6. Observation

 

Markus Steller

 

Die Zielperson zu lokalisieren war ein Kinderspiel gewesen. Im Frankfurter Hof hatten Stellers Männer den Waffenhändler gefunden. Das Hotel lag mitten in der City, eine der vornehmeren Adressen der Stadt. Es bestand aus zwei Gebäudeteilen. Der repräsentative Teil, Ende des 19. Jahrhunderts eröffnet, war aus edlem Sandstein gebaut und mit düster blickenden Statuen verziert. An dem historischen Bauwerk klebte ein liebloser Anbau aus den 1960er Jahren. Die Vorstellung mit einem SEK in diesem Tempel der besseren Gesellschaft die Türen aufzusprengen, gefiel Steller jede Sekunde besser. Mittlerweile kontrollierten seine Leute alle Zugänge des Hotels. Einige Kollegen hatte er in Büros und Treppenhäusern der umliegenden Gebäude postiert. Von dort überwachten sie aus den oberen Stockwerken die Ein- und Ausgänge des Hotels. Der Rest der Truppe sollte in die Observation gehen, wenn die Zielperson die Unterkunft verließ. Steller saß mit Wilczek in einem schwarzen BMW X6 am Kaiserplatz. Keine hundert Meter vom Hotel entfernt, ohne Sicht auf das Zielobjekt.

Steller biss in den Döner und überlegte, ob er Wilczek auf den heutigen Tag ansprechen sollte. Es kam ihm so vor, als ob der Junge nicht begriffen hatte, was geschehen war. Oder hielt er es einfach für besser, nicht darüber zu sprechen? Steller schwieg. Schuldgefühle pirschten sich durch das Dickicht seiner Gedanken an. Das konnte er jetzt nicht gebrauchen. Er blickte nach draußen und betrachtete die Menschen, die in Scharen in Richtung Hauptwache liefen. »Eine Menge Volk«, sagte er.

Wilczek sah ihn von der Seite an. »Wie sieht es denn bei dir mit Frauen aus?«

»Mit was?«

»Jetzt komm schon. Was ist los mit dir? Erzähl mal was Persönliches. Hast du keine Frau? Ich habe noch nie etwas von deiner Freundin gehört. Oder bist du sogar verheiratet? Geschieden?«

»Nein.« Fing der wieder mit dem Mist an. Wilczek war erst seit wenigen Wochen bei der Fahndung. Was stocherte der Typ unaufgefordert in seinem Privatleben herum?

»Was nein? Bist du verwitwet?«

»Nein zu allem. Keine Frau.«

»Seit wann?«

»Seit immer.«

»Du verarscht mich.«

Steller hätte sich selbst ohrfeigen können. Es war ihm einfach herausgerutscht. Er hasste dieses Thema.

»Bist du schwul?«

»Nein. Auch nicht pädophil oder nekroman.«

Ein Problem bei Observationen lag in der Langeweile. Im Film geschah alles in Zeitraffer. Die Polizisten stellten sich hin, warteten eine Minute und das Spektakel begann. Das Leben sah anders aus. Stundenlang passierte überhaupt nichts. Da blieb einem nicht viel mehr, als dummes Zeug zu quatschen. Wilczek öffnete den Mund. Kam nicht zum Sprechen.

»Lass mich in Ruhe.«

»Das kannst du vergessen. Ich gehe dir auf die Nerven, bis du mit der Sprache herausrückst.«

Wie sich herausstellte, war das kein leeres Versprechen. Langsam stieg die Wut in Steller auf. »Ich habe keine Frau. In Ordnung?«

»Also lebst du alleine.«

»Sehr gut, Sherlock.«

»Haustiere? Eine Katze? Ich finde, du bist der Katzentyp.«

»Keine Katze.«

»Gar keine Haustiere?«

»Nein, verdammt.«

»Bist du nicht einsam?«

»Nein. Können wir das Thema jetzt beenden?« Steller wurde ernsthaft wütend. »Es reicht. Hör auf oder ich schlag dir in die Fresse.«

Wilczek öffnete den Mund, sagte aber nichts mehr. Er versank in Gedanken. Steller zwang sich, seine Aufmerksamkeit dort hinzulenken, wo er sie benötigte. Es kostete ihn Mühe. Dass es sich bei den Bodyguards um ehemalige Fremdenlegionäre handeln sollte, entspannte die Situation nicht. Auch wenn die Information nicht gesichert war, so musste er davon ausgehen, dass sie zutraf. Er wusste nicht viel von der Fremdenlegion, außer dass in ihr eine Menge Osteuropäer dienten. Außerdem war es wahrscheinlich, dass die Männer Kampferfahrung besaßen. Die Fremdenlegion jagte ständig von einem Krisenherd zum nächsten. Er musste auf der Hut sein.

Eine Zeit lang schwiegen sie im Wagen. Dann sagte Wilczek: »Tut mir leid.« Steller rang sich ein kurzes Nicken ab. Mittlerweile war es nach 21:00 Uhr. Die Stadt erstickte am Verkehr. Fast schien es, als ob jeder Einwohner sich auf dem Weg in die Innenstadt befand. Auf der Zeil, der Frankfurter Einkaufsmeile, fand ein Fest statt. Aber das war nicht normal. Passanten drängten, Autos hupten. Ein verkehrstechnisches Armageddon. Reflektiert von Häuserfassaden jagten Martinshörner in der Ferne durch die Stadt. Anspannung lag in der Luft, als ob die Menschen besondere Erwartungen an den Abend stellten.

»Wo hast du diese geile Karre her?« Wilczek hatte die Sprache wieder gefunden. Er fühlte sich auf dem Fahrersitz des X6 sichtlich wohl. Der BMW roch nach Neuwagen, hatte keine tausend Kilometer auf der Uhr.

»Wenn die wollen, dass wir große Fische fangen, dann brauchen wir das entsprechende Arbeitsmaterial. Die Kiste sieht nicht nach Polizei aus und so soll es sein«, sagte Steller. Mehr als das Auto interessierte ihn, dass das SEK nicht eintraf. Die ließen sich ganz schön feiern. Der Zugriff sollte im Hotelzimmer stattfinden. Das war eindeutig die sicherste Option, setzte aber zwei Dinge voraus. Das SEK musste endlich an den Start und die Zielperson durfte das Zimmer nicht verlassen. Alles andere konnte in einer Katastrophe enden. Wenn er sah, was sich heute in der Stadt bewegte, dann gute Nacht. Aktuell befand sich der Waffenhändler in seiner Suite. Vermutlich bumste er irgendeine Edelnute oder badete in Champagner. Das sollte am besten so bleiben. Steller telefonierte und fragte in der Einsatzzentrale nach den Spezialkräften. »Die stecken im Verkehr«, kam die knappe Antwort.

»Trotz Sonderrechten? Die sollen die Fackel anmachen.«

»Die Idee wurde bereits umgesetzt.« Der Kollege klang gereizt. »Das ist dem Stau aber egal.«

»Das darf nicht wahr sein.«

»Nimm es wie ein Mann. Heute ist die Hölle los. Schlägereien, Selbstmorde, Volksfeststimmung. Keine Ahnung, was das soll. Der Polizeiführer vom Dienst ist ganz blass um die Nase. Der ist nur am Rotieren. Telefoniert mit Gott und der Welt. Ich kann dir nicht helfen. Sei froh, wenn die überhaupt kommen.« Das Gespräch wurde beendet. Steller versuchte ohne Erfolg, Markgraf und Fassbender zu erreichen. Na, prima. Er musste einkalkulieren, dass das SEK nicht kam. Wie sahen seine Optionen aus? Sollte er die Nummer dann trotzdem durchziehen, mit seinen eigenen Leuten? Wenn das in die Hose ging, würden sie ihn vierteilen. Wilczek hatte anscheinend Langeweile und fummelte an der Bordelektronik herum. »Mein Gott, schau dir die vielen Knöpfe an.« Plötzlich schaltete das Display der Navigationsanlage um. Ein Fernsehbild flimmerte über den Monitor. Steller riss es aus seinen Überlegungen.

»Na, sieh mal einer an«, lachte Wilczek, »die Kiste hat einen Fernseher an Bord.«

Es lief ein Nachrichtenkanal. Steller verstand nicht, was er dort sah. Es sah aus wie ein Meer aus Schilfgras, durch Windböen wellenartig getrieben. Er beugte sich nach vorne, stellte den Ton lauter.

»Sind das Menschen?«, fragte Wilczek.

Die Kamera schwebte über der Szene. Eine Frauenstimme schrie gegen ein flatterndes Geräusch an. Steller konnte nicht feststellen, um welche Sprache es sich handelte. Er glaubte, Panik in der Stimme zu hören. Der Hubschrauber flog eine Kurve. Die Fernsehkamera wackelte. Für einen Augenblick verschwand das Bild, baute sich unmittelbar wieder auf. Die Fokussierung lief ins Unscharfe. Dann zoomte die Kamera heran. Steller erkannte Einzelheiten, zog die Augenbrauen nach oben. Auf einem Platz war eine Menschenmenge zu sehen. Tausende, vielleicht Zehntausende. Die Menschen standen dicht an dicht. Nein, sie standen nicht. Sie lagen geschichtet, wie Kohlebriketts.

»Ist das eine Massenorgie?« Wilczek klebte mit der Nase am Bildschirm.

Steller las den eingeblendeten Fließtext: Massenpanik in Abu Dhabi.

»Was ist denn das für eine Scheiße? Das ...« Wilczek wurde durch das Funkgerät unterbrochen. »Achtung! Achtung! Vermutlich verlässt die Zielperson in Begleitung von vier männlichen Personen das Hotel.«

Steller schaltete das Fernsehprogramm weg. »Ist das gesichert?«

»Ein alter Zwergasiat. Die Begleiter sind Europäer. Glatzen, böse Blicke. Das Gesicht von dem Vietcong kann ich nicht erkennen.«

Die oberflächige Beschreibung passte. »Auftrag. Zielpersonen verifizieren. Stellt sicher, dass das unser Mann ist.«

Die Kollegen quittierten den Befehl. Mit den Bildern sollte eine Identifizierung aus der Nähe kein Problem sein. Das Gedränge in der Stadt hatte Vor- und Nachteile. Im Gewimmel fiel es nicht leicht, die Zielpersonen unter Beobachtung zu halten. Die Beamten kämpften mit den Massen, wurden ausgebremst, geschubst, vom Kurs abgebracht. Jede Unaufmerksamkeit konnte dazu führen, dass der winzige Asiat samt Hofstaat in einem Meer von Menschen außer Kontrolle geriet. Auf der anderen Seite bot das Durcheinander Deckung. Der Gegner litt an denselben Wahrnehmungsproblemen.

»Markus.« Kam die Stimme aus dem Funk.

»Ich höre.« Steller leckte sich über die Lippen.

»Zielperson positiv. Gruppe geht in Richtung Hauptwache. Aktuelle Position ist rechte Gehwegseite in Höhe der Drogerie Douglas.«

»Verstanden.« Der Hauptkommissar holte kurz Luft.

»Operativer Leiter an alle. O-L an alle. Observation beginnt.«

 

Herr Yoon Hyeonwoo hatte sich unter das gemeine Volk gemischt. Zusammen mit seinen Leibwächtern bog er von der Hauptwache in Richtung Konstablerwache ab. Sie gingen die Zeil entlang. Eine fünfzig Meter breite Fußgängerzone, beidseitig gesäumt von Geschäften. Steller war erleichtert, dass die Gruppe nicht in die Tiefebenen der Hauptwache abgetaucht war. Bei den S- und U-Bahn-Gleisen gab es ein Gewirr von Rolltreppen und kleineren Auf- und Abgängen. Ganz abgesehen von der Möglichkeit, im letzten Moment in eine Bahn zu springen. Es sah so aus, als ob der Koreaner keinen ausgedehnten Ausflug geplant hatte.

Das Fest auf der Zeil bestand aus einer unüberschaubaren Anzahl von Buden. Die Stände, an denen es Alkohol und Schwenkbraten gab, liefen in drei Reihen von der Hauptwache bis zur Konstablerwache. Eine Reihe verlief mittig, die anderen beiden links und rechts an den Geschäften entlang. Steller hatte den Eindruck, dass mittlerweile mehr Menschen das Fest verließen als hinzukamen. An ein entspanntes Durchkommen war trotzdem noch lange nicht zu denken. Der Asiat samt Gefolge, blieb gefühlt an jedem Stand kleben. Es war 22:00 Uhr. Stellers Handy vibrierte in seiner Hosentasche. »Kommandoführer Fieber vom SEK«, meldete sich der Anrufer.

Steller presste das Mobiltelefon an den Kopf, schloss mit einem Finger das freie Ohr. »Ihr werdet erwartet.« Er musste fast brüllen.

»Ging nicht schneller.«

Der Fahnder hob an, dem SEK-Mann die Lage zu erklären. Der unterbrach ihn sofort. »Damit du gleich Bescheid weißt, wir mussten reduzieren. Aufgrund einer anderen Einsatzlage mussten wir uns aufteilen.«

»Wie viele seid ihr genau?«

»Wir sind fünfzehn.«

»Was? Hier ist es verdammt laut.«

»Fünfzehn. Wir sind zu fünfzehnt.«

Was hatte der Kollege vom Führungsdienst gesagt? Eine richtig große Sache. So groß schien sie dann doch nicht zu sein. »Das limitiert unsere Möglichkeiten.« Steller massierte sich mit der freien Hand die Stirn. Was war denn los? Mit achtunddreißig Jahren und sechzehn Jahren Dienstzeit besaß er genügend Erfahrung. Er musste sich zusammenreißen. Doch die Unruhe blieb, umschwirrte seine Gedanken wie eine lästige Fliege. »Wir kriegen das hin.« Steller erklärte dem Kommandoführer die Situation. »Ich melde mich, sobald ich weiß, wo das hier hinführt. Ich denke, der geht ein Bier trinken und anschließend zurück in sein Hotel.«

»In Ordnung. Wo sollen wir uns bereithalten?.«

»Stellt euch in der Schäfergasse auf.«

»Verstanden.«

Steller steckte das Handy weg. Das SEK hatte sich halbiert. Für eine gewöhnliche Festnahme waren fünfzehn Mann Spezialkräfte plus seine eigene Leute mehr als ausreichend. Aber das war keine gewöhnliche Festnahme. Sie konnten die Zielperson nicht auf offener Straße festnehmen. Das Risiko für Unbeteiligte war zu groß. Am besten warteten sie darauf, dass der Typ sich wieder in sein Hotel zurückzog, und schlugen dann zu. Eventuell mussten sie mehrere Etagen des Hotels räumen und absperren. Da konnte er jeden Mann gebrauchen.

Gemeinsam mit den Bodyguards betrat der Waffenhändler ein Bierzelt auf der Konstablerwache. Im Zelt standen die üblichen Garnituren. Meterlange Tische mit den dazugehörigen Sitzbänken davor. Der Boden war klebrig von ausgeschüttetem Bier. Das Zelt war gut besucht, aber nicht voll. Vereinzelt gab es an den Tischen noch freie Plätze. Das Dröhnen der Musik wurde vom Klimpern der Bierkrüge begleitet. Die Luft stand und presste Steller innerhalb von Sekunden den Schweiß aus den Poren. Die Zielpersonen fanden Plätze, setzten sich. Wenig später nuckelte Hyeonwoo an einem gewaltigen Bierkrug, die Leibwächter begnügten sich mit Cola. Erst jetzt konnte Steller sie näher in Augenschein nehmen. Dem Äußeren nach handelte es sich um Osteuropäer, Anfang dreißig, die Haare kurzgeschoren, alle drei trugen Anzüge in gedeckten Farben. Sie wirkten trainiert, verhielten sich geschickt in ihrer Raumaufteilung. Sie wussten, wie sie ihren Auftraggeber absichern mussten. Fremdenlegion oder nicht, die Männer waren keine Clowns. Steller baute darauf, dass sie wenig Erfahrung mit der einheimischen Polizei besaßen. Sie würden die Kollegen nicht erkennen. In diesem Durcheinander erst recht nicht.

Er fand einen Sitzplatz. Links von ihm saß eine dicke Frau in einem bunten Kleid, die unentwegt gackerte und Bier durch die Gegend spuckte. An seiner anderen Seite hockte ein Sechzigjähriger, der mit missmutiger Miene auf den Tisch starrte. Was er dort auch sah, es fesselte ihn. Steller gegenüber saß ein junges Pärchen. Die beiden genügten sich selbst und knutschten herum. Nachdem Steller sich gesetzt hatte, verlor er die Sicht auf die Gruppe, verließ sich nun auf seine Leute. Das SEK stand mittlerweile im zugeteilten Aufstellungsraum im Bereich der Schäfergasse etwa vierhundert Meter Luftlinie entfernt. Steller telefonierte noch einmal kurz mit dem Kommandoführer. Hierbei erfuhr er, dass die Spezialkräfte gegen seinen Wunsch taktische Uniformen trugen, statt Zivil. Offensichtlich hatte es im Vorfeld ein Kommunikationsproblem gegeben. Damit schied ein Zugriff in der Öffentlichkeit endgültig aus. Blieb nur noch der Zugriff im Hotel. Zur Vorbereitung zog Steller vier seiner Leute von der Observation ab. Sie bekamen den Auftrag, in Absprache mit der Hotelleitung die nötigen Bereiche zu evakuieren. »Am besten räumt ihr die gesamte Etage. Da dürfen keine Gäste mehr herumgeistern«, gab er den Kollegen mit auf den Weg. Das schwächte die Maßnahmen vor Ort, aber Steller vertraute darauf, dass Yoon Hyeonwoo nach einigen Maß Bier die Lust verlieren und in sein Bett schwanken würde. Mut zur Lücke nannte man das. Die Uhr zeigte 23:05 Uhr. Er bekam eine SMS. »Zielperson steht auf.« Steller hob das Handy ans Ohr und versuchte Fieber anzurufen. Das SEK sollte Aufstellung im Bereich Frankfurter Hof nehmen. Hier, in der Nähe des Bierzeltes konnte er die Uniformierten nicht mehr gebrauchen.

Er kam nicht zum Telefonieren.