46. Intensivstation

 

Markus Steller

 

Die Gruppe hetzte zwischen den Gebäuden hindurch und erreichte eine kleine Wiese. Die Putzfrau scherte urplötzlich aus, brach nach links weg. Das war keine gute Richtung. Sie lief den Irren direkt in die Arme. Demir machte sich lang und versuchte die Frau am Arm festzuhalten. »Lass sie«, schrie Fieber. Immer wieder knallten Schüsse. Steller sah nach unten. Anna atmete schwer. Sie war am Ende ihrer Kräfte. Sollte er es jetzt tun? War das der Moment? Er durfte ihn auf keinen Fall verpassen.

»Hier rein!« Steller folgte der Stimme. Er sah, wie Katta eine Seitentür aufhielt, die in ein Treppenhaus führte. Das war eines der Hauptgebäude. Grundgütiger. Die Notbeleuchtung begann flackernd zu leuchten. Vermutlich war sie an Lichtsensoren gekoppelt und durch die Dunkelheit aktiviert worden. Er zog Anna hinter sich her und hetzte mit ihr die Treppen hinauf. Das Kind hing schwer an seiner Hand. Er musste langsamer werden. Inzwischen war die gesamte Gruppe an ihnen vorbeigezogen. Das Poltern ihrer Schritte übertönte alles, sodass Steller keine einzelnen Geräusche mehr auseinanderhalten konnte.

Anna schrie. Steller wirbelte herum, sah in die Fratze eines Mannes, riss die Waffe nach oben, schoss ihm zweimal in das Gesicht. Der Angreifer fiel rücklinks die Stufen hinab, riss auf seinem Weg zwei Infizierte mit, die ihm dicht gefolgt waren. »Lauf! Such die anderen!«

»Ich will nicht.«

»Lauf, Kind!«

Anna rannte die Treppen hinauf. Steller hörte das Poltern von Schritten. Da kamen noch mehr. Er versuchte rückwärts die Stufen zu nehmen, leerte in schneller Folge das Magazin. Er steckte die Pistole weg, griff die MP und schoss weiter. Nach zwei Feuerstößen war er durch den Lärm der Waffe taub. Dann sah er niemanden mehr. Er drehte auf dem Absatz um und wollte Anna folgen, als er einen Schatten wahrnahm. Steller wirbelte blitzschnell herum und sah einen Mann in Uniform die Treppe hochrennen. Das war Fliege. Wo kam der jetzt her? War also doch noch jemand hinter ihm gewesen. Flieges Oberteil war zerrissen, an der freigelegten Schulter lief ihm Blut über die Brust hinab. Sein Gesicht war von Schmerzen verzerrt, er zeigte Steller die Zähne. Steller hob die Waffe. Der SEK-Mann blieb stehen, sah Steller in die Augen und nickte. Das Pfeifen in Stellers Ohren ließ etwas nach. Er hörte Schreie und trampelnde Schritte. Da kamen noch mehr. »Tut mir leid.« Er zielte auf die Brust des SEK-Mannes, überlegte es sich im letzten Moment anders, nahm dessen Kopf ins Visier und drückte ab. Sofort wandte er sich ab und sprintete die Stufen hoch. Zwei Treppenabsätze später holte er Anna ein. Sie stand in einer Tür, die aus dem Treppenhaus führte.

»Die sind hier rein«, schrie Anna.

»Du solltest ihnen folgen.«

»Ich lasse dich nicht alleine.«

Dumme Göre. Er griff ihre Hand und stolperte mit auf den Gang. In beide Richtungen erstreckte sich ein Flur. Wo waren die lang gelaufen? Es war stockdunkel. Er hörte einen Schuss. Rechts von ihm am Ende des Flurs blitzte es. Mündungsfeuer. »Weiter.« Steller schnappte Anna und rannte den Gang entlang. Auf beiden Seiten des Korridors standen Türen offen. Er nahm nur Schemen wahr. Lag da noch jemand in seinem Bett?

Sie erreichten das Ende des Flurs. »Sie kommen«, schrie Anna. Steller vergeudete keine Zeit damit sich umzudrehen. Der Gang teilte sich. »Sie sind links.« Anna zeigte mit dem Finger in die Richtung. Steller sah, wie zwei der Polizisten einen Körper aus einer halb geöffneten Tür zogen. Aus dem Raum drang Licht in den Flur. Die wollten da rein. Er rannte los, riss das Mädchen rücksichtslos mit sich. Die Gruppe verschwand in der Tür. Wenn die schloss, waren sie erledigt. »Wartet!« Er schrie, so laut er konnte. Die Tür fiel zu. »Wartet!«

Die Tür wurde wieder aufgestoßen. Er erkannte Bilal. Der winkte. Annas Hand entglitt ihm. Sie schrie, stürzte. Steller stoppte, drehte sich um. In dem Moment flogen die Infizierten um die Ecke. Ihr Tempo war zu hoch, sie bekamen die Kurve nicht, rutschten über den Linoleumboden und schlugen in der Wand ein. Ihr Gebrüll ließ den Raum vibrieren. Er griff nach Anna, warf sie sich wie einen Mehlsack über die Schulter. Sie wog sicher vierzig Kilo. Seine Beine drohten nachzugeben. Steller sprintete, ignorierte die Last, die seine Wirbelsäule stauchte. »Beeilt euch. Los!« Bilal hüpfte im Türrahmen wie ein Zuschauer bei einem Pferderennen.

Wie viel Vorsprung hatte er noch? Zwanzig Meter? Steller jagte mit dem Sack auf seiner Schulter durch die Tür, die hinter ihm ins Schloss knallte. Er stürzte und fiel der Länge nach hin. Anna rollte über den Boden. Sofort kam er auf die Beine, vergewisserte sich, dass ihr nichts geschehen war. Hinter ihm wurde die Tür verbarrikadiert. Das Hämmern begann. Das kannte Steller schon. Aber Anna nicht. Sie zitterte und sah immer wieder zur Tür hinüber. Die hin und her zuckenden Lichtfinger der Taschenlampen machten es nicht besser. »Keine Angst. Sie können nicht rein.« Er versuchte beruhigend zu klingen. Aber dafür atmete er viel zu schwer.

»Wirklich nicht?« Anna sah ihn hoffnungsvoll an.

»Das ist eine Stahltür. Die kommen nicht rein.« Es sei denn, sie waren schon drinnen. Aber das behielt er für sich.

»Gut.«

Zu seiner Überraschung stellte er fest, dass sie sich augenblicklich ein wenig entspannte. Steller sah eine Tafel an der Wand. Internistische Intensivstation B3 stand darauf. Das erklärte die stabile Tür. Vielleicht hatten sie auch noch Strom. Die Intensivstationen waren doch bestimmt an die Notstromversorgung angeschlossen. Die Überlebenden sammelten sich. »Wo ist Fliege?«, fragte Fieber.

»Der hat es nicht geschafft«, antwortete Steller.

»Bist du sicher?«

»Hundertprozentig.«

»Scheiße. Und was ist mit Schwede?«

Der fehlte ebenfalls? Das war Steller bis jetzt nicht aufgefallen. Er zuckte mit den Schultern. Auch die anderen konnten nicht weiterhelfen. »Zwei Ausfälle.« Fieber versank kurz in Gedanken. Dann erwachte er wieder aus dem Stand-by. »Wir müssen die Station sichern. Alle Räume durchsuchen. Ich will keine bösen Überraschungen. Außerdem müssen wir feststellen, ob es weitere Zugänge gibt.« Er verteilte Aufträge. »Also, los!«

Steller ließ Anna bei Katta und Demir zurück. Das missfiel ihr und er brauchte einiges an Überredungsgeschick. Er zog seine Pistole und wechselte das Magazin. Dann ging er den Flur entlang. Nach wenigen Schritten erreichte er eine Tür. Er zögerte und atmete tief durch. Die Zimmer alleine zu durchsuchen war riskant. Aber die Zeit drückte. Sie mussten schnell feststellen, ob die Station andere Zugänge besaß. Wenn sie alles zu zweit oder zu dritt machten, würde es zu lange dauern. Er zog die Tür auf. Der Geruch von antiseptischen Reinigungsmitteln schwappte ihm entgegen und er rümpfte die Nase. In dem Krankenzimmer stapelten sich tickernde Maschinen der Intensivmedizin. Ein Beatmungsgerät, Infusionstechnik, Apparaturen zur Blutwäsche. Überwachungsmonitore blinkten Warnmeldungen in den Raum. Strom gab es also noch. Im Bett lag eine Frau. Sie trug eine Maske, von der angeschlossene Schläuche zu einer Maschine führten. Ihr Brustkorb hob und senkte sich in einem gleichmäßigen Rhythmus. Steller blickte auf einen der Monitore. Soweit er das beurteilen konnte, war auf dem Bildschirm die Telemetrie der Herzfunktionen abgebildet. Aus dem Gerät drang ein unangenehmer Pfeifton. Eine gerade horizontale Linie lief über den Monitor. Über der Linie blinkte eine Warnmeldung. Alarm, Asystolie, Alarm, Asystolie. Steller spürte eine Bewegung in seinem Rücken und kreiselte auf dem Absatz herum. Fieber stand im Raum. »Ist sie tot?« Steller nickte. »In den anderen Zimmern sieht es ähnlich aus.« Fieber drückte sich an ihm vorbei und fummelte an den Geräten herum.

»Was hast du vor?«, fragte Steller.

»Ich schalte den Krempel aus. Es ist laut. Außerdem müssen wir Strom sparen. Wir wissen nicht, wie lange wir hier festsitzen.«

Steller half ihm und zog einige Stecker aus den Dosen. Die Beatmungsmaschine hörte auf zu pumpen. Es wurde still. Sie durchsuchten das Zimmer, fanden nichts Brauchbares. Zurück auf dem Flur hörten sie Dallas rufen. »Hier lebt noch einer.« Fieber und Steller folgten seiner Stimme. Das Krankenzimmer, das sie betraten, bot das gleiche Bild wie das vorherige. Im Bett lag ein alter Mann und wenn man dem Überwachungsmonitor glauben durfte, lebte er tatsächlich noch. Seine Augen waren geschlossen. Ohne sich näher mit dem Patienten zu befassen, begann Fieber die Stecker aus der Wand zu ziehen. Steller hielt die Luft an. »Was tust du?«

»Wie gesagt müssen wir Strom sparen«, sagte Fieber. »Oder glaubst du, dass Jesus erscheint und ihm die Hand auf die Stirn legt, um ihn zu heilen?« Als alle Geräte ausgeschaltet waren, zuckten Arme und Beine des Mannes kurz, dann fand er Ruhe. Fieber verließ das Krankenzimmer. »Es ist schade, dass deine Krankenschwester es nicht geschafft hat«, sagte er an Steller gewandt. Irgendwie wurde Steller das Gefühl nicht los, dass Fieber ihn, was die Putzfrau betraf, durchschaut hatte. Steller musterte den alten Mann im Bett, horchte in sich hinein. Wie unbewegt ihn Fiebers Handeln gelassen hatte. War das ein Zeichen der Verrohung? Steller verließ das Krankenzimmer und zog die Tür zu. Als Anna ihn sah, rannte sie zu ihm und umklammerte sein Bein. Steller legte ihr eine Hand auf den Kopf.

»Ich fasse zusammen«, sagte Fieber. »Wir haben zwei Mann verloren. Das ist ein harter Schlag. Allerdings ist es ein Wunder, dass das nicht schon früher geschehen ist. Wir befinden uns in einer Intensivstation. Der Haupteingang besteht aus einer Stahltür und ist gesichert. Wolf und Schippe haben einen zweiten Zugang gefunden. Ein Notzugang zu einem Treppenhaus. Die Tür ist ebenfalls aus Stahl. Wie die beiden festgestellt haben, lässt sie sich nicht öffnen. Da das ein Rettungsweg ist, sollte das wohl nicht sein. Kriegen wir die irgendwie auf?«

»Keine Chance«, antwortete Wolf.

»Okay. Wir haben Strom, wir haben Getränke, wir haben Essen. Keiner ist verletzt. Unsere Offizierstochter weilt noch unter uns und hat ihre Medikamente. Damit erschöpfen sich die guten Nachrichten.«

»Wir sitzen fest«, sagte Demir. »Ich habe das schon erlebt. Die lassen nicht locker.«

»Immerhin kommen sie nicht rein.« Katta hatte sich eine Decke besorgt und sich darin eingewickelt. Als Steller das sah, bemerkte er, dass er selber fröstelte. Der Sog der Klimaanlage sorgte für eine Gänsehaut auf seinen Unterarmen. Er ging in eines der leeren Krankenzimmer und nahm sich eine Decke, die er Anna über die Schultern legte. Er sah zu Katta. »Wo ist deine Tasche? Du hattest doch eine Handtasche um die Schulter gewickelt.«

Sie sah bedrückt aus. »Ich habe sie verloren.«

»Ich nehme an, dass das Satellitentelefon da drin war.«

Katte blickte unglücklich aus der Wäsche.

»Na, prima«, sagte Fieber.

»Was ist mit deinen Medikamenten?«, fragte Demir.

Katta griff sich in die Hosentasche und zog mehrere Streifen in Aluminium verpackter Tabletten heraus. »Ich dachte, dass ich meine Hose als Letztes verliere.«

Demir lachte.

»Warum ist es schon wieder dunkel?«, fragte Dallas.

»Jetzt wissen wir hundertprozentig, dass das keine Sonnenfinsternis ist. Zweimal nacheinander gibt es das nicht. Das weiß sogar ich«, sagte Demir.

»Leute. Schaut euch das an!«, rief Bilal. Er hatte sich von der Gruppe getrennt und stand am Ende des Flurs. Dort drückte er seine Nase an der Fensterscheibe platt. Sie gingen zu ihm. »Da oben.« Die Lichter am Himmel hatte Steller in der Aufregung völlig vergessen. Er ging in ein angrenzendes Zimmer, schaltete das Licht aus und sah durch das Fenster schräg nach oben. Die Streifen, die sie bereits gestern gesehen hatten, waren deutlich größer geworden. Einige von ihnen konnte man nicht mehr als Streifen bezeichnen. Sie besaßen einen hellen Kern und zogen einen trichterförmigen Schweif hinter sich her. Ohne seinen Blick abzuwenden, sagte er: »Was immer das ist. Es kommt näher.«

»Und zwar schnell«, sagte Fieber. »Wenn es da ist, sollten wir weg sein.«

»Wie stellen wir das an?«, fragte Demir.

»Weiß ich nicht. Aber diese Dinger am Himmel diktieren uns ihre Geschwindigkeit auf. Der ursprüngliche Plan, den Bunker zu Fuß zu erreichen ist damit hinfällig. Wir brauchen Fahrzeuge.«

»Sollten wir nicht die Leichen alle in einen Raum legen?«, fragte Katta. »Ich meine wegen Krankheiten. Es gibt ja noch mehr als diese Seuche.«

»Nein«, widersprach Fieber. »Die Idee wäre richtig, wenn wir hier bleiben würden. Aber das geht nicht. Darum werden wir keine Energie auf Dinge verschwenden, die uns nicht weiterbringen.«

»Können wir uns nicht erst mal ausruhen?« Bilal sank auf den Boden.

»Du kannst dich ausruhen, so lange du willst. Aber es wird deinen Tod bedeuten.« Fiebers Stimme klang scharf. »Der Grund, dass wir leben, ist, dass wir uns nicht ausruhen. Dass wir nicht stehen bleiben, wenn wir rennen müssen. Dass wir töten, wenn wir töten müssen.« Sein Blick wanderte kurz zu Steller. »Wenn es sein muss, werde ich nachts durch den Ärmelkanal schwimmen. Und wenn ich etwas vergessen habe, das mich am Leben erhält, dann schwimme ich zurück und hole es. Wer mitkommen will, kann folgen.«

»Ist ja gut. Ich habe es begriffen«, stöhnte Bilal.

»Das hoffe ich.«

Demir massierte sich die Stirn. »Und? Was machen wir jetzt?«

»Wir beobachten«, sagte Steller, der am Fenster stand.

»Was meinst du?«, wollte Fieber wissen.

»Schau es dir an.« Steller deutete nach draußen. Aus dem Fenster konnte man die Grünanlage einsehen, die mehrere Klinikgebäude voneinander abtrennte. Die Notstromversorgung sorgte dafür, dass in allen Gebäuden ein paar Lampen funktionierten. Das diffuse Licht verwandelte den kleinen Park in ein Meer aus Grautönen. Zwischen den Gebäuden wimmelte es von Infizierten. Sie liefen kreuz und quer durcheinander. Es sah aus wie der Personenverkehr in der Haupthalle eines Bahnhofs.

»Das sieht nicht gut aus«, sagte Fieber.

»Warte es ab. Ich habe da eine Vermutung.« Steller sah konzentriert nach draußen.

»Was für eine Vermutung?«
»Warte es einfach ab.«

»Na gut. Solange der Kriminalist hier seine Arbeitshypothese überprüft, werden wir die Station nach Brauchbarem durchsuchen.«

Sie machten sich an die Arbeit.

 

Die Zeit verging und die Dunkelheit blieb. Mittlerweile hatte Fieber den anderen notgedrungen erlaubt, sich in Ruhe zu begeben. Da sie bisher keine Möglichkeit gefunden hatten, das Gebäude zu verlassen, gab es ohnehin nichts weiter zu tun. Steller stand seit mehr als zwei Stunden zusammen mit Demir am Fenster und flüsterte leise mit ihm. Schließlich kam Fieber dazu. »Wie sieht es mit deiner Vermutung aus?« Seine ruhige Stimme bildete einen Kontrast zu seinen vibrierenden Gesichtsmuskeln. Steller deutete nach draußen. »Es sind weniger geworden. Sie haben sich verteilt.« Tatsächlich war die Grünanlage fast leer. Auf dem Platz, einem ungefähren Quadrat mit Kantenlängen von fünfzig Metern, wanderten nur noch sechs Gestalten umher. »Das sind immer die gleichen. Sie haben alle einen bestimmten Bewegungsradius. Diesen Bereich verlassen sie nicht. Ich vermute, dass sie sich über die ganze Stadt verteilt haben.«

»Du meinst, sie wollen eine möglichst große Abdeckung erreichen?«

»So ist es. Wenn einer von ihnen ein Ziel findet, schlägt er Alarm und alle in seiner Reichweite helfen bei der Jagd.«

»Eine Art Rudeltaktik?«

»Richtig. Eine gute Möglichkeit effizient zu jagen, ohne intelligent zu sein.«

»War das deine Vermutung?«

Steller nickte. »Ich habe gestern Nacht Ähnliches beobachtet.«

»Schön, darüber kannst du bei Gelegenheit einen Fachaufsatz schreiben. Wir nennen es den Steller-Effekt bei Zombies.« Fieber wollte gehen.

»Nicht so schnell. Daraus resultiert ein Plan.«

Fieber verharrte in der Drehung. Sein Gesicht verriet aufkommende Neugier. »Ich höre.«

»Die Idee stammt von Demir.«

»Glückwunsch. Also, was ist jetzt?«

»Erzähl es ihm«, forderte Steller Demir auf.

»Ich habe keine Ahnung, ob das funktioniert.«

»Die Zeit läuft. Sag, was du zu sagen hast.«

»Hast du schon einmal ein Kriegsspiel gespielt? Einen Ego-Shooter?«

»Ich habe tatsächlich hin und wieder Krieg gespielt.«

»Ich meine es ernst. Hast du?«

»Ja.«

»Dann weißt du, dass das Wiederholen solcher Spiele schnell keinen Spaß mehr macht. Der Grund ist, dass sich die Gegner nicht intelligent verhalten. Sie tauchen immer an der gleichen Stelle im Spiel auf und verhalten sich wie bei der letzten Runde.« Fieber nickte. »Das liegt daran, dass die Szenen einem Skript folgen.«

»Das weiß ich.« Fieber klang genervt.

»Wenn man geschickt spielt, kann man einen Level schnell leer räumen und hat keine Gegner mehr in dem Spielabschnitt zu erwarten.«

»Ach, du Scheiße.« Fieber machte große Augen.

»Genau«, sagte Steller.

»Denkt ihr wirklich, das funktioniert?«

»Haben wir eine Alternative?«

»Nein.«

»Dann sollten wir es probieren.«

»Wie?«, fragte Fieber.

»Wir nehmen die MPs mit Schalldämpfer und schalten die Typen da unten aus. Dann beobachten wir, was geschieht. Im besten Fall bleibt der Platz leer. Jedenfalls eine Zeit lang.«

»Und weiter?«

»Dann schießen wir uns einen Korridor frei.«

»Bis aus der Stadt raus? Das geht nicht, so viel Munition haben wir nicht. Abgesehen von anderen praktischen Problemen.«

»Ich dachte eher, bis zu den Rettungswagen, die bei der Notaufnahme stehen. Wir schnappen uns einen RTW und nehmen die Route, die uns Kattas Mutter geschickt hat«, sagte Steller.

»Was machen wir, wenn dort kein Rettungswagen steht? Oder es steht ein Rettungswagen da. Aber es steckt kein Schlüssel?«

»Was ist die Alternative?«

Fieber dachte einige Sekunden lang nach. »Ich bin mir sicher, dass wir dabei draufgehen. Auf der anderen Seite ist mir das lieber, als hier jammernd auf dem Boden zu hocken.« Er nickte. »Legen wir die Wichser um.« Ein Schrei ließ die drei zusammenzucken. Sie rannten aus dem Zimmer hinaus auf den Korridor. Auf halbem Weg in Richtung Ausgang flog die Tür des Stationszimmers auf und Dallas sprang ins Bild. »Schwede!«, schrie er. »Schwede ist da.«

Fieber sprintete zu ihm. »Wo ist er? Mann, rede. Wo ist er?«

Dallas‘ Stimme überschlug sich vor Aufregung. »Vor der Tür. Er steht vor der blöden Tür. Einfach so.«

Die Überlebenden quetschten sich in das Stationszimmer, versuchten einen Blick auf die beiden Monitore zu ergattern. Steller konnte es nicht fassen. Auf den Bildschirmen waren der Eingang und der Flur vor der Station zu sehen. Gegen die Stationstür drängten dreißig bis vierzig Infizierte. Die vordersten Reihen schlugen auf das Metall ein, rammten mit den Köpfen gegen das Türblatt. Das fortwährende Dröhnen nahm Steller kaum noch wahr. Einer hielt sich aus dem Gedränge vor der Tür heraus. Der Mann stand bewegungslos und alleine mit dem Rücken an der Wand. Eine blasse blondhaarige Schaufensterpuppe in Uniform. Schwede. Steller fragte sich, wie der Junge in diese Position geraten war. Eigentlich gab es nur eine vernünftige Erklärung. Schwede musste auf dem gleichen Weg geflohen sein wie sie alle. Nur weiter zurückliegend. Als Steller zusammen mit Anna durch die Tür gestolpert war und Bilal sie ins Schloss geschmissen hatte, da war es für Schwede zu spät gewesen. Von einer Sekunde auf die nächste hatte er sich in einer Sackgasse befunden.

»Wieso wird er nicht angegriffen?«, fragte Fieber. Das war in der Tat das größte Rätsel. Seit wann waren sie in der Station? Drei Stunden? Seitdem musste er dort stehen, vor Angst gelähmt, umgeben von einer Horde Tötungsmaschinen. Dachte er wirklich, die hätten ihn nicht bemerkt? Warum ließen sie ihn in Frieden?

Fieber drückte die Sprechtaste des Funkgeräts. »Schwede. Kannst du mich hören?«

Der Junge zuckte zusammen, griff mit einer unbedachten Bewegung an sein Headset. Das blieb nicht unbemerkt. Ein ehemaliger Arzt in seiner Nähe drehte sich zu ihm um. Es machte auf Steller nicht den Eindruck, als würde der Irre Schwede angreifen wollen. Aber solche Situationseinschätzungen aus sicherer Position waren leicht getroffen. Schwede hatte da mehr Druck und wertete das kurzzeitige Interesse, das der Mann ihm entgegenbrachte, als Angriff. Mit einer schnellen Bewegung hob er die Pistole und schoss dem Arzt in den Kopf. Der Knall war im Stationszimmer deutlich zu hören. Das war es dann wohl. Er sollte sich selbst erschießen, solange ihm die Zeit dazu blieb. Die meisten der Verseuchten drehten sich in seine Richtung. Aber anscheinend fanden sie dort nichts Bemerkenswertes und widmeten sich wieder ihrem Tagesgeschäft, versuchten weiter die Tür aus den Angeln zu schlagen. Steller verstand nichts mehr.

»Leg sie alle um!«, brüllte Fieber in den Funk. Schwede begann, sein Magazin leer zu schießen. Er steckte die Pistole weg, nahm die MP hoch und schoss einen nach dem anderen nieder. Jetzt begriff Steller, dass die Kranken alles Menschliche verloren hatten. Sie zeigten keine Reaktion. Sie wehrten sich nicht, sie griffen nicht an. Wie die Lemminge ließen sie sich abschlachten. Als Schwede mit wackelnden Händen das Magazin wechselte, standen noch fünf von ihnen. Die schlugen weiter auf die Tür ein, als wäre nichts geschehen. Dann gesellten sie sich zu den Niedergeschossenen. Bis auf den SEK-Mann stand niemand mehr auf den Beinen.

»Macht die Tür frei!«, bellte Fieber. Er drückte die Funktaste. »Hör zu, Schwede. Wir holen dich rein.« Der Blondschopf nickte.

Bei Steller gingen die Sirenen. »Hey, hey. Augenblick. Nicht so schnell.« Er sprang Fieber hinterher, der sich bereits auf dem Korridor befand.

»Was?«

»Du kannst ihn nicht reinlassen. Der stand die ganze Zeit mit den Infizierten da herum. Was glaubst du, warum die ihn nicht angegriffen haben? Vielleicht ist er infiziert. Das können wir nicht riskieren.«

Fieber legte die Stirn in Falten, zögerte. Dann rief er: »Macht die Tür frei, wir holen ihn rein.«

Steller wollte nach vorne, um Fieber an der Schulter festzuhalten, als sich die Zeit beschleunigte. Die Ursache setzte Bilal. Der junge Türke trat Schippe von hinten mit voller Wucht zwischen die Beine, riss ihm die Pistole aus dem Beinholster.

Was für ein Idiot. Die Distanzen waren viel zu klein.

Fiebers Gesicht blieb emotionslos. Er machte einen Schritt auf den Angreifer zu, blockierte mit der Linken Bilals Waffenarm, lenkte die Pistole von sich weg. Gleichzeitig steckte er ihm mit einer geschmeidigen Bewegung ein Messer in den Kehlkopf. Die Pistole polterte zu Boden. Bilal taumelte, zog das Messer mit beiden Händen aus dem Hals. Blut spritzte. Dann fiel er nach hinten, blieb zuckend liegen.

Aus den Augenwinkeln sah Steller, dass Demir in Aktion treten wollte. In Stellers Gehirn feuerten die Neuronen mit Hochdruck. Sein Unterbewusstsein spielte in Sekundenbruchteilen alle möglichen Szenarien durch. Dann handelte er. Er zog die Pistole und richtete die Waffe auf Demir, der angesetzt hatte, Fieber von der Seite anzugreifen. »Denk nicht mal daran!«, schrie Steller. Demir erstarrte in der Bewegung, hob beide Hände vor die Brust und zeigte seine Handflächen.

»Ich sagte, ihr sollt Schwede reinholen.« Fieber schien die Sache bereits abgehakt zu haben. Die SEK-Männer legten den Eingang frei.

Katta eilte zu Bilal und kniete sich neben ihn. »Er ist tot«, sagte sie. Auch Demir hockte sich neben die Leiche. Steller hatte gesehen, mit welcher Ruhe Fieber den Jungen ausgeschaltet hatte. Für ihn gab es kein zögern, nur handeln. Seine Bewegungen waren effizient, wirkten fast schon gelangweilt. Das zum Thema Nahkampf-Skills.

Steller schaute sich um, konnte Anna nicht finden. Er drehte sich um die eigene Achse. Wo war sie? Er sah im Stationszimmer nach. Nichts. Ihren Namen rufend lief er den Korridor entlang, öffnete die Türen der Krankenzimmer. Langsam wurde er panisch, versuchte sich damit zu beruhigen, dass sie die Station nicht verlassen konnte. Oder etwa doch? Schließlich fand er sie in einem Raum unter einem Bett versteckt. »Hey, ist alles wieder gut.« Was für ein grauenhaft stereotyper Satz und noch dazu gelogen.

Anna lag auf der Seite, den Kopf auf ihre Hände gebettet. Sie sah ihn an. »Warum hat er das gemacht?«

»Das ist schwierig zu erklären. Aber ich kann dir versprechen, dass er dir nichts tun wird. Da bin ich mir ganz sicher.«

»Aber dir wird er etwas tun. Davor habe ich Angst. Ich will nicht, dass du gehst.«

Steller legte sich auf den Boden und rutschte so nah es ging an sie heran. »Ich gehe nicht.«

»Wenn du doch gehst, nimmst du mich dann mit?«

»Wie meinst du das?«

»Wenn du dahin gehst, wo alle anderen auch hingehen.«

Er hatte einen Kloß im Hals. »Denke nicht mal daran.«

»Ich will aber, dass du mich mitnimmst.«

»Nein. Niemals.« In Wirklichkeit hatte er schon längst beschlossen, was er tun würde, wenn es an der Zeit war. Aber das konnte man keinem Kind sagen.

»Ich will es. Wenn du gehen musst, dann nimm mich mit.« Sie hatte Tränen in den Augen. »Bitte.«

»Ist gut«, krächzte er schließlich.

»Versprich es.«

»Ich verspreche es.«

Für einige Minuten lagen sie still nebeneinander.

»Wovor hast du am meisten Angst?« Als Steller das fragte, bereute er es sofort.

Anna schaute ihn an. »Dass Papa wiederkommt.« Mit der Antwort hatte er nicht gerechnet.

 

Als Steller mit Anna das Krankenzimmer verließ, war Schwede wieder unter ihnen. Die Ausgangstür verschwand gerade hinter einem Berg von Schränken und medizinischen Geräten. Schippe erholte sich noch immer von dem Tritt. Als Steller ihn ansprach, sagte er: »Der Chef redet mit Schwede unter vier Augen.«

Steller ging zusammen mit Anna zu Demir und Katta, die abseits der anderen auf dem Boden saßen. »Kannst du kurz auf sie aufpassen?«, fragte er Katta. Sie nickte, zog das Kind auf ihren Schoß. Dabei strafte sie Steller mit einem düsteren Blick. Ohne darauf zu reagieren, drehte er sich um und verschwand in einem der Krankenzimmer. Kurze Zeit später kehrte er mit einigen blauen Kitteln wieder zurück. Er kniete vor Katta und Demir. »Hier, zieht das an. Die Hitzewelle ist vorbei.«

»Mir ist nicht kalt«, sagte Demir.

»Das ist der falsche Moment für Diskussionen. Ich habe dir gerade eben das Leben gerettet. Bilal hat Fieber keine Wahl gelassen. Dich hätte er auch kaltgemacht. Nimm den blöden Kittel!«

Widerwillig griff Demir danach. Überraschung breitete sich in seinem Gesicht aus, als er merkte, dass in den Kittel eine Pistole eingewickelt war. Er sah Steller fragend an.

»Für eine Revolution bedarf es des richtigen Zeitpunktes. Du wirst wissen, wann du sie benutzen musst.«

Der Junge nickte.

Steller wandte sich Katta zu. »Du hast deine noch?«

»Ja.«

»Gut.«

Demir steckte die Pistole an seinem Rücken in den Gürtel und zog den Kittel an. »Denkst du, Schwede ist infiziert?«, fragte Demir.

»Darauf würde ich wetten. Vielleicht merken die Typen das und haben ihn deswegen nicht angegriffen. Eine bessere Erklärung fällt mir nicht ein.«

»Es ist die einzige Erklärung«, sagte Katta. »Das muss Fieber doch wissen. Was denkt er sich dabei? Wieso lässt er den Mann rein?«

»Ich verstehe es auch nicht«, gab Steller zu. Es war nicht nachvollziehbar. Man konnte Fieber nachsagen, was man wollte. Dummheit gehörte nicht dazu. Seine Entscheidungen waren darauf maximiert, sich am Leben zu erhalten. Steller musste zugeben, dass er ein sehr guter Anführer war. Was hatte ihn geritten, ein solches Risiko einzugehen? Lag es daran, dass es sich um einen seiner eigenen Männer handelte? Dieser Theorie widersprach, dass Fieber gestern Morgen einen seiner Leute ohne zu hadern erschossen hatte. Lauter Ungereimtheiten.

»Tut mir leid um deinen Freund«, sagte Steller zu Demir.

»Er war nicht mein Freund.«

»Umso besser.«

»Wir sollten ihn hier nicht einfach so liegen lassen«, sagte Katta.

Steller half Demir dabei, die Leiche von Bilal in eines der Krankenzimmer zu tragen. Nachdem sie Bilal auf dem Boden abgelegt hatten, nahm Demir eine Decke und bedeckte den Toten damit. Dann sank er auf die Knie, fing an mit dem Oberkörper zu wippen und vor sich hinzumurmeln.

»Das ist nicht Richtung Osten«, sagte Steller.

»Halt die Klappe. Christen beten auch für ihre Toten.«

»Ich nicht.«

Demir war fertig und stand wieder auf. »Glaubst du nicht an Gott?«

»Nein.«

»Dann solltest du jetzt vielleicht damit anfangen.«

»Ich denke, das wäre der dämlichste Moment. Mein ganzes Leben habe ich nicht gebetet. Und jetzt, wo das Eis für mich dünn wird, soll ich anfangen zu wimmern? Falls es einen Gott gibt, wird er das durchschauen.«

»Dann bete für das Kind.«

Steller bekam einen Kloß im Hals. »Hat er den Tod verdient?« Er musste vom Thema ablenken.

»Bilal hat es im Leben nicht leicht gehabt. Niemand, der so aufwächst wie er, hat das. Auf der anderen Seite war er ein riesiges Arschloch. Er hat vielen Menschen wehgetan. Ob er den Tod verdient hat, weiß ich nicht. Wie soll ich das beurteilen?«

»Ist auch egal.«

»Was wollen wir jetzt machen?«
»Du meinst wegen Fieber?«

»Ja.«

»Ich habe keine Ahnung. Ich setze darauf, dass ich im richtigen Moment das Richtige tue.«

»Ein armseliger Plan.«

»Ja.«

»Er will dich töten.«

Steller war überrascht. »Woher weißt du das?«

Demir lächelte. »Wie ich schon einmal sagte. Ich habe für solche Dinge ein Gespür.« Demir lächelte Steller an. Dann sagte er: »Vielleicht solltest du doch beten.«

 

Nach einer halben Stunde öffnete sich eine Tür und Fieber trat alleine auf den Gang. »Kommt mal her.« Jetzt war Steller gespannt. Die Gruppe versammelte sich. »Ich vermute, dass sich alle das Gleiche fragen. Ist Schwede infiziert?« Wenigstens ging er offensiv mit dem Thema um. Fieber ließ seine Worte einen Augenblick im Raum stehen. »Ich denke, er ist es. Auch Schwede selber glaubt das. Es ist die einzig plausible Erklärung.« In der Gruppe wurde es unruhig. Alle machten gleichzeitig den Mund auf.

»Warum hast du ihn dann reingeholt?«

»Nichts gegen Schwede, aber was machen wir, wenn er uns ansteckt?«

»Und wenn die Seuche bei ihm ausbricht? Ich meine, wie lange wird das dauern?«

Fieber hob die Arme. »Wartet. Erst mal ist das nur eine Vermutung.«

»Aber eine Vermutung, die uns das Leben kosten kann«, unterbrach ihn Schippe. Sieh an. Widerstand in den eigenen Reihen.

»Leider hat Katta das Satellitentelefon verloren«, sagte Fieber, ohne auf den Einwand einzugehen. »Ansonsten könnten wir im Bunker nachfragen, was sie von der Sache halten.«

»Jetzt kannst du dem Mädchen aber nicht die Schuld an der Lage geben.« Schippe ließ nicht locker.

Fieber fixierte ihn. »Bist du fertig? Natürlich gebe ich ihr nicht die Schuld.« Es wurde lauter, alle redeten durcheinander. »Haltet mal alle die Luft an!«, schrie Fieber. »Ich habe mit Schwede einen Plan entwickelt. Einen Plan, der uns hier herausholen wird.«

Es wurde still. Das war kaum zu glauben. Darum hatte Fieber ihn hereingelassen. Der Mann tat nichts, ohne auf seinen eigenen Vorteil zu achten. »Ich habe mit ihm folgende Übereinkunft getroffen. Er besorgt uns ein Fahrzeug. Dafür nehmen wir ihn mit. Im Bunker können sie ihm vielleicht helfen.«

»Wir sollen uns zusammen mit ihm in ein und dasselbe Fahrzeug quetschen?«, fragte Demir.

»Wir wissen, dass die Krankheit sich nur schlecht über Tröpfcheninfektion verbreitet. Schwede wird einen Mundschutz tragen.«

Fieber wendete sich an alle. »Wir gehen ein hohes Risiko ein. Ein sehr hohes. Aber wenn wir es nicht tun, sterben wir. Das ist eine Tatsache. Die Frage ist nur, wann. Ich nehme lieber das Risiko in Kauf, als elendig zu verrecken.« Die meisten nickten. »Er ist unsere einzige Chance. So wie es aussieht, kann Schwede sich gefahrlos unter den Infizierten bewegen. Sie nehmen keine Notiz von ihm.«

Steller räusperte sich. »Ich hätte da mal eine ganz andere Frage.«

»Bitte.«

»Angenommen Schwede hat den Virus. Wann soll er sich damit infiziert haben. Ich meine, wenn der Virus sich so schlecht überträgt. Gebissen wurde er ja wohl nicht. Oder?«

»Nein. Er hat keine Bisswunden.«

»Also wann?«

»Keine Ahnung.«

»Habt ihr einmal daran gedacht, dass vielleicht noch mehr von uns infiziert sind?« Steller blickte in erschrockene Gesichter. So wie sie reagierten, waren sie auf diese Idee noch nicht gekommen.

»Ja, das ist möglich«, sagte Fieber. »Wir werden das testen. Aber nicht jetzt.«

»Wie willst du das testen?«

»Denk mal nach.«

Steller sagte nichts mehr. Es gab nur eine Möglichkeit, das herauszufinden. Schönen Dank auch. Schwede war mit Sicherheit infiziert, daran gab es keinen vernünftigen Zweifel. Aber warum brach die Krankheit nicht aus? Wenn es so weit war, wollte er nicht in seiner Nähe sein.

»Jetzt machen wir mal Tempo. Schwede wird als Erster abgeseilt. Wenn er sich auf den Weg macht, einen Rettungswagen zu organisieren, wird der Rest ihm folgen.«

»Warum gehen wir nicht durch den Eingang? Der ist doch wieder frei?«, fragte Katta.

»Der Weg ist zu lang. Außerdem müssen wir davon ausgehen, dass es dort vor Irren nur so wimmelt. Hinten bei der Grünanlage haben wir den Bereich gut von oben im Blick. Wir können ihn von unserer Position aus säubern. Wenn Schwede unten ist, kann er den Rest übernehmen und die ausschalten, die wir übersehen haben. Es bleibt zu hoffen, dass ihr beide mit eurer Theorie recht habt und der Bereich frei bleibt.« Sein Blick wanderte zwischen Steller und Demir hin und her. Das blieb wirklich zu hoffen.

Die Säuberung wurde durch Schippe und Wolf besorgt. Es dauerte keine zwei Minuten und die Grünanlage war frei.

»Wie lange sollen wir warten?«, fragte Wolf.

Steller blickte in den Himmel. »Gar nicht mehr, würde ich sagen.«

Die Blicke wanderten nach oben. Einige der Objekte waren mittlerweile so nah, dass man klare Umrisse erkennen konnte. Sie glichen gigantischen Hinkelsteinen, die in Feuer badeten. Das hatte vor Kurzem noch anders ausgesehen. Das ging ihm alles viel zu schnell. Es war fast unmöglich, ohne Bezugspunkte die Größe, Geschwindigkeit und Entfernung der Dinger abzuschätzen.

»Dann los«, gab Fieber das Kommando. Die Polizisten hatten ein Seil aus einem Rucksack geholt und es am Heizkörper befestigt. Sie ließen das andere Ende in die Tiefe fallen. Die Intensivstation befand sich im vierten Stockwerk. Das Seil endete zwei Meter über dem Boden. Wie hoch mochte das sein? Zwölf Meter? Das klang wenig Angst einflößend, aber als Steller nach unten sah, wurde ihm flau. »Habt ihr kein Klettergeschirr?«

»Nein«, sagte Wolf. »Du wirst dich mit den Händen abseilen müssen.«

Mit den Händen? Das hatte er das letzte Mal in der Grundschule gemacht. Damals wog er fünfundvierzig Kilo und hatte es trotzdem nicht geschafft. Klettern war nie seine Spezialität gewesen. Wie sollte er das mit Anna schaffen? Instinktiv zog er das Mädchen näher zu sich heran. Sie wog geschätzte vierzig Kilo. Zusammen mit seinen einhundert waren das einhundertundvierzig Kilogramm. Das würde er niemals hinbekommen. Er sprach Fieber an. »Ich weiß nicht, ob ich Anna tragen kann.«

Der Kommandoführer sah ihn an, blickte dann zu dem Kind. »Dallas. Schaffst du das?«

»Kein Problem. Ich nehme die Kleine mit. Aber unser großer Freund muss leider alleine klarkommen.«

Steller war erleichtert.

Schwede hatte seinen Auftritt. Er hatte die letzten Minuten alleine auf dem Korridor verbracht. Jetzt kam er herein, trug einen Mundschutz. Alle traten einen Schritt zurück. Schwede sah äußerst unglücklich aus. Wie sollte das erst im Rettungswagen werden?

»Junge, mach sie fertig.« Fieber ging auf ihn zu und nahm ihn demonstrativ in die Arme, klopfte ihm auf die Schulter. Schwede nickte und kletterte auf die Fensterbank. Steller stellte erstaunt fest, mit welcher Geschwindigkeit der Mann sich an dem Seil nach unten hangelte. So ein Dreck. Neben sich hörte er Demir. »Kannst du das?« Die Worte galten Katta.

»Mach dir um mich keine Sorgen. Sieh zu, dass du dir nicht den Hals brichst.«

Den Hals brechen? Steller schluckte. Sie sahen Schwede zu, wie er durch die Grünanlage schlich. Nach kurzer Zeit gab er mit der Taschenlampe das vereinbarte Zeichen. Die Luft war rein. Er würde sich jetzt auf den Weg machen, einen Rettungswagen zu organisieren. Sie hatten kurz darüber diskutiert, ob sie nicht warten sollten, bis Schwede mit dem Fahrzeug zurückkam, um sie zu holen. Es konnte ja sein, dass er es nicht schaffte. Aber man entschied sich dagegen. Erstens mussten sie sowieso hier raus. Und zweitens blieb ihnen nach Eintreffen des RTW kaum noch Zeit zum Abseilen. Denn auch, wenn die Infizierten kein Interesse an Schwede hatten, so galt das nicht für einen nagelnden Dieselmotor.

Steller ging zum Fenster und griff nach dem Seil. Er wollte unbedingt vor Anna unten ankommen. Falls etwas schiefging, konnte sie oben bleiben und befand sich in Sicherheit. Er durfte nicht nachdenken. Die Frage, wie er das Seil am besten griff, verkniff er sich. Einfach machen. Sekunden später hing er draußen an der Wand. Sein Körpergewicht zerrieb die Haut an seinen Handflächen. Er versuchte mit den Beinen das Seil unter ihm zu einer Schlinge zu formen, sich mit dem Fuß einzuhaken. Es gelang ihm nicht. Falls er abstürzte. Wer würde sich um Anna kümmern? Fast hätte er vor Schmerz geschrien. Noch hatte er Kraft. Die sollte er zügig nutzen. Mit Gewalt klammerte er sich fest und ließ sich Stück für Stück nach unten. Schließlich rutschte er ab, fiel zu Boden und versuchte den Aufschlag durch Abrollen abzumildern. Sofort krabbelte er an die Hauswand und hockte sich dort hin. Er hatte es geschafft, auch wenn seine Hände brannten, als ob er sie gebügelt hätte.

Er sah nach oben. Was hatte er eigentlich geschafft? Seine Lage fühlte sich nicht besser an. Er war draußen und würde es bleiben. Nie im Leben könnte er den gleichen Weg zurück nehmen. Das Ganze war eine Einbahnstraße. Er umklammerte die MP fester und starrte in die Dunkelheit. Einer nach dem anderen erreichte den Boden. Dann schmierte einer der Männer ab. Auf halbem Weg verlor er den Halt, schlug mit einem dumpfen Geräusch auf den Boden auf. Steller konnte nicht erkennen, wen es erwischt hatte. So wie es aussah, hatte sich der Mann nicht ernsthaft verletzt. Glück gehabt.

Wie von ihr angekündigt, hatte Katta keine Probleme. Als Letztes war Dallas an der Reihe. Steller sah ihn am Seil hängen, auf seinem Rücken Anna. Sie klammerte sich mit aller Gewalt an ihm fest. Mein Gott, die war doch viel zu schwer für ihn. Da irrte er. Dallas kletterte das Seil hinab, als würde ein Schmetterling auf seiner Schulter sitzen. Nach wenigen Sekunden hatte er es geschafft. Anna suchte Steller. Als sie ihn sah, lief sie sofort zu ihm und kauerte sich neben ihn. Steller gab ihr mit Handzeichen zu verstehen, dass sie leise sein sollte. Sie nickte. Es war totenstill. Die Minuten vergingen. Schwede hatte es nicht geschafft. Und jetzt? Wie lange sollten sie warten? Das Ganze war eine blöde Idee gewesen.

Dann hörte Steller das Brummen eines Dieselmotors. Es kam Bewegung in die Gruppe. Er stand auf und versuchte etwas zu sehen. Das Motorengeräusch wurde lauter. Mein Gott, machte der Lärm. Ein Rettungswagen mit ausgeschalteten Scheinwerfern kam um die Ecke geflogen, holperte über den Bürgersteig und walzte einige Büsche platt. Steller sah, dass die Heckklappe geöffnet war. Die Türen flogen hin und her.

»Tempo!« Fiebers Schrei ließ Steller zusammenzucken. Aber natürlich war das jetzt egal, mittlerweile wussten alle Monster in weitem Umkreis, wo die Party stieg. Er griff Annas Hand. »Wenn der Krankenwagen hält, springst du sofort hinten rein.«

»Du kommst mit. Wenn du nicht kommst, springe ich wieder raus.« Steller zweifelte nicht daran, dass sie das genau so meinte. Schwede trat auf die Bremse, brachte den RTW zum Halten. Sofort sprang er nach draußen, ließ den Motor laufen. Er lief in die Richtung, aus der er gekommen war, die MP im Anschlag. Augenblicke später verstand Steller, warum. Die Infizierten hatten das Fahrzeug verfolgt und kamen ebenfalls um die Ecke gerannt. Der SEK-Mann eröffnete das Feuer. Auch aus einer anderen Richtung knallten Schüsse. Die Viecher kamen von überall.

»Lauf!« Als Steller das rief, rannte er bereits und zog Anna mit sich. Schippe erreichte als Erster den Rettungswagen. Er nahm im Bereich der Heckklappe Aufstellung und feuerte in dieselbe Richtung wie Schwede. Steller und Anna erreichten das Heck des Fahrzeuges. »Rein mit euch!«

Steller griff Anna unter die Arme und warf sie förmlich in das Fahrzeug. Dann sprang er hinterher. Der Wagen wackelte und er hörte Türen schlagen. Die Fahrerkabine war besetzt worden. Das mussten Wolf und Fieber gewesen sein. »Halt dir die Ohren zu!«, schrie er Anna an. Dann brachte er die Maschinenpistole in den Anschlag und begann zu schießen. Einen wirklichen Grund dafür hatte er nicht. Aufhalten ließ sich der Strom nicht. Dallas sprang in den RTW. Dann folgte Schippe. Steller wurde nach hinten gedrängt, klebte jetzt unter der Plexiglasscheibe zum Fahrerraum. Demir und Katta hatten es ebenfalls geschafft. Schwede hörte auf zu schießen, drehte sich um und rannte zum RTW. In diesem Moment ruckte es. Der Fahrer gab Vollgas. Steller verlor das Gleichgewicht, flog gegen die Fahrerkabine und schrie: »Schwede ist noch draußen!« Er hämmerte mit den Fäusten gegen die Scheibe, blickte dabei nach hinten. Die Flügeltüren des RTW waren noch immer geöffnet. Steller sah Schwede, wie er aufhörte zu rennen und ihnen nachsah. Der RTW bog ab. Alle wurden durcheinander gewürfelt. Nachdem sich Steller einigermaßen im Raum sortiert hatte, musste er feststellen, dass er Fieber erneut völlig falsch eingeschätzt hatte. Das nannte man Risikominimierung.