab es keine Garantie. Es konnte zum Beispiel sein, dass einer schneller war als der andere. Dann kamen sie möglicherweise gleichzeitig an. Wenn das passierte, war er erledigt. »Gehen wir davon aus, dass sie getrennt kommen. Wie viel Zeit habe ich zwischen den Attacken. Vielleicht zwei Sekunden?«

»Ich weiß nicht.«

Er musste zuschlagen. Einen echten Treffer landen und die Axt zurück in Schlagposition bringen. Theoretisch machbar. Jedenfalls in einer perfekten Welt. »Ich tue es.«

»Nein«, schrie Torbeck. »Auf keinen Fall. Das überlebst du nicht. Das ka...«

»Ich überlebe es ohnehin nicht. Versteh das endlich. Egal, was ich tue. Ich werde hier sterben. Ich kann mir nur aussuchen, wie ich sterben werde. Also mache ich etwas Nützliches.«

»Karl, ich...«

»Sei einfach still. Du hattest das Recht und die Pflicht, die Abteilung zu isolieren. Dann gesteh mir jetzt die Entscheidung zu, ob ich das versuche oder nicht. Ist das für dich in Ordnung?«

Keine Antwort.

»Ich meine es ernst. Ich will es so.«

Keine Antwort.

»Aila?«

»Ja.«

»Also?«

»Ist gut.«

»Wo muss ich lang?« Torbeck schleuste ihn weiter durch die Forschungsanlage. Die ersten drei Gänge waren leer. Schließlich blieb er vor einer Tür stehen. »Ist es hier?«

»Ja.«

»Wie stehen sie jetzt?«

»Immer noch wie vorhin. Sie haben einen Abstand von jeweils fünfzehn Metern zueinander. Es sind zwei Männer und eine Frau. Der erste Mann steht etwa zehn Meter von der Tür entfernt.«

Wiegner dachte nach. »Wir machen es folgendermaßen. Ich bleibe hier stehen. Ihr öffnet die Tür. Sobald der Erste die Tür passiert hat, schließt ihr sie wieder. Die Zeit müsste reichen. Ich muss mich dann nur um einen kümmern.«

»Was ist mit den anderen beiden? Die werden zusammen an der Tür stehen, wenn wir sie ein zweites Mal öffnen.«

»Ich stelle mich beim zweiten Mal neben die Tür. Wenn ihr sie auf mein Zeichen hin öffnet, dann werden die Irren in den Raum stürmen. Ich kriege den Ersten von hinten. Bleibt nur noch einer übrig. Damit werde ich fertig.«

»Denkst du, dass das besser ist, als in den Flur zu gehen und sie der Reihe nach zu bekämpfen?«

»Ja.« In Wahrheit hatte er keine Ahnung. Aber sein Gefühl sagte ihm, dass er es anders nicht schaffen würde.

»Viel Glück.«

Wiegner trat einige Schritte zurück.

 

 

***

 

Markus Steller

 

 

Konditionierung war eine mächtige Sache. Fieber war sicher nicht weniger geschockt als er selbst. Aber das war seinem Körper egal. Er reagierte auf die Bedrohung, wie er es gelernt hatte, hob die Waffe und feuerte das gesamte Magazin in den Teil des Körpers, den Steller für den Kopf hielt. Innerhalb von drei Sekunden knallte es fünfzehn Mal. Steller hatte mittlerweile begriffen, warum man in der Schießanlage einen Gehörschutz tragen musste. Jedes Mal, wenn die Ballerei losging, glaubte er, dass ihm die Trommelfelle platzten. Als Fiebers Pistole leergeschossen war, ließ er sie fallen und riss sich die MP von der Schulter. »Kämpf!« Was meinte Fieber? Dann begriff er. Steller zerrte an dem Gurt seiner Maschinenpistole. Fast hätte er sich vor Stress in den Fuß geschossen. Gemeinsam feuerten sie Dutzende von Kugeln in die Kreatur.

Steller musste das Magazin wechseln. Als er wieder aufblickte, sah er, dass Fieber die Hand gehoben hatte. Was? Das Wesen rührte sich nicht mehr. Es stand immer noch. Aber das vordere Beinpaar war eingeknickt. Der Kopf berührte den Boden, als wolle es sich verbeugen. Die Oberfläche der Kreatur war makellos. Von Einschusslöchern keine Spur.

»Ist es tot?«, rief Steller. Fieber sagte nichts, starrte auf den bewegungslosen Körper. Im Gebäude wurde weiter geschossen. Die Schüsse klangen gedämpft, kamen aus einem anderen Stockwerk.

»Was ist mit deinem Rücken?«

»Ich spüre nichts.«

»Du m...«

Ein spitzer Schrei. Direkt auf dem Gang. Das war Anna. »Beschütze das Kind«, sagte Fieber, ohne den Blick von dem Wesen abzuwenden. Keine Zeit für Fragen. Steller räumte einen Schreibtisch beiseite und zerrte an der Tür, rannte auf den Flur. Er sah einen flüchtigen Schatten, der am Ende des Flurs nach links verschwand. »Anna!«

Er rannte dem Schatten hinterher. »Anna!«

Als er um die Ecke bog, hätte er das Mädchen fast über den Haufen gerannt. Offensichtlich hatte sie seine Rufe gehört und war stehen geblieben. »Die sind überall. Ich weiß nicht, wo ich hin soll.«

»Komm.« Er nahm die Hand der Kleinen, zog sie weiter. Wohin? Er hatte ebenfalls keine Ahnung. In einer der anderen Etagen wurde weiterhin geschossen. Ob die Geräusche von oben oder unten kamen, konnte er nicht orten. Dann knallte es hinter ihnen. Das musste Fieber sein. In einem Büro, an dem sie vorbeiliefen, klirrte Glas. Hoffentlich war das nicht noch so ein Viech. Sie erreichten ein Treppenhaus und rannten die Stufen hinab. Die irren Schreie von Infizierten hallten durch das Gebäude. Sie mussten hier raus. Steller wusste, dass das keine wirkliche Option war. Draußen sah es nicht besser aus als drinnen. Objektiv gesehen war dies der Moment, an dem er das tun musste, was zu tun war. Aber noch war er nicht bereit dazu. Sie erreichten das Erdgeschoss, befanden sich auf der Rückseite des Gebäudes. Anna hing an seiner Hand. Sie atmete stoßweise. »Du musst langsamer atmen«, sagte Steller und bemühte sich um einen beruhigenden Tonfall. Sie sah ihn an, nickte. Was tun? Was sollte er jetzt machen? Das Haus wurde überrannt. Vielleicht lag darin eine kleine Chance. Wenn die ganze Brut damit beschäftigt war hier einzudringen, war draußen vielleicht eine kleine Lücke, um zu verschwinden. Der Wald war nicht weit.

Nein, das war alles sinnlos. Er musste es jetzt tun. Er würde Anna ablenken und ihr dann von hinten in den Kopf schießen. Sie würde nichts spüren. Keine Angst, keine Schmerzen. »Anna. Behalt die Treppe im Auge. Ich sehe nach, wie es draußen aussieht.«

»Lass mich nicht alleine.«

»Ich gehe nicht weg. Nur die paar Schritte zur Tür. Da ist eine Glastür. Ich schaue nur kurz nach draußen.«

Sie nickte, starrte die Treppen nach oben. Er würde nicht zulassen, dass diese Horde sie in Stücke riss. Wenigstens das konnte er noch tun. Langsam ging er in Richtung der Ausgangstür, drehte sich um. Anna wandte ihm den Rücken zu. Das Ganze würde nur zwei Sekunden dauern. Unbewusst griff er mit der rechten Hand in seine Hosentasche. Die Patronenhülse glitt ihm durch die Finger. Er dachte an den Einsatz vom Samstag, wie er sich fast umgebracht hätte, was für ein Gefühl es gewesen war, Anna in der Klinik zu finden. Sollte diese absurde Kausalkette nur dazu gedient haben, sie jetzt zu töten? Sah der Weltenplan für ihn vor, ein zweites Kind auf dem Gewissen zu haben? Diesmal ganz direkt und unmittelbar?

»Komm zu mir.« Anna drehte sich um und rannte in seine Richtung. Steller sah durch die Glastür nach draußen. Er konnte niemanden sehen, was allerdings nicht viel bedeutete. Hinter dem Gebäude gab es einen größeren gepflasterten Parkplatz. Dahinter eine kleine Grünfläche. Er sah eine Brücke, die über einen See oder Bach führte. Danach wurde es zu dunkel. Er glaubte die Umrisse von Bäumen zu erkennen. »Wir rennen dahin.« Steller deutete in Richtung der Brücke. »In den Wald hinein.« Anna nickte. »Du darfst nicht stehen bleiben. Egal...«

Draußen blitzte es. Drei Mal. Steller zuckte zusammen. Ein Gewitter?

Bum. Bum. Bum.

Das Haus wackelte wie bei einem Erdbeben. Instinktiv gingen beide in die Knie. Das war kein Gewitter. Irgendetwas explodierte und zwar richtig.

»Was war das?«

»Ich weiß es nicht. Wenn ich die Tür aufmache, rennst du los.«

»Gut.«

»Bleib auf keinen Fall stehen.«

»Du bist verletzt.«

»Was?«

»Dein T-Shirt ist ganz dunkel. Du blutest am Rücken.«

»Ist nicht so schlimm.«

Er hatte völlig vergessen, dass vor wenigen Minuten ein Messer in seinem Rücken gesteckt hatte. Er spürte nichts. Das würde sich bald ändern. Vorausgesetzt sie überlebten das hier. Steller öffnete die Tür. Anna drehte ihren Kopf, wollte ihm einen Blick zuwerfen. Ihre Augen wanderten zu weit, ihr Blick glitt an ihm vorbei in Richtung Treppe. Sie schrie auf.

Steller wirbelte herum. Eine fünfzigjährige Frau rannte auf ihn zu. Keine Ankündigung, kein Schreien. Sie war bereits zu nahe, als dass er noch die Waffe auf sie richten konnte. Er beugte sich nach vorne und tackelte sie wie ein Ringer, rammte ihr die Schulter in den Bauch, umklammerte sie und hebelte sie aus. Gemeinsam stürzten sie zu Boden. »Lauf los!«

Aus den Augenwinkeln sah er Annas Silhouette verschwinden. Sie war nach draußen gerannt. Die Frau unter ihm gebar sich wie eine Furie. Steller schaffte es, sie in den Schwitzkasten zu nehmen. Mit aller Kraft drückte er zu. Sie begann zu röcheln, griff nach seinem Arm. Für einen Augenblick wirkte sie wie ein normaler Mensch, der um sein Leben kämpfte. Steller ließ sich nicht beirren, drückte weiter zu. Er hörte Schreie. Ganz nah. Drei Infizierte jagten die Treppe nach unten. Steller stieß die Frau von sich und versuchte, die Waffe in Position zu bringen. Es war zu spät. Sie waren schon da.

Ohne ihn eines Blickes zu würdigen, stürmten die drei an ihm vorbei in Richtung Ausgang. Das durfte nicht wahr sein. Auch die Frau rappelte sich auf. Hetzte den anderen hinterher. Sie interessierte sich nicht für Steller. »Nein. Das lasse ich nicht zu.« Er sprang auf die Beine. Als er draußen war, sah er die vier. Sie rannten zur Brücke. Im Lauf hob er die MP und schoss. Das wurde nichts. Er kniete sich hin, hielt den Atem an und zielte. Schüsse krachten. Er sah nur Schatten und schoss das Magazin leer. Dann sprang er auf die Beine, rannte weiter in Richtung Brücke und wechselte beim Laufen das Magazin. Auf dem Boden lagen Körper. Eins, zwei, drei. Sein Blick wanderte hektisch hin und her. Da. Dort lag der vierte. Er hatte sie alle erwischt.

Steller beschleunigte, erreichte die Brücke. Auf der Brücke sah er einen Umriss. »Anna«, schrie er. »Du musst weiter laufen. Ich bin hinter dir. Renn in den Wald.« Der Umriss bewegte sich nicht. Er erreichte die Brücke und blieb neben dem Mädchen stehen. Sie war wie versteinert und sah zum nahen Waldrand. »Oh, Gott.« Er zog sie an der Schulter zurück. Am anderen Ende der Brücke stand einer dieser Höllenhunde. Die Kreatur bewegte sich nicht. Er sah über seine Schulter. Überall bewegten sich huschende Gestalten. Sie kamen.

 

***

 

Karl Wiegner

 

 

Die Tür war offen.

»Hey!«, rief Wiegner. Das hätte er sich sparen können. Die drei Infizierten zögerten keine Sekunde und rannten in seine Richtung. Was, wenn sie zugleich ankamen? Oder wenn Aila die Tür nicht rechtzeitig zu bekam? Er machte einen Schritt rückwärts, umklammerte die Axt. Der Erste erreichte die Tür und befand sich Sekundenbruchteile später in seinem Gang. Wiegner hob die Axt über seinen Kopf. Warte. Warte.

Dann schlug er zu. Es war ein Volltreffer. Der Mann brach zusammen. Die Schneide steckte in seiner Stirn. Wiegner stellte einen Fuß auf seine Brust und zog die Axt aus dem Kopf des Mannes. Er sah zur Tür. Sie war fast geschlossen. Aber nur fast. Ein Arm steckte zwischen Tür und Wand, verhinderte, dass sie sich völlig schließen konnte. Die Sensoren der Tür erkannten die Blockade. Sie glitt wieder auf.

 

 

 

***

 

 

Markus Steller

 

 

Ein Feuerwerk wurde gezündet.

Am Himmel sah Steller drei Explosionen. Golden Shower. So hießen die Raketen, die er vor Jahren einmal an Silvester gezündet hatte. Genau so sahen die Explosionen aus. Nur viel größer. Riesige Silvesterraketen? Er konnte seinen Blick nicht abwenden. Wie riesige Kraken mit Dutzenden Armen, die sich gegen den Boden streckten. Dann explodierten die Arme. Jeder für sich verwandelte sich in eine weitere Krake. Dann noch einmal. Wie eine Kaskade. Er hatte so etwas schon einmal gesehen. Im Fernsehen. »Anna. Kletter über das Geländer.« Sie reagierte nicht. Er bückte sich, griff mit einem Arm zwischen ihre Beine hindurch, hob sie an und warf sie von der Brücke. Er achtete nicht auf ihren spitzen Schrei, stützte sich an dem Gelände ab und flankte hinüber.

Als er sich im freien Fall befand, sah er unter sich die schwarze Wasseroberfläche auf sich zu rasen. Seine Füße tauchten ein. Dann wurde es taghell. Für eine Zehntelsekunde konnte er jeden Grashalm an der Böschung erkennen, dann schlug das Wasser über ihm zusammen. Die Kälte trieb ihm die Luft aus den Lungen. Er sah nach oben. Es wirkte, als ob ein riesiger Scheinwerfer auf ihn gerichtet war. Dann war der Spuk vorbei. Steller begann Schwimmbewegungen zu machen, durchbrach die Wasseroberfläche. »Anna!«

Er ruderte mit den Armen, bewegte sich hektisch im Kreis. Keine Spur von dem Mädchen. Steller tauchte unter. Fuchtelte mit den Armen unter Wasser herum. Wie sollte er sie in der Dunkelheit finden? Die Luft ging ihm aus und er musste auftauchen. »Anna!«

Er sah sie. Sie hatte es selbst zum Ufer geschafft. Nach einigen Kraulbewegungen war er bei ihr. »Bist du verletzt?« Sie schüttelte den Kopf. Er half ihr aus dem Wasser. Zusammen krabbelten sie Böschung hinauf. Steller sah sich um. Die Welt hatte sich verändert. Der Boden war übersät mit kleinen esstellergroßen Kratern. Das musste das Werk von Kattas Mutter gewesen sein. Anders war das nicht zu erklären. »Kannst du laufen?«

»Ich will hier weg.«

Er nahm ihre Hand. Sie stolperten in Richtung Waldrand. Nichts rührte sich.

 

 

***

 

Arthur Keim

 

 

Keim schlich durch die Gänge. Er hätte genauso gut stehen bleiben können. Eigentlich wäre das sogar schlauer gewesen. Es hätte weniger Gefahr bestanden, sich mit Geräuschen zu verraten. Aber das konnte er nicht. Er musste sich bewegen. In den Gängen war es ziemlich dunkel. Die Vollbeleuchtung wurde hier nur bei Bedarf eingeschaltet. Keim blieb stehen und horchte, meinte Schritte zu hören. Aber das konnte Einbildung sein. Die Hintergrundgeräusche, die ZERBERUS verursachte, waren einfach zu verwirrend. Einige Minuten schlich er so herum. Jedes Mal, wenn er eine neue Abzweigung erreichte, verkrampfte sich sein Magen. Wo war Danielsen? Das hatte so keinen Sinn. Er musste sich verstecken und das Beste hoffen. Aber wo? Im Prinzip sah hier alles gleich aus. Regale, vollgestellt mit Computerschränken. Er sah nach oben. Sollte er auf die Regale klettern? Natürlich. Die Halle war fünfzehn Meter hoch. Die Regale reichten bis unter die Decke. Wenn er dort oben war, dann sollte der Fettsack nur kommen. Er würde ihn hinuntertreten. Das war ein guter Plan. Nur schade, dass er nicht klettern konnte. War wohl höchste Zeit es zu lernen. Er trat an ein Regal. Versuchte sich irgendwo festzuhalten. Griff hierhin und dorthin. Rutschte ab. Versuchte es erneut. Fast hätte er es geschafft, sich auf einen der Computerschränke zu stellen. Im letzten Moment rutschte er ab. Polternd fiel er auf den Boden, rappelte sich hoch, versuchte es erneut. Er musste doch in der Lage sein, da hoch zu klettern.

Er hörte Geräusche. Waren das Schritte? Woher kamen die? Panisch drehte er sich im Kreis. In beide Richtungen war der Gang leer. Jetzt hörte er es ganz deutlich. Da rannte jemand. Wiegner? Vielleicht war das Wiegner? »Herr Oberst?« Er hielt sich eine Hand vor den Mund. Hatte er jetzt völlig den Verstand verloren? Er musste sofort da rauf. Keim unternahm einen erneuten Versuch. Scheiterte. Versuchte es wieder. Dann sah er ihn.

Danielsen rannte auf ihn zu. »Nein.« Statt wegzurennen, wich Keim zurück, streckte abwehrend die Arme aus. »Bleiben Sie mir vom Leib.« Der Professor rannte weiter. Noch zwanzig Meter, dann würde er Keim niederwalzen. Plötzlich hing Danielsens Kopf in einem unnatürlichen Winkel schief. Er machte noch einige Schritte und brach zusammen. Keim hielt die Luft an. Eine Person trat auf den Gang.

»Oh, mein Gott. Wiegner. Sind Sie das?« Keine Antwort. »Wiegner?«

»Ja.«

»Ich danke allen Göttern. Das war buchstäblich in letzter Sekunde.« Keim ging auf Wiegner zu. Als er näherkam, sah er, dass der Oberst eine Axt in den Händen hielt. »Sie haben ihn fast geköpft.«

»Hatten Sie einen besseren Vorschlag?«

»Ich habe vielleicht die Lösung für unser Problem gefunden.«

»Ist mir egal.«

»Wie bitte?«

Keim erreichte Wiegner, stand nun direkt vor ihm.

»Ich sagte: Ist mir egal.«

»Sie sind verletzt.«

»Ich weiß.«

 

 

***

 

Markus Steller

 

 

Anna und Steller schlugen sich durch das Unterholz. »Was ist mit Katta und Demir?«, fragte Anna.

»Ich weiß es nicht.«

»Wollen wir nicht zurückgehen und nach ihnen suchen?«

Steller blieb stehen, kniete sich hin. »Das können wir leider nicht machen. Das ist viel zu gefährlich.«

»Ich will aber nicht , dass den beiden etwas passiert.«

»Du kannst mir glauben. Das will ich auch nicht.«

»Danke.«

»Was meinst du?«

»Dass du mich beschützt hast.«

»Das habe ich dir versprochen. Solange ich lebe, wird sich daran auch nichts ändern.«

»Ich befürchte nur, das wird vielleicht nicht mehr besonders lange sein.«

Steller sah sie mit großen Augen an. Das klang ganz schön sarkastisch. Er musste lachen. »Das will ich nicht hoffen.«

»Ich auch nichtt.«

»Wir müssen weiter.« Er stand auf und nahm ihre Hand. Sie erreichten eine kleine Straße.

»Wo gehen wir hin?«

»Nach Süden.« Er würde versuchen, diesen Bunker zu erreichen. Ob das noch möglich war oder irgendeinen Nutzen hatte, wusste er nicht. Ohne Katta war das vermutlich ein hoffnungsloses Unterfangen. Aber zumindest war es ein Ziel. Blieb noch die Frage, wie schwer er verletzt war. Im Moment spürte er nichts. Konnte er das mit einer solchen Wunde schaffen?

»Bleib mal stehen.« Steller horchte in die Dunkelheit. War das ein Auto? Ja, eindeutig. Er drehte sich um und sah Scheinwerfer, die auf ihn und Anna zukamen.

»Sollen wir uns verstecken?« Gute Frage. Wenigstens waren das Menschen. Soviel war sicher. Mit einem Auto zu fahren, war definitiv besser als bis zum Schwarzwald zu laufen. Das Fahrzeug kam näher. Das war jetzt eine Bauchentscheidung. »Nein. Wir halten den Wagen an. Stell dich an den Straßenrand. Wenn was passiert, rennst du in den Wald.«

»Wozu? Was soll ich alleine machen?«

Was sollte er darauf antworten? »Dann bleib bei mir.« Der Wagen kam näher. Steller überprüfte seine Waffe. Wenn sie anhielten und unfreundlich waren, hatte er seine MP als Versicherung. Das Auto wurde langsamer, fuhr schließlich im Schritttempo und hielt direkt neben ihm und Anna. Das Fenster der Fahrertür glitt summend nach unten. »Na. Alles klar?« Am Steuer saß ein Mann. Steller beugte sich nach vorne, um ihn besser sehen zu können. »Das glaube ich nicht.«

»Überraschung.«

 

 

***

 

Karl Wiegner

 

 

Gemeinsam mit Keim lief Wiegner zum Kontrollraum von ZERBERUS. »Was ist denn nun die Lösung für unser Problem?« Keim erklärte es ihm. Dabei sah er immer wieder zu der Wunde an Wiegners Hals.

»Die Zahl Pi?«

»Ein Ausschnitt daraus.«

»Aber die Berechnung ist noch nicht fertig.«

»Ich bin mir nicht sicher. Ich war in den letzten Minuten zu beschäftigt, um mich darum zu kümmern.«

»Was machen Sie, wenn die Berechnung fertig ist?«

»Ich will die Zahl senden. Auf allen Frequenzen.«

»Und dann?«

»Ich hoffe, die Angreifer überlegen es sich anders.«

»Warum sollten sie das tun?«

»Weil wir zeigen, dass wir intelligent sind.«

Wiegner lachte auf. »Glauben Sie, dass die Europäer die Indianer verschont hätten, wenn die eine besondere mathematische Begabung gezeigt hätten?« Er bekam keine Antwort. »Ich will Ihnen sagen, was geschehen wäre. Sie hätten sie erst recht ausgelöscht. Intelligenz kann immer auch als Bedrohung verstanden werden.« Die beiden gingen die Treppe hinauf. »Hier hat es ordentlichen Glasschaden gegeben.«

»Ja.« Keim musterte einen Monitor.

»Und?«, fragte Wiegner.

»ZERBERUS ist noch nicht fertig. Aber es wird nicht mehr lange dauern.«

»Wie lange?«

»Ich weiß es nicht. Wie fühlen Sie sich?«

»Nicht gut.« Wiegner konnte die Angst in Keims Gesicht sehen. »Machen Sie sich keine Gedanken. Sie sind hier in Sicherheit. Jedenfalls, was den Virus und Infizierte betrifft.«

»Ich will Ihnen nicht zu nahe treten. Aber glauben Sie nicht, dass Sie infiziert sind? Ich meine, Sie wurden gebissen.«

»Doch. Da bin ich mir sehr sicher.«

»Mein Gott. Ich dachte, der Virus schlägt sehr schnell an.«

»Kann man hier nicht sagen. Sie erinnern sich. Danielsen hat uns in einer Besprechung gebeichtet, dass wir mit Medikamenten gefüttert werden.«

»Ja.«

»Das hilft nicht wirklich. Verlangsamt aber unter umständen den Prozess.«

»Was soll ich machen, wenn es so weit ist?«

Wiegner streckte ihm den Arm mit Axt hin. »Schlagen Sie mir den Schädel ein.«

»Das kann ich nicht.« Keim riss erschrocken die Augen auf.

»Ich weiß. War nur ein Spaß. Reißen Sie sich am Riemen und kümmern Sie sich um Ihren Computer. Um mich kümmere ich mich selbst.«

»Und wie?«

»Jetzt halt einfach mal dein Maul. Geht das?«

Keim setzte sich auf einen Bürostuhl. Wiegner massierte sich die Stirn. Mit jeder Minute wurden die Kopfschmerzen schlimmer. Sie trieben ihm bereits Tränen in die Augen. Außerdem war er wütend. Sehr wütend. Das war der Virus. Er spürte, wie ihm die Kontrolle entglitt. Wenn er nicht bald etwas unternahm, dann würde er den armen Keim vierteilen. Was sollte er tun? Sich selber mit der Axt erschlagen? Er konnte die Halle verlassen. Wenn dann der Virus seinen Verstand fraß, wäre er sicher nicht mehr in der Lage, die Tür zu öffnen. Fingerabdruckscanner und Zahlencode. Nein. Keim wäre sicher. Das war ganz klar die einfachste Lösung. Sie hatte allerdings einen gewaltigen Haken. Er wollte auf keinen Fall so enden wie die anderen armen Schweine. Um nichts in der Welt. Was blieb? Sein NanoCom piepte. Wiegner nahm es vom Gürtel. »Ja?«

»Karl.«

»Aila. Alles in Ordnung. Keim ist in Sicherheit. Der kann jetzt sein Schulprojekt weiterführen.«

»Was ist mit dir? Auf der Kamera sah es so aus, als seist du verletzt.«

»Das ist richtig.«

Schweigen. Wiegner blickte nach oben. Wie hoch war die Halle? Zehn Meter? Eher fünfzehn Meter. Scheiße. Er hätte sich das Skalpell einstecken sollen.

»Was kann ich tun?«

»Nichts. Aila, du kannst gar nichts tun.«

»Was hast du jetzt vor?«

»Ich werde mich umbringen.«

»Tu das nicht.«

»Denkst du, ich will hier als Zombie-Attrappe herumlaufen?«

»Vielleicht finden wir eine Lösung.«

»Aila. Ich wünsche dir alles Gute. Lebe wohl.« Er beendete das Gespräch und schaltete das Gerät aus. Irgendwann musste man bei solchen Dingen zu einem Ende kommen. Ansonsten redete man den ganzen Tag und drehte sich mit Scheinargumenten im Kreis herum. In seinem Schädel zündete ein Schweißgerät. Der Schmerz war kaum mehr zu ertragen. Das Denken fiel ihm schwer. Vielleicht sollte er Keim einfach den Schädel einschlagen. War er nicht an alledem schuld? Wenn Keim nicht irgend so eine bescheuerte Idee gehabt hätte, dann würde er jetzt in der Krankenstation sitzen. Auf jeden Fall bestünde nicht die Gefahr, sich in ein Monster zu verwandeln. Auf der anderen Seite hatte er selbst dafür gesorgt, dass er in der Forschungsabteilung gelandet war. Hätte er diese blöde Außenmission nicht angeführt, könnte er jetzt mit Aila einen Schnaps trinken. Seinetwegen auch gerne einen üblen Ouzo. Scheiß drauf. Keim zu töten war eindeutig eine gute Sache. Der Gedanke an die Gewalttat beruhigte ihn, linderte die Schmerzen. Er musste sofort etwas unternehmen. Ohne sich um Keim zu kümmern, verließ er den Kontrollraum, lief zwischen die Regalwände, bis er sicher war, dass Keim ihn nicht mehr sehen konnte. Dann begann er an einem Regal hoch zu klettern. Sich von diesem Regal in den Tod zu stürzen, war so ziemlich die ekelhafteste Art sich das Leben zu nehmen. Und wenn er sich nur ein paar Knochen brach? Bei seinem Glück würde genau das geschehen. Er hätte niemals zur Bundeswehr gehen dürfen. Eigentlich war seine Karriere nur eine Verkettung von Zufällen. Den Wehrdienst hatte er dem Zivildienst vorgezogen, weil ihm das Verweigern einfach zu mühselig erschien. Er war schlichtweg zu faul. Dann musste er sich an einem Tag entscheiden, ob mit den anderen bei einem Manöver durch den Dreck robben oder sich lieber an einem Auswahlverfahren für Offiziersanwärter beteiligen wollte. Das Auswahlverfahren erschien ihm angenehmer. Das war es dann gewesen. Und wozu das alles? Um sich nun selbstlos zu opfern? Hurra.

Er versuchte, die Schmerzen zu ignorieren. Kletterte weiter. Nach einer gefühlten Ewigkeit kam er oben an. Wenn er den Arm ausstreckte, konnte er die Decke berühren. Er sah nach unten und klammerte sich an einer der Streben fest. Von hier oben sah das viel höher aus als von unten. Wiegner setzte sich an den Rand. Was machte er eigentlich hier?

Wiegner wollte einen Satz denken. Aber das ging nicht mehr. Die Gedanken wurden glitschig, rutschten seinem Verstand aus den Fingern. Er wollte sprechen, aber stattdessen schrie er. Er brüllte sich die Lunge aus dem Leib. Die Flammen in seinem Kopf fraßen sich durch seine Erinnerungen, löschten sein Ich. Er ließ sich fallen.

 

 

***

 

Markus Steller

 

Steller hatte Anna auf die Rückbank verfrachtet und sich neben Schwede gesetzt. »Wie in aller Welt bist du hierher gekommen?«

»Das war kein Problem. Vergiss nicht, dass sich diese Brut nicht für mich interessiert. Ich habe mir einen Wagen geschnappt und bin euch hinterher gefahren.«

»Ich wollte nicht, dass sie dich zurücklassen.«

»Mir ist klar, wem ich das zu verdanken habe.«

»Bist du gekommen, um dich an Fieber zu rächen?«

»Die Idee ist mir gekommen.«

»Ich habe keine Ahnung, wo er ist. Ich bezweifle, dass er noch lebt.«

Schwede nickte. »Das Feuerwerk war gigantisch. Fast hätte es mich auch erwischt. Denkst du, dass Kattas Mutter dafür verantwortlich ist?«

»Ich wüsste nicht, wer sonst.«

»Was ist mit Katta?«

»Ich habe keine Ahnung.«

Anna meldete sich von der Rückbank. »Wir müssen nach ihr suchen.«

»Das ist zu gefährlich«, sagte Steller.

»Die Kleine hat recht«, sagte Schwede. »Ohne sie kommen wir nicht in den Bunker. Ich kann das machen.«

Natürlich hatten die beiden recht. Außerdem brauchte er dringend jemanden, der sich um Anna kümmerte, wenn er es nicht mehr konnte. Wer wusste, wie viel Blut er bereits verloren hatte. »Nein. Wenn wir nach ihr suchen, dann übernehme ich das. Ich bin dort gewesen und weiß in etwa, wo ich sie finden kann.«

»Du vergisst, dass man mich nicht jagen wird.«

»Mich auch nicht.«

Schwede sah ihn verblüfft an. Dann verstand er. »Das tut mir leid.«

Steller winkte ab und versuchte das Thema zu wechseln. »Wir brauchen etwas zum Anziehen.«

»Das wollte ich dich sowieso noch fragen. Wart ihr schwimmen?«

Steller ging nicht weiter darauf ein. »Später. Wir haben ein wichtigeres Problem.«

»Du meinst das riesige Ding, das gelan...« Schwede sah in den Rückspiegel. Sein Kiefer klappte nach unten. »Was zur Hölle ist das?«

Steller drehte sich im Sitz herum, sah durch die Heckscheibe. Etwa 100 Meter hinter ihnen stand eine dieser widerlichen Tigermissgeburten auf dem Weg. »Das ist das andere Problem.«

 

 

***

 

Arthur Keim

 

 

»Ich habe Ihnen gesagt, was ich weiß. Der Oberst hat mich ohne weiteren Kommentar alleine gelassen. Das ist eine halbe Stunde her. Seitdem habe ich ihn nicht mehr gehört und gesehen.« Gott sei Dank, hätte er fast hinzugefügt.

»Wiegner ist also tot.« Torbecks Augen waren gerötet. Sie sah aus, als hätte sie geweint.

»Das nehme ich an.«

»Gehen Sie nachsehen.«

»Was? Auf keinen Fall.« Keim versuchte, seine Angst in den Griff zu bekommen. »Hören Sie. Entweder er ist tot oder der Virus hat durchgeschlagen. In keinem Fall kann ich helfen. Außerdem. Wenn er noch leben würde, dann wäre er ganz sicher gekommen, um mir den Kopf von den Schultern zu reißen.« Torbecks Gesicht erinnerte ihn an eine Wachspuppe. Nicht schlecht gemacht, aber eindeutig unecht. Sie blickte auf ihre Hände, die wie zum Gebet gefaltet vor ihr auf dem Schreibtisch lagen. Was sollte er sagen? Scheinbar waren die beiden enger befreundet, als er gedacht hatte. »Sie haben verstanden, dass ich eine Botschaft gefunden habe?« Torbeck nickte. »ZERBERUS hat die Berechnung vor fünf Minuten beendet. Wie ich Ihnen erklärt habe, muss diese Zahlenfolge gesendet werden. Unsere Nachricht besteht aus drei verschiedenen Darstellungen dieser Zahl. Binär, zur Basis drei und zur Basis vier. Das müssen die Außerirdischen verstehen. Davon bin ich überzeugt.« Die Kommandantin zeigte keine Reaktion. »Es tut mir leid. Das mit dem Oberst tut mir wirklich leid. Aber wir müssen die Nachricht senden.«

»Ich lege Sie in den Leitstand.«

Eine Minute später änderte sich das Bild auf Keims Monitor. Nun sah er nicht mehr Torbecks Gesicht in Großaufnahme, sondern blickte in den Leitstand hinein. Theißen wandte sich ihm zu. »Überspielen Sie den Daten-File.«

Keim tat es. »Es ist wichtig, dass Sie die Botschaft auf möglichst vielen Frequenzen ausstrahlen«, sagte er.

»Keine Sorge. Wir schießen mit allem, was wir haben.«

»Ich kann nur betonen, wi... .«

»Ist schon passiert.«

»Was?«

»Die Nachricht wurde gesendet und wird weiter gesendet«, sagte Theißen. »Ab jetzt rund um die Uhr.«

»Und jetzt?«, fragte Hauptmann Gärtner. »Wie lange wird es dauern, bis sie antworten?«

Keim verzog das Gesicht. »Das kann ich Ihnen nicht sagen. Es ko...«

»Wir müssen gar nicht warten«, unterbrach ihn Theißen. »Wir empfangen eine Nachricht.«

 

 

***

 

Markus Steller

 

Schwede trat aufs Gas.

Die Reifen drehten durch und scheuerten den Dreck vom Straßenbelag. »Was ist das?« Schwede sah noch immer in den Rückspiegel.

»Konzentriere dich auf die Straße. Die Viecher sind aufgetaucht, nachdem dieses Ding gelandet ist.«

»Die?«

»Es ist nicht alleine.«

»Es verfolgt uns«, schrie Schwede. »Es ist schnell.«

Schwede fuhr die Gänge bis zum Letzten aus. Der Motor heulte, dass Steller fürchtete, er würde zerplatzen. Sie erreichten eine scharfe Linkskurve. Schwede schaltete runter. Das Fahrzeug schlitterte in die Kurve, schob gewaltig über die Vorderachse. Steller hielt die Luft an. Schwede gab im Scheitelpunkt der Kurve Vollgas. Sie befanden sich wieder auf einer Geraden. »Das Ding kommt näher. Ich kann hier nicht schneller fahren.« Ihr Wagen hüpfte durch die nächste Linkskurve. Im Moment fuhren sie im Kreis. »Ich kann es nicht abhängen. Sag dem Mädchen, dass es auf deinen Schoß klettern soll.«

»Was soll... .«
»Mach schon.«

Steller wollte sich zu Anna umdrehen. Aber das war unnötig, sie kletterte bereits wie ein Äffchen zwischen den Vordersitzen hindurch und saß Sekunden später auf Stellers Schoß. »Was hast du vor?«, schrie Steller. Schwede antwortete nicht, starrte in den Rückspiegel. Dann trat er das Bremspedal in die Ölwanne. Instinktiv umklammerte Steller Annas schmalen Körper. Der Sicherheitsgurt drückte ihm die Luft aus den Lungen, das Heck des Wagens explodierte. Sie wurden gegen die Rückenlehnen ihrer Sitze gedrückt. Das Wesen war in den Kofferraum gekracht und schob das Auto vor sich her. Glas flog im Innenraum herum. Dann blieben sie stehen. Schwede gab wieder Gas. Die Maschine heulte auf, aber sie kamen nicht von der Stelle. »Die Hinterachse ist gebrochen. Wir müssen raus.« Schwede löste den Gurt, drückte die Fahrertür auf und sprang aus dem Fahrzeug. Steller brauchte länger, musste erst Anna aus dem Wagen bugsieren. Es knallte. Schwede schoss auf die Kreatur. Auch Steller hatte es nach draußen geschafft. Er brachte die MP in den Anschlag und schoss das Magazin leer. »Feuer einstellen!«, schrie Schwede.

Das Wesen bildete eine Einheit mit dem Wagen. Es sah aus, als würde es aus ihm herauswachsen. »Ist es tot?«, rief Steller.

»Ich will es hoffen. Wir müssen weiter. Schnapp dir das Mädchen.«

Steller ging zu Anna und griff ihre Hand. »Katta. Was ist mit Katta und Demir?«, fragte sie. Steller zögerte. Konnten die beiden noch leben? Wenn sie ein gutes Versteck gefunden hatten, war das möglich. In dem Gebäude hatten sicherlich eine Menge Infizierte überlebt. Auch wenn er davon ausging, dass sie ihn nicht angreifen würden. Wie sollte er die beiden da raus bekommen? Vielleicht waren sie auch geflohen. Außerdem konnten da noch mehr von diesen sechsbeinigen Viechern herumhängen. Auf der anderen Seite hatte er kaum eine Wahl. Er brauchte die beiden. »Ich gehe zurück und versuche sie zu finden. Das wird einige Zeit dauern.«

»Sollen wir nicht gemeinsam gehen?«, fragte Schwede.

»Nein. Ich denke, hier seid ihr sicherer. Pass auf sie auf.«

»Das mache ich.«

»Dahinten ist ein Hügel. Dort treffen wir uns.« Schwede nickte. Steller ging in die Knie. »Du bleibst bei ihm. Ich komme so schnell ich kann zurück.«

»Ist gut.« Steller wunderte sich, dass Anna keine Widerworte gab. Das Kind hatte für sein Alter eine erstaunliche Fähigkeit Unumgängliches zu akzeptieren. Er stand auf und begann den Weg zurück zu joggen.

 

 

***

Arthur Keim

 

»Guten Abend. Danke, dass Sie uns benachrichtigt haben. Leider müssen wir feststellen, dass die Durchseuchung der Biosphäre weiter fortgeschritten ist, als wir uns das wünschen würden. Es besteht die Gefahr, dass Sie als Schädling in der Lage sind, tief in die Biosphäre einzugreifen.« Der Nachrichtensprecher sah von seinem Blatt auf. Seine Augen schienen so etwas wie Bedauern ausdrücken zu wollen. »Dieser Schaden ist möglicherweise irreparabel. Um kein Risiko einzugehen, wird die gesamte Biosphäre gelöscht.« Der Mann legte das Blatt, von dem er abgelesen hatte, zur Seite. Sah in die Kamera. »Wir geben Ihnen Gelegenheit, sich bei Ihren Göttern zu verabschieden.«

Der Monitor wurde schwarz. Keim lehnte sich zurück. Er hörte die Stimme von Torbeck. »Ich nehme an, das war keine gute Nachricht.«

»Nein«, hauchte Keim.

»Ich kann Sie nicht verstehen.«

Keim schüttelte den Kopf. »Nein!«

»Also, was bedeutet das?«

»Das bedeutet, dass es Zeit ist, sich zu verabschieden.«

»Ich verstehe.«

Keim beugte sich nach vorne und unterbrach die Verbindung. Alle seine Vermutungen waren gleichermaßen richtig wie falsch gewesen. Er hatte daran geglaubt, dass der Virus künstlich sei.

Er hatte recht.

Er hatte daran geglaubt, dass im Virus eine Botschaft verborgen sei.

Er hatte recht.

Er hatte daran geglaubt, dass die Botschaft eine Art Intelligenztest sei.

Er hatte recht.

Er hatte daran geglaubt, dass dieser Test sie auf eine Stufe stellen würde, die es den Besuchern verbot, sie zu töten.

Er hatte sich geirrt.

Der Test diente einem anderen Zweck. Er sollte herausfinden, wie weit sie in der Lage waren, die Natur zu manipulieren. Wobei Natur in diesem Zusammenhang der falsche Begriff war. Was die Menschen als Natur bezeichneten, war in Wahrheit eine durch eine fremde Intelligenz konstruierte Biomatrix. Dadurch, dass er den Außerirdischen die Lösung des Testes gesendet hatte, führte er den Nachweis, dass die Menschen technisch und intellektuell in der Lage waren, diese Matrix in ihrer Tiefe zu beeinflussen. Das war nicht falsch. Die Menschen manipulierten Gene in Pflanzen, Tieren und Bakterien, betrieben Stammzellenforschung, entwickelten biologische Waffen und Impfstoffe. Offensichtlich hatten sie damit aus Sicht der Angreifer den gesamten Planeten unbrauchbar gemacht. Jetzt würden sie nicht nur die Menschen vernichten, sondern alles Leben auf dem Planeten.

Er hatte die Welt auf dem Gewissen. Das Ganze war eine simple Falle gewesen. Die Besucher machten sich nicht einmal die Mühe, der Sache auf den Grund zu gehen. Die Nachricht, die Keim hatte senden lassen, hatte ihnen genügt. Sicher hatten sie Hunderte oder Tausende von Welten manipuliert. Da spielte es keine Rolle, wenn es mal nicht so lief, wie sie sich das vorstellten. Sie würden alles auf null stellen und die Evolution von Neuem in Gang setzen. Keim musste an die verschiedenen Artensterben denken, die die Erde im Laufe ihrer Geschichte erlebt hatte. Wie oft waren sie schon hier gewesen, hatten sich enttäuscht gezeigt und die Uhren wieder zurückgedreht? Gedankenverloren schaltete er die Musik ein, suchte sich ein neues Lied der Rolling Stones aus. Aus den Lautsprechern plätscherte Time Is On My Side. Er lehnte sich zurück.

 

 

***

 

Markus Steller

 

Die ersten paar Hundert Meter war er gejoggt. Dann musste er stoppen. Er hockte sich hin und versuchte Luft zu bekommen. Schließlich stand er auf und versuchte weiterzurennen. Es ging nicht. Immer wieder musste er seine Schritte verlangsamen. Am Ende blieb ihm nichts weiter übrig als zügig zu gehen. Die Verletzung seines Rückens forderte letztendlich doch ihren Tribut.

Als er ankam, hockte er sich in der Nähe der Brücke, von der er ins Wasser gesprungen war, hinter ein Gebüsch und beobachtete die Umgebung. Alles um ihn herum hatte Löcher. Die Bäume, ein kleiner Schuppen, ein Auto. Die Splittermunition hatte die ganze Gegend durchsiebt. Nichts rührte sich. Seine Augen stellten sich nicht mehr richtig scharf. Mehrfach kniff er die Augenlider zusammen, um in der Entfernung etwas erkennen zu können. Er bemerkte, dass seine Atmung sich beschleunigt hatte. Die Symptome kannte er. Das lag an seinem Blutverlust. Sofort verdrängte er den Gedanken.

In dem Gebäude musste es noch Infizierte geben. Die konnten unmöglich alle von dem Angriff getötet worden sein. Bis hierhin war er sich sicher gewesen, dass er selbst infiziert war und dass die Kranken ihn deswegen nicht angreifen würden. Nun war er nicht mehr so überzeugt. Steller spürte, dass ihm die Zeit davon lief. Er stand auf und schlich sich zu der Tür, aus der Anna und er gekommen waren. Im Gebäude war es totenstill. Wo sollte er anfangen zu suchen? Er entschied sich dafür, im obersten Stock anzufangen. Wenn es unten brennt, dann rennt man instinktiv nach oben. Vielleicht hatten sie dort eine Zuflucht gefunden. Ob Fieber noch lebte? Und was war mit Schippe?

Er nahm das Treppenhaus und zog sich mit der linken Hand an den Streben des Geländers nach oben. Hin und wieder blieb er stehen, um in die Stille zu lauschen. Aber das kurze Verzögern seines Aufstiegs hatte noch einen anderen Grund. Seine Muskeln fühlten sich wie Pudding an. Weit unter ihm gab es ein knallendes Geräusch. Waren das Infizierte? Oder fiel nur der Putz von der Decke? Die Explosionen hatten das Gebäude schwer beschädigt.

Im obersten Stockwerk angekommen, sah er sich um. Links und rechts den Flur entlang. Es war dunkel, aber er meinte rechts von sich einen Körper auf dem Boden liegen zu sehen. Als er näherkam, erkannte er, dass es Schippe war. Der Mann hatte zwei Löcher in der Stirn. War das Fiebers Werk gewesen? Ohne weiter darüber nachzudenken, zog er dem Toten zwei MP-Magazine aus der Weste und steckte sie sich ein. Jetzt bemerkte er, dass am Ende des Flurs noch mehr Leichen auf dem Boden lagen. Sie stapelten sich vor einer leicht geöffneten Tür. Steller näherte sich ihr, versuchte mit seinen Füßen die Lücken zwischen den Körpern zu finden. Er drückte gegen das Türblatt, aber die Tür war blockiert. Im Raum lagen noch mehr Leichen. Soweit er das erkennen konnte, war er in einem Archiv gelandet. An den Wänden standen Metallregale mit Aktenordnern. »Nicht schießen«, flüsterte Steller einer Eingebung folgend. Er quetschte sich durch den Türspalt. »Nicht schießen. Ich bin es, Markus.« Und wenn Fieber hier war? Vielleicht hätte er seinen Namen besser nicht erwähnt. Warum hatte Fieber ihn nicht erschossen, als er die Gelegenheit dazu gehabt hatte? Das Auftauchen dieser Kreatur schien ihn aus dem Konzept gebracht zu haben. »Ich bin hier.« Steller musste einen Aufschrei unterdrücken. Er hatte gehofft jemanden zu finden, damit gerechnet hatte er nicht.

»Demir?«

»Ja.«

In einer Ecke des Raumes nahm er eine Bewegung wahr. Als er näher trat, sah er Demir. Der Junge saß auf dem Boden. Er hatte die Beine angezogen und lehnte mit dem Rücken an der Wand. Neben ihm lag Katta. »Bist du verletzt?«

»Nein.«

»Was ist mit ihr?« Demir antwortete nicht. Steller kniete sich hin. »Was ist mit Katta?« Das Mädchen hatte die Augen geschlossen. Demir zog ihr Oberteil hoch. Sie hatte drei oder vier Einschusslöcher im Bauch.

»War das Fieber?«

»Das war ich.«

»Du?«

»Ich habe sie nicht erkannt. Das ging alles so schnell. Sie stirbt.«

Gerne hätte Steller das Gegenteil behauptet. In seiner beruflichen Karriere hatte er mehrfach Fälle erlebt, bei denen Menschen von Kugeln durchsiebt wurden und wenige Wochen später so gut wie neu waren. Menschen starben nicht so leicht wie viele dachten. Allerdings wurden die Opfer auch in Windeseile notoperiert. Aber ohne jede medizinische Hilfe? Sie würde sterben. Und mit Katta starb die letzte Hoffnung, Anna in diesem Bunker unterzubringen. »Was ist mit Fieber?«

»Der liegt dahinten.«

»Tot?«

»Fieber hat uns geholfen. Dabei wurde er gebissen. Er hat sich selbst erschossen.«

Eigentlich sollte ihn diese Nachricht freuen. Das tat es aber nicht. »Demir. Du musst mitkommen.« Der schüttelte nur den Kopf.

»Demir?« Katta hatte die Augen geöffnet.

»Ich bin hier.« Trotz der Dunkelheit sah Steller die Tränen in seinem Gesicht.

»Denk an den Wachmann«, flüsterte Katta.

»Nein. Das kann ich nicht.«

»Bitte. Es tut so weh.«

»Ich kann nicht. Was soll das alles? Seit dieser Mist losgegangen ist, habe ich auf drei Menschen geschossen. Keinem von ihnen wollte ich etwas antun. Am wenigsten dir. Warum passiert mir das?«

»Es tut weh.«

Demir griff Steller an die Schulter. »Du musst es machen. Ich kann sie nicht leiden sehen. Bitte.«

Katta erschießen? So abgebrüht war er nicht. Bei dem Gedanken bekam er eine Gänsehaut. »Wenn ich sie erschieße, dann locken wir die Irren an. Es sind bestimmt noch welche im Gebäude.«

»Das ist mir egal. Bitte, du musst es tun.«

Katta hatte die Augen wieder geschlossen. Sie stöhnte. Im Prinzip täte er ihr damit einen Gefallen. Aber das war leichter gesagt als getan. Dann fiel ihm etwas ein. »Wo ist Fieber?« Demir zeigte in die Richtung. Steller ging zu ihm und hockte sich neben den Körper. Hatte er ihn tatsächlich überlebt. Damit hatte man nicht unbedingt rechnen können. Fieber hatte seine Chance gehabt, aber nicht genutzt. Zu gerne hätte er ihn nach dem Warum gefragt. Zu spät. Steller wühlte ihn Fiebers Rucksack und fand das, was er suchte.

»Was ist das?«, fragte Demir, als Steller sich wieder neben ihn setzte.

»Morphium.«

»Fieber hatte gesagt, dass wir noch dankbar dafür sein würden.«

»Der Mann war nicht dumm.«

»Was hast du vor? Weißt du, wie viel man spritzen muss?«

»So viel wie möglich.«

»Spinnst du? Das ...« Demir verstand.

»Das ist der bessere Weg.« Steller nahm sein Feuerzeug zur Hilfe, um den Beipackzettel zu lesen. Er fand den Abschnitt mit den Dosierungsanleitungen und überflog ihn. Dann zog er eine Spritze auf, zögerte kurz und steckte Katta die Nadel in den Oberschenkel. Steller hatte noch nie eine Spritze benutzt, aber das Morphiumpräparat wurde intramuskulär verabreicht. Das war keine Kunst. Als er fertig war, zog er die Spritze erneut auf. Das sollte reichen. Katta hatte das Bewusstsein nicht wiedererlangt und das würde auch nicht mehr geschehen. Seltsam. Er hatte Katta getötet und doch fühlte es sich viel besser an, als wenn er ihr in den Kopf geschossen hätte. Steller musterte Demir. Der Mann war völlig in sich zusammengebrochen. »Demir.« Er reagiert, nicht. »Demir, ich brauche dich. Wir können nichts mehr für sie tun.«

»Sie atmet noch.«

»Wir können nichts mehr tun. Du musst mit mir kommen.«

Demir schien nachzudenken. Dann nickte er. »Auf dem Flur liegt Schippe.«

»Ich habe ihn gesehen.«

»Ich glaube, er hat Wasser in seinem Rucksack. Kannst du das holen?«

»In Ordnung.« Steller stand auf und schlich aus dem Raum. Er fand Schippes Leiche und durchsuchte seinen Rucksack. Warum sollte er das Wasser holen? Das hätten sie auch auf dem Weg mitnehmen können. Da war kein Wasser. Gott, war er blöd. In diesem Moment zerriss der scharfe Knall eines Pistolenschusses die Stille. Steller sprang auf und rannte zurück.

Demir lag seitlich in sich zusammengesunken, die Pistole war aus seinen Fingern geglitten. Ein Arm ruhte auf Kattas Brustkorb. In einer anderen Wirklichkeit hätten die beiden ein schönes Paar abgegeben. Steller stand auf. Er musste zurück zu Anna. Solange er dazu in der Lage war.

 

 

***

 

Aila Torbeck

 

Torbeck saß im Kommandantenraum. Vor sich auf dem Schreibtisch stand ein randvoll gefülltes Glas Whisky.

Katta war tot. Sie hatte die Aufzeichnungen der Drohne gesehen. Der Angriff der Raketen war erfolgreich verlaufen. Das gelandete Objekt war zerstört worden. Im weiten Umkreis um die Farm stand nichts mehr auf den Beinen. Zwei Personen hatten es geschafft, das Gelände zu verlassen. Eine genaue Identifikation war nicht möglich, aber aufgrund der geschätzten Größe handelte es sich wahrscheinlich um einen Mann und ein Kind. Die beiden hatten ein Fahrzeug angehalten. Es kam zu einer Verfolgung und einem Unfall. Wenn man das so nennen konnte. Was auch immer sie verfolgt hatte, zeigte keine Wärmesignatur. Auf dem Videomaterial war nur ein schwarzer Klumpen zu erkennen. Für eine Sekunde hoffte sie, dass Katta in dem Fahrzeug wäre. Es stellte sich heraus, dass sich in dem Wagen nur ein weiterer Mann befand. Einer der Männer lief zurück zu der Farm und verschwand für einige Zeit im Hauptgebäude. Er kam alleine wieder heraus. Mit einem Stock oder Stiel ritzte er etwas in den Boden. Dann schüttete er eine Flüssigkeit darüber. Sekunden später standen die Buchstaben in Flammen. Katta ist tot. Tapferes Mädchen.

Der Mann gehörte zu Kattas Gruppe. Nur jemand, der von der Drohne wusste, würde eine solche Nachricht hinterlassen. Ihr Kind lag tot in dem Haus. Theißen hatte gefragt, was er nun tun solle. Sie hatte nicht darauf reagiert und war in ihr Büro gegangen.

Mit tränenverhangenen Blick sah sie sich die Fotos an, die auf ihrem Schreibtisch standen. Theißen meldete sich noch einmal. Er sagte ihr, dass die Drohne sich auf dem Rückweg zu Fenris befände. Auf ihrem Weg hätte sie mehrere von diesen riesigen Gebilden festgestellt. Die Dinger würden leuchten und hätten angefangen zu pulsieren. War das der Anfang vom Weltuntergang? Oder besser gefragt, war es dessen Ende? Katta war tot, Karl war tot. Wozu sich noch über solche Kleinigkeiten aufregen. Sie nahm ihr Glas und stürzte den Inhalt hinunter. Feuer breitete sich in ihrem Bauch aus. Sie musste husten.

Tapferes Mädchen. Ja, da war sich Torbeck sicher. Katta hatte sich nicht hängen lassen. Und Karl? Der auch nicht. Die beiden würden es nicht wollen, dass sie sich so gehen ließ. »Ich will ja weitermachen, aber es ist so schwer, wenn man alleine ist.« Sie hörte Karls Stimme in ihrem Kopf. »Ja, du hast recht«, sagte sie zu sich selbst. Noch immer trug sie die Verantwortung für Hunderte von Menschen. Was immer auch geschah, im Bunker waren sie vielleicht davor geschützt. Am Ende blieb vielleicht doch etwas übrig, auf das sich aufbauen ließe. Und wenn nicht? Dann hatte sie zumindest gekämpft und es sich verdient, ihre Tochter und ihren Freund wiederzusehen. Also würde sie weitermachen. Sie schenkte sich noch ein Glas ein, stand auf und sprach einen Toast. »Katta, ich liebe dich. Und wie du es sagen würdest, Karl: Wir sehen uns in Walhalla.«

 

 

***

 

 

Markus Steller

 

 

Als Steller am vereinbarten Treffpunkt ankam, sah er die Umrisse von Anna und Schwede auf dem Hügel. Da er nicht in der Lage war dort hinaufzusteigen, machte er auf sich aufmerksam und winkte die beiden zu sich nach unten. Mit knappen Worten berichtete Steller, dass alle anderen tot seien.

»Ich haue ab«, sagte Schwede, der die Nachricht von Fiebers Ende ohne sichtliche Gemütsregung aufgenommen hatte.

»Wo willst du hin?«

»Egal. Einfach weg von hier.« Einfach weg? Die Welt war eine Kugel. Da gab es kein einfach weg. Steller sah Schwede nach, der sich ohne weitere Worte umgedreht hatte und losgelaufen war. Nach kurzer Zeit geriet er außer Sicht.

»Was machen wir jetzt?«, fragte Anna.

Er drückte sich um eine direkte Beantwortung der Frage. »Tut mir leid, dass ich Katta und Demir nicht helfen konnte. Du darfst nicht zu traurig sein.«

»Ich bin nicht traurig. Es wäre schön, wenn sie hier wären. Dann wären wir nicht alleine. Aber für die beiden ist es doch so viel besser.«

»Wieso?«

»Weil sie keine Angst mehr haben müssen. Keine Angst zu haben ist eine gute Sache.« Da konnte Steller nicht widersprechen. Nach einer kurzen Pause sagte Anna: »Mir ist kalt.« Die Temperatur war in den letzten Stunden kontinuierlich gefallen. Steller wusste nicht besonders viel über Geologie. Wie schnell würde die Erde ohne Sonnenlicht abkühlen? Die Atmosphäre isolierte ein wenig und die Meere speicherten Wärme. Aber das würde kaum etwas helfen. Vermutlich würde die Temperatur in kürzester Zeit unter den Gefrierpunkt fallen und nicht aufhören zu sinken. Am Ende würde der Sauerstoff aus der Atmosphäre ausflocken und als Schnee zu Boden fallen. Aber bis das geschah, wären sie schon lange erfroren. »Glaubst du, dass es wieder hell wird?«

»Ganz ehrlich. Ich habe keine Ahnung.« Er nahm ihre Hand. Gemeinsam liefen sie die Straße entlang. Langezeit sagte keiner von ihnen etwas. Sie erreichten eine Bundesstraße, der sie folgten. Nach zwei Kilometern kamen sie an einer Tankstelle vorbei. Die Tür war aufgebrochen und die Regale im Verkaufsraum umgeschmissen. Dieser Ort war so gut wie jeder andere. Steller vergewisserte sich, dass außer ihnen niemand hier war. Auch wenn die Tankstelle geplündert war, gab es noch genügend Lebensmittel und Getränke. Steller brach mit letzter Kraft die Tür zum Büro auf, wo sie einige Kittel und eine Decke fanden. Sie saßen nebeneinander auf einem Sofa und aßen. Steller spürte seinen Rücken nicht mehr. Er musste an seinen Zahnarzt denken. Der hatte mal gesagt: Solange es wehtut, ist noch Hoffnung. Wenn der Schmerz wieder verschwindet, wird es ernst. Ob das auch für solche Verletzungen galt? »Warum schwitzt du so?« Anna hatte sich in die Decke eingewickelt und zitterte immer noch. Steller wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn. Er schwitzte tatsächlich furchtbar. Das war ihm bis jetzt nicht aufgefallen. »Ich weiß es nicht«, log er. Anna hatte sich auf die Seite gelegt, die Beine eng an den Körper gezogen. Ihr Kopf ruhte auf Stellers Oberschenkel. »Papa. Ich möchte etwas schlafen.«

Steller zögerte. Dann sagte er: »Ich bin nicht dein Papa.«

»Können wir nicht so tun, als wenn du es wärst?«

»Okay.« Steller hatte niemals einen Kinderwunsch gehabt. Keine seiner Beziehungen hatte so lange gehalten, dass diese Frage relevant wurde. Als er seine Hand auf Annas Schulter legte, war das ein seltsames Gefühl. Er legte seinen Kopf zurück und schloss die Augen.

Als er sie wieder öffnete, schmerzte sein Genick, er musste eingeschlafen sein. Ihm war schwindelig und übel. Nur mit Mühe gelang es ihm, die Augen offen zu halten. Anna lag ganz ruhig da. Der Moment war gekommen. Er durfte nicht weiter warten. Wenn er das Bewusstsein verlor, dann würde er wahrscheinlich nie mehr aufwachen. Was sollte dann aus Anna werden? Er stellte sich vor, wie sie neben seiner Leiche aufwachte, ihn schüttelte und anschrie. Behutsam zog Steller seine Waffe aus dem Holster. Liegt der Sinn der Existenz im Leiden? Und war der Tod nicht das schreckliche Ende, sondern die Erlösung vom Leben? Gab es nichts, was man mitnehmen konnte? Wenn er darüber nachdachte, dann musste er eingestehen, dass er in seinem Leben nichts getan hatte, dem man eine Bedeutung zumessen konnte. Gar nichts. Bis jetzt. Ohne zu zögern, hätte er sich für Anna geopfert. Für ein Kind, das er kaum kannte. Warum? Er hatte gedachte, dass es die Schuldgefühle wären, die ihn antrieben. Aber in Wirklichkeit war es die Liebe. Er liebte Anna und es gefiel ihm, wenn sie ihn Papa nannte. Vielleicht war es das, was er aus diesem Leben mitnahm. Das Wissen darum, wie sich Liebe anfühlte. Damit war ihm mehr vergönnt als vielen anderen Menschen.

Und Anna? Sie hatte erfahren, dass es doch wenigstens einen Menschen gab, der sich um sie sorgte. Damit war sie nicht mehr alleine im Universum. Womöglich war auch diese Erkenntnis viel mehr wert, als es im ersten Moment schien.

Ob es einen Gott gab? Steller hatte nie daran geglaubt. Aber das bedeutete natürlich nicht, dass es keinen gab. Für ihn selber spielte das keine Rolle mehr. Er würde ganz sicher nicht anfangen zu beten. Wenn es einen Gott gab, dann musste er intelligent genug sein, um diesen falschen, durch Angst ausgelösten Spontanglauben zu durchschauen. Aber durfte er deswegen nicht für andere beten?

Er zielte mit der Pistole auf Annas Hinterkopf. »Bitte, lieber Gott. Mach, dass sie in den Himmel kommt.« Dann drückte er ab.