4. Drogen
Markus Steller
Das Frankfurter Polizeipräsidium erinnerte an einen umgekippten Dominostein. Statt in die Höhe hatte man das Gebäude in die Fläche gebaut. Es besaß sechs Stockwerke und war dabei zweihundertvierzig Meter lang und einhundertvierzig Meter breit. Für den menschlichen Orientierungssinn war es ein ungeeignetes Bauwerk. Dem Auge fehlten die Referenzpunkte. Alles sah gleich aus. In den endlosen Gängen reihte sich eine Tür an die nächste. Steller konnte nicht zählen, wie oft er in den letzten Jahren in die falsche Amtsstube geplatzt war. Käfighaltung für Beamte.
Er verließ im dritten Stock den blauen Fahrstuhl und lief den Flur in Richtung Befehlsstelle hinunter, hastete fast an der Tür vorbei. Den Architekten sollte man nach Sibirien verbannen. Steller hielt seinen mit einem Chip versehenen Dienstausweis gegen das Lesegerät, bis das Schloss der Tür klickte. Er folgte dem Korridor einige Meter und betrat einen Nebenraum der Befehlsstelle. Ein schmuckloser Schuhkarton. In der Mitte standen Einzeltische zu einem Rechteck zusammengeschoben, die Wanduhr zeigte 17:35 Uhr. Auf eine Leinwand projizierte ein Beamer das Bild eines Asiaten. Klein, hässlich, um die sechzig Jahre alt, mit einer ungeheuren Warze auf der rechten Wange. Darunter stand ein Name mit unnatürlicher Vokalhäufung. Yoon Hyeonwoo. Unter dem Porträt der vermeintlichen Zielperson saß ein einzelner Mann auf einem Bürostuhl. Steller fiel auf, dass der Kollege trotz der Hitze gegen jede Vernunft in einen Anzug verpackt war. Sein Hemdkragen war streng geschlossen, um den Hals wickelte sich eine Krawatte. Wasser lief in alle Richtungen von seiner Glatze hinab. Ständig tupfte er mit einem Tuch in seinem Gesicht herum, versuchte damit das Schlimmste zu verhindern. Dafür, dass Markgraf von einer großen Sache geredet hatte, war auffallend wenig Betrieb.
»Sie sind der Kollege von der Fahndung, nehme ich an.«
»Ja. Und Sie?«
Der Schwitzende ging einen Schritt auf ihn zu, streckte sich, um ihm die Hand zu reichen. »Fassbender. BKA. Ich bin für die Koordinierung zuständig. Interpol, Bundeskriminalamt, Landespolizei.«
Steller nickte. »Und BND.«
»Nicht offiziell.«
»Wo ist Markgraf?«
»Hier.«
Steller drehte sich um. Hinter ihm stand Kriminaloberrat Markgraf. Der Graf, wie er genannt wurde, war ungewohnt leger gekleidet. Er wirkte wie der schlampige Zwilling von Fassbender. Ebenfalls Glatze, gleiches Alter und Größe, aber in kurzer Hose mit Sandalen an den Füßen und ungekämmten Haaren. »Die haben mich aus dem Garten geholt. Vom Unkraut jäten.« Markgraf setzte sich an den Besprechungstisch.
»Meine Herren, die Zeit drängt.« Der BKA-Kollege zeigte sich unausgeglichen.
»Kommt sonst keiner mehr?«, wollte Steller wissen.
»Die Sachlage ist delikat. Darum möchte ich das im engsten Kreis besprechen.« Fassbender wischte sich mit einem Taschentuch Schweiß aus dem Gesicht. »Man hat mir versichert, dass Sie der richtige Mann für die Aufgabe sind.« Er schielte zu Markgraf hinüber. Der zeigte keine Reaktion.
Steller bemerkte den Blick. »Gab es Bedenken gegen meine Person?«
Markgraf schüttelte den Kopf. »Nicht direkt. Aber es erschien unkonventionell, Sie aus dem Krankenstand zu holen.«
»Machen Sie sich um mich keine Sorgen.«
»Lassen wir das.« Fassbender deutete auf das Bild des Asiaten, das hinter ihm auf der Leinwand klebte. »Der Mann ist ein gesuchter Waffenhändler. Seine Vita vorzutragen erspare ich mir. Ein Personagramm liegt auf dem Tisch.« Steller blätterte in der Mappe. Ein tabellarischer Lebenslauf samt Aufstellung krimineller Glanzleistungen. »Gegen ihn besteht ein internationaler Haftbefehl. Sollte die Festnahme gelingen, ist mit der Auslieferung an die USA zu rechnen.«
»Was wird ihm konkret vorgeworfen?« Steller legte den Schnellhefter zurück.
»Er hat über zweihundert amerikanische Boden-Luft-Raketen an Nordkorea verkauft.«
Steller verzog das Gesicht. Ein Südkoreaner, der amerikanische Raketen an Nordkorea verkauft. Interessante Persönlichkeit.
»Das nahmen ihm die Amis sicher übel«, sagte Markgraf.
»Das kann man sagen. Mittlerweile klebt jeder westliche Geheimdienst an seinen Fersen. Wir wissen, dass er sich derzeit in der Stadt aufhält. Vermutlich ist er in einem hochpreisigen Hotel abgestiegen. In welchem ist nicht bekannt. Er gibt sich als Topmanager des Autokonzerns Toyota aus und wird von Leibwächtern begleitet. Es ist davon auszugehen, dass wir nur den heutigen Tag haben, um ihn zu fassen. Morgen will er Deutschland verlassen.«
»Es gäbe noch eine Reservechance am Flughafen«, warf Markgraf ein.
»Wenn er denn fliegt«, sagte Steller.
»Das ist zwar wahrscheinlich, aber wir wissen es nicht.« Fassbender zog an seiner Krawatte. »Der Flughafen ist Plan B. Besser wir erwischen ihn hier.«
»Haben wir den Namen, unter dem er reist?« Steller zog einen Kugelschreiber aus seiner Hosentasche.
»Nein.«
»Was wissen wir über die Leibwächter?«
»Möglicherweise ehemalige Fremdenlegionäre. Vier Mann.«
Steller kritzelte auf seinen Block. »Fremdenlegionäre? Ist das gesichert?«
»Nein. Aber Sie müssen davon ausgehen.«
»Das ist kein Kinderspiel. Dafür brauche ich Spezialkräfte.«
»Bekommen Sie«, sagte Markgraf. »Das SEK Kassel ist alarmiert.«
»Warum nicht das SEK Frankfurt?«
»Die sind in einem anderen Einsatz gebunden.«
»Wie soll der Zugriff stattfinden? Besondere Wünsche? Anregungen?«
»Möglichst wenig Tote.« Markgraf grinste.
»Ist notiert.« Steller wendete sich an Fassbender. »In der Mappe befinden sich Bilder der Zielperson. Wie sieht es mit den Leibwächtern aus?«
»Haben wir nicht.«
»Gut. Wir werden versuchen, ihn zu lokalisieren. Falls machbar, führen wir den Zugriff im Hotel durch. Die Details kläre ich, wenn ich die taktischen Gegebenheiten vor Ort kenne. Vielleicht müssen wir ein Stockwerk unter Legendenbildung räumen.«
Markgraf nickte.
»Sind wir so weit?« Fassbender sah von einem zum anderen.
Steller warf den Kugelschreiber auf den Tisch. »Warum ist außer uns niemand hier? Kein Führungsstab, kein gar nichts? Die Sache ist delikat, sagen Sie. Das reicht nicht als Erklärung.«
Markgraf lehnte sich zurück. »Weil wir befürchten, dass die Aktion verraten wird.«
»Wer sollte das verraten? Ich kann mir nicht vorstellen, dass es im Präsidium jemanden gibt, der Verbindungen zu einem koreanischen Waffenhändler besitzt. Das ist weltfremd.«
Markgraf und Fassbender tauschten einen Blick aus. »Da gebe ich Ihnen recht«, sagte Fassbender. Er wirkte unangenehm berührt. »Herr Markgraf. Vielleicht sollten Sie das erklären.«
»Wir haben ein anderes Problem«, begann Markgraf. »Es gibt seit einiger Zeit ein Informationsleck. In Richtung Presse. Falls die Festnahme fehlschlägt, möchten wir nicht, dass die Zielperson morgen am Flughafen in der Zeitung liest, dass wir nach ihr fahnden.«
Steller glaubte zwar nicht, dass ein südkoreanischer Waffenhändler die Frankfurter Allgemeine Zeitung las, aber er gab sich zufrieden. Das eigentliche Problem lag sicherlich in der unglücklichen Verbindung von Geheimdiensten und Polizei. Hierzulande durften die Dienste per Gesetz nicht mit der Polizei zusammenarbeiten. Sollte es doch geschehen, musste man sich etwas einfallen lassen, um die Kooperation zu vertuschen. Außerdem würden die den Typen wahrscheinlich direkt in ein Flugzeug schmeißen und zu einem amerikanischen Flugzeugträger im Mittelmeer verlasten, um ihn dort unter Zuhilfenahme von Waterboarding zu befragen. Dafür brauchte man keine Zeugen. Aber das war nicht sein Problem. Es interessierte ihn nicht. Sollten sie dem Kerl seinetwegen das Fell über die Ohren ziehen.
Die Besprechung war beendet.
Steller lief mit schnellen Schritten durch die endlosen Gänge des Präsidiums. Er hatte noch etwas in eigener Sache zu erledigen und befand sich in Zeitnot. Per Handy informierte er seine Jungs, leitete die ersten Fahndungsmaßnahmen ein. Er hatte ein SEK mit über dreißig Beamten sowie zehn Kollegen der Fahndung zur Verfügung. Damit ließ sich arbeiten. Die Strategie folgte simplen Regeln. Zielperson lokalisieren, observieren, Spezialkräfte heranführen, Zugriff freigeben, Applaus. Die Zielperson zu finden sollte unproblematisch sein. Manager von Toyota, Asiat, europäische Bodyguards, hochpreisiges Hotel. Keine halbe Stunde würde das dauern. Die Probleme lagen im Bereich der Taktik. Die Leibwächter waren gefährlich. Steller konnte den Wahrheitsgehalt der Informationen nicht beurteilen. Sollten sie stimmen, dann hatte er ein Problem. Fremdenlegionäre waren keine Kleinkriminellen aus dem Nachbarblock. Die Herausforderung lag in einem geordneten Zugriff ohne Schießerei. Keine verletzten Passanten, keine ekeligen Schlagzeilen. Steller erinnerte sich an Zeiten, da hätten ihm solche Aufträge gefallen. Verbrecher jagen, Risiko eingehen, Stress aushalten. Alles lange her. Nachdem er das halbe Präsidium durchquert hatte, erreichte er sein Ziel.
Die Asservatenkammer war ein trauriger Ort. Die Belegschaft ein Sortiment von Alkoholikern und ausgebrannten Einzelschicksalen. In regelmäßigen Abständen erschienen Kollegen der Fachkommissariate, trugen große und kleine Wäschekörbe vor sich her. In den Körben Haufen von durchsichtigen Plastiktüten. In jeder Tüte ein Asservat. Handys, Einhandmesser, schriftliche Unterlagen, Schachbretter, Steine, Glassplitter, ein abgerissener Telefonhörer.
Die Angestellten der Asservatenverwaltung nahmen die Tüten entgegen, vermerkten die nötigen Daten in dickleibigen Büchern. Räumten Schicksale in Regale ein. Dann der umgekehrte Weg. Die Kollegen kehrten zurück, verlangten nach bestimmten Beweismitteln. Interessanterweise stellte sich oft heraus, dass welche fehlten, obwohl sie zuvor ordnungsgemäß erfasst worden waren. Die Asservatenkammer verhielt sich wie eine sockenfressende Waschmaschine. Daher war sie für Steller der richtige Ort um sich etwas Koks zu besorgen. Mittlerweile lief die Fahndung. Er hatte nur wenig Zeit, dann müsste er hinterher. Mit oder ohne Koks.
In der Asservatenkammer saß nur der alte Burgsmüller. Das rotgesichtige Männchen soff den ganzen Tag heimlich Kräuterschnaps. Hielt es für eine geniale Idee, vor sich auf den Tresen eine geöffnete Tüte mit Hustenbonbons zu legen, in die er unablässig die Finger steckte. Als könne man den Alkoholiker vor lauter Wald nicht mehr riechen. Dabei war Leugnen zwecklos. Die Sucht ließ sich nicht verbergen. Die Nase rot geädert, sein Gang wie bei einem Storch. Jeden Schritt setzte er mit Bedacht, als sei der Boden voraus eine mit Papier bezogene Tigerfalle.
Steller grüßte ihn. »Ich muss ein Asservat suchen. Hast du was dagegen, wenn ich selber nachsehe?«
Burgsmüller hatte nie etwas dagegen. Er freute sich, wenn er sich nicht bewegen musste. Sein Körper zitterte, der Kopf wippte auf einer unsichtbaren Feder, wie bei einem Wackeldackel. Steller wollte hinter den Tresen verschwinden, als sich die Tür öffnete. Eine Horde Kollegen kam herein. Sie diskutierten lautstark. Steller drehte ab. Solange die hier herumlungerten, konnte er nichts machen. Zeit hatte er keine. So eine Scheiße. Die sollten in ihre Büros gehen und Puddingbrezel fressen. Das taten die ansonsten doch auch den ganzen Tag lang.
Fluchend machte er sich auf den Weg nach draußen. Auf dem Parkplatz wartete Wilczek auf ihn. »Wohin jetzt?«, wollte Wilczek wissen, als Steller einstieg.
»Bahnhofsgebiet.«
»Was willst du da?«
»Etwas zu essen kaufen.«
»Warum ausgerechnet z ...«
»Junge. Fahr mich jetzt dahin.«
Wilczek zog die Augenbrauen hoch, startete den Motor. Nach kurzer Fahrt gerieten sie auf dem Reuterweg in stockenden Verkehr. Steller schaltete das Radio ein. Eine Korrespondentin, die klang, als sei sie per Telefon mit dem Sender verbunden, sprach in Sätzen, die sich gegenseitig jagten. »... ist es völlig unklar, was zurzeit in China passiert. Die Informationen über massive Ausschreitungen in Peking und anderen Metropolen des Landes sind nicht gesichert. Stellungnahmen von offizieller Seite gibt es nicht. Dies ist für die Volksrepublik an sich nicht ungewöhnlich. Wir kennen das aus früheren Krisen. Fast alles, was wir derzeit an Informationen haben, stammt aus der Bloggerszene. Wenn man diese Meldungen zu einem Ganzen zusammensetzt, sind sie äußerst beunruhigend. Alleine in Tianjin soll es mehrere tausend Tote gegeben haben.«
»Was ist da los?« Steller drehte die Lautstärke des Radios hoch. Wilczek zuckte mit den Achseln.
»Danke an Helga Ritter. Wir werden im Laufe unserer Sendung weiterhin über die aktuellen Ereignisse in China berichten. Aber jetzt brauchen wir alle etwas Musik. Die neue CD von ...«
Steller schaltete das Radio aus. Egal. Er musste sich auf andere Dinge konzentrieren als auf durchgeknallte Chinesen. Sie bogen in die Taunusstraße ein. Steller hasste das Bahnhofsgebiet. Auch wenn er Freunde in der Szene hatte, war es der denkbar schlechteste Ort um sich Drogen zu beschaffen. Aber der Druck stieg weiter, drängte ihn das Risiko zu erhöhen. Steller gab Wilczek zu verstehen, dass er anhalten solle und sprang aus dem Wagen. »Bin gleich zurück.« Er musste dringend den Tag aus seinem Kopf schmeißen.
Hungerhaken stand an derselben Ecke wie immer. Der Junkie maß fast zwei Meter und wog weniger als ein Glas Wasser. Sie einigten sich ohne Worte im Vorbeigehen. Hungerhaken ging auf die Toilette im McDonalds, hinterlegte ein Briefchen mit Koks in einem Mauerspalt. Als der Junkie wieder draußen auftauchte, ging Steller auf die Toilette. Er fingerte das Papier aus dem kaputten Putz und deponierte an dessen Stelle einen Fünfzigeuroschein. Hungerhaken würde sich das Geld holen und damit das Geschäft beenden.
Steller ging in einen Dönerladen, bestellte sich was zu essen und verschwand kurz in der Toilette. Vorsichtig schüttete er etwas Koks auf seinen linken Handrücken, zog sich das Pulver in die Nase. Die Welt erstrahlte in angenehmen Farben. Er sah auf die Uhr. Es war 18:46 Uhr. Fünf Minuten später saß er mit einem in Alufolie umwickelten Döner bei Wilczek im Wagen.
»Und? Hast du, was du brauchst?«
Steller wusste nicht, ob die Frage so doppeldeutig gemeint war, wie sie klang. »Ja.«
»Dann kann die Party ja losgehen. Übrigens. Die Jungs haben den Typen gerade gefunden.«