5. Grün, Grün, Alpha

 

Aila Torbeck

 

Torbeck brachte die einhundert Kilometer bis zum Stuttgarter Flughafen zügig hinter sich. Einige Minuten, nachdem sie im Parkhaus einen Stellplatz gefunden hatte, legte sie am Schalter ihr Ticket vor. Es war 15:00 Uhr, bis zum Boarding blieb ihr eine halbe Stunde. Da sie kein gewöhnlicher Passagier war, hatte sie noch etwas Zeit. Sie mochte Flugzeuge nicht und wollte erst im letzten Moment einsteigen. Im Terminal herrschte Hochbetrieb. Ziellos schlenderte sie in der zweihundert Meter langen Halle herum. Seit Kurzem wurde der Flughafen von asiatischen Airlines angeflogen. An dem Schalter der Air India hatte sich eine erregte Gruppe versammelt. Sie besah sich das Spektakel. Mehr als hundert Menschen zogen einen engen Halbkreis um die Tresen. Die Schalter wurden von zierlichen Frauen in dunkler Uniform verteidigt, die sich bemühten, den auf sie einprasselnden Ärger wegzulächeln. Als Torbeck nahe genug herangekommen war, bekam sie den Grund für die Aufregung mit. Ein Langstreckenflug nach Indien wurde gecancelt.

»Es tut mir leid, mein Herr«, sagte eine der Schalterdamen. »Die Maschine kann nicht starten, wenn keine Verbindung zur Flugsicherung in Goa besteht.«

Torbeck fragte eine Frau, was geschehen sei. »Angeblich haben Flugzeuge, die sich im Anflug auf Goa befanden, gemeldet, dass sie keinen Kontakt mit dem Flughafen herstellen konnten.«

»Sie meinen, mit dem Tower?«

»Womit auch immer«, sagte die Frau gereizt und setzte sich auf ihren Koffer. »Bis man weiß, was da los ist, sind alle Flüge gestrichen.«

Torbeck ging weiter. War schon sehr ärgerlich, wenn der Jahresurlaub auf diese Weise begann. Da war es von Vorteil, wenn man an die Ostsee reiste.

Ihr Handy klingelte. Sie sah auf das Display, aber der Anrufer hatte seine Nummer unterdrückt. Sie nahm das Gespräch an. »Hasborn.« Der Bass des korpulenten Staatssekretärs brachte den Lautsprecher ihres Handys zum Scheppern.

»Was kann ich für Sie tun?«

»Sehen Sie es mir nach. Aber ich komme gleich zur Sache. Unsere Hinrichtung wurde verschoben.«

»Die Anhörung fällt aus?«

»So ist es.«

»Weshalb?«

»Es gibt Probleme in Asien. Es wird gerade ein Krisenstab gebildet. Näheres weiß ich noch nicht. Wir befinden uns noch in der chaotischen Aufbauphase. Die Lage ist komplex.«

»Verstehe. Gibt es bereits einen Ausweichtermin?«

Er lachte. Es klang wie die Fehlzündung eines Motorrades. »Haben Sie es so eilig? Nein, da gibt es nichts. Ich muss jetzt Schluss machen. Haben Sie einen schönen Tag.«

Torbeck steckte das Handy weg. Wenigstens hatte sie der Anruf noch vor dem Boarding erreicht. Da sie nur mit Handgepäck reiste, konnte sie den Flug problemlos ausfallen lassen. Sollte sie sich jetzt darüber freuen? Aufgeschoben war nicht aufgehoben. Nein, es wäre besser gewesen, die Sache hinter sich zu bringen. Sie informierte das Schalterpersonal über ihre geänderten Reisepläne und machte sich auf den Weg zu ihrem Auto. Auf ihrem Weg aus dem Terminal fiel ihr Blick auf eine Anzeigetafel. Ein Drittel aller Fernflüge war gecancelt. In der Halle breitete sich eine nervöse Stimmung aus. Nachdenklich ging Torbeck ins Parkhaus zurück. Wenig später lenkte sie ihren Wagen auf die Autobahn in Richtung Karlsruhe. Der Verkehr war entspannt und sie kam gut voran. Ihr Magen meldete sich mit einem Knurren. Erst jetzt fiel ihr auf, dass sie den ganzen Tag nichts gegessen hatte. Auf der A8 verließ sie die Autobahn an einer Raststätte, kaufte sich ein Sandwich für unverschämte fünf Euro. Zurück im Auto nahm sie ihr Satellitentelefon und rief Wiegner an.

»Was ist los? Ich dachte, du fliegst nach Berlin.« Wiegner war überrascht.

»Das dachte ich auch. Aber dann habe ich einen Anruf bekommen. Der Untersuchungsausschuss hat sich vertagt.«

»Warum?«

Torbeck wiederholte, was Hasborn ihr gesagt hatte.

»Was für eine Krise soll das denn sein?«

»Ich kann dir nicht mehr sagen. Allerdings sind am Flughafen mehrere Flüge nach Asien ausgefallen. Besonders Indien scheint betroffen.«

»Gibt es da einen Zusammenhang?«

»Keine Ahnung. Ich sollte wohl das Radio anschalten, aber im Moment steht nicht der Sinn nach solchen Dingen.«

»Vielleicht hat Indien China den Krieg erklärt. Die sind nicht gerade befreundet.«

»Jetzt mal bitte nicht den Teufel an die Wand.«

»Teufel und Wand sind gute Stichwörter. Ich schicke dir ein Bild auf dein Handy.« Was denn für ein Bild? Torbeck konnte hören, wie ihr Stellvertreter mit seinem Handy hantierte. »Warte, ich habe es gleich. Ist das jetzt eine gute oder eine schlechte Nachricht? Ich meine, das mit dem Ausschuss.«

»Ich denke, es wäre besser gewesen, das zu einem Ende zu bringen.«

»Wo bist du jetzt?«

»Im Moment stehe ich an einer Raststätte auf der A8. Soll ich noch zur Übung kommen? Ich denke, ich kann das noch schaffen.«

»Das ist nicht nötig. Fahr nach Hause und ruhe dich aus. Frauen in deinem Alter brauchen ihren Schlaf.«

Torbeck lachte. Sie musste immer lachen, wenn Wiegner dumme Bemerkungen über ihr Alter machte. Eigentlich seltsam. Er selbst war fünfundvierzig und die Haare gingen ihm aus. Grund zum Spotten gab es da nicht viel.

»Danke, Karl.«

»Ich wusste, dass es dir gefällt, wenn ich über dein Alter lästere.«

»Das meine ich nicht.«

»Jetzt habe ich es.«

»Was?«

»Das Bild.«

Wenige Sekunden später machte sich ihr Smartphone mit einem Dreiklang bemerkbar. Sie kramte es aus ihrer Handtasche. »Was soll das sein?« Es sah wie die Fotografie einer gravierten Metalltafel aus.

»Lies es.«

Torbeck vergrößerte das Foto und las laut vor:

»Durch mich geht man hinein zur Stadt der Trauer,

Durch mich geht man hinein zum ewigen Schmerze,

Durch mich geht man zu dem verlornen Volke.

Gerechtigkeit trieb meinen hohen Schöpfer,

Geschaffen haben mich die Allmacht Gottes,

Die höchste Weisheit und die erste Liebe.

Vor mir ist kein geschaffen Ding gewesen,

Nur ewiges, und ich muss ewig dauern.

Lasst, die ihr eintretet, alle Hoffnung fahren!

– Inschrift auf dem Tor zur Hölle, dritter Gesang, Vers 1–9«

»Das ist das neue Klingelschild von ZERBERUS.«

»Wie bitte?«

»Weißt du, was du da gelesen hast?«

»Nein.«

»Das ist aus der Göttlichen Komödie von Dante Alighieri. Bei ihm hängt dieser Spruch am Tor zur Hölle. Die haben heute diese Tafel am Eingang zu diesem Monster aufgehängt. Ist das nicht völlig bescheuert?«

»Es stützt aber deine Theorie, dass sie ein Tor zur Hölle gebaut haben«, sagte Torbeck spöttisch.

»Jetzt aber mal im Ernst. Die sind doch völlig irre. Nennen einen Computer nach dem Hund, der den Eingang zur Hölle bewacht und dann hängen die auch noch dieses Schild auf.«

»Das ist Nerd-Humor.«

»Ich sag dir was. Dieser Monstercomputer ist mir unheimlich.«

»Mach dich nicht verrückt. Das sind nur Kinder.«

»Kinder mit einem milliardenteuren Spielzeug. Ich muss jetzt auflegen. Tut mir leid, aber wir haben ein kleines Problem.«

»Was Ernstes?«

»Eher etwas Nerviges.« Er lachte.

»In Ordnung. Bis morgen, Karl.«

Torbeck legte das Handy weg und startete den Motor. Sie hatte tatsächlich das Gefühl, dass Karl Angst vor dem Computer hatte und sie musste gestehen, dass die Anlage auch ihr unheimlich war. ZERBERUS war in der Ebene Null des Forschungskomplexes installiert, die Halle war fast so groß wie ein Fußballfeld und unterkellerte den gesamten Komplex. Als Torbeck vor einigen Monaten von einer Siemens-Mitarbeiterin durch die Reihen von Regalwänden geführt worden war, hatte ihr der Atem gestockt. ZERBERUS war der mit Abstand gewaltigste Supercomputer der Welt. Neuronales Netzwerk, atomare Transistoren, quantenelektronische Bauelemente, stickstoffgekühlt, in vielen Bereichen mit Hilfe von supraleitenden Keramikverbindungen realisiert. Allen anderen Anlagen war er wenigstens zehn Jahre voraus. Über Jahrzehnte hatten Supercomputer in Deutschland kaum eine Rolle gespielt. Und dann das. Natürlich fragten sie sich beide, wozu man eine solche Rechenkraft brauchte. Zunächst brachte Wiegner den Film War Games ins Spiel. Dann äußerte Torbeck die Idee, dass der Computer das Internet überwachen sollte. Aber zu dieser Hypothese passte nicht, dass ein gewaltiges biologisches Forschungslabor in die Anlage integriert wurde. Am Ende des damaligen Abends war Wiegner felsenfest davon überzeugt gewesen, dass man mit der Maschine ein Tor zur Hölle erschaffen wollte. Torbeck war sich bis heute nicht ganz sicher, ob er das nun tatsächlich ernst meinte. Vermutlich nicht. Andererseits. Dieses Schild am Eingang machte ihn scheinbar nervös.

Nachdem Torbeck die Autobahn verlassen hatte, geriet sie nach einigen Kilometern auf der Landstraße in einen Stau. In den Ausläufern des Schwarzwaldes gab es nichts, was dieses Chaos rechtfertigte. Torbeck machte den Motor aus und verließ den Wagen. Die Straße vor ihr schnitt durch den Wald, geriet nach zweihundert Metern in einer Linkskurve außer Sicht. Bis zu dieser Kurve überblickte sie die Lage. Sie sah nur Autos. Eines nach dem anderen, in wechselnden Farben und Modellen. Eine Perlenkette, die nach links abknickte, zwischen den Bäumen verschwand. Die meisten der Mitleidenden hatten ihre Motoren abgestellt. Einige lehnten an ihren Fahrzeugen, rauchten, liefen mit einem Handy am Ohr Gräben in den Asphalt.

Torbeck fiel auf, dass es keinen Gegenverkehr gab. Sicher eine Vollsperrung. Konnte nur ein Unfall sein. Sie beobachtete einen Mann in ihrer Nähe, der auf der unbenutzten Gegenfahrbahn in einer Spirale herumlief. Die Kreise, die er zog, wurden immer enger. Bald würde er Pirouetten drehen. Er gestikulierte wild. Sie hörte, wie er seinem Gesprächspartner erklärte, dass er mitten im Nichts stand, praktisch ohne Netz. Ein ums andere Mal brach die Verbindung ab, sodass der Mann auf das Display starrte, fluchte, es erneut versuchte.

Torbeck setzte sich wieder in den Wagen. Sie startete den Motor und ließ die Klimaanlage laufen. Es war ansonsten unerträglich. Sie gab dem Radio eine Chance. Aber der Empfang zwischen den bewaldeten Hügeln war miserabel. Für einen kurzen Moment gelang es ihr einen Sender reinzukriegen. »... dass Tel Aviv die General ...« Das war alles. Der Rest war Rauschen. Sie probierte, mit dem Satellitentelefon ihre Tochter anzurufen. Der große Vorteil war, dass man damit fast überall Empfang hatte. Sie ließ es einige Male ohne Erfolg klingeln. Katta vergaß ihr Telefon gerne. Jedes Mal musste sie ihre Tochter daran erinnern, das Satellitentelefon mitzunehmen. Katta hasste es, das klobige Gerät zusätzlich zu ihrem Handy mit sich herumzuschleppen. Torbeck wählte die Nummer von Kattas Smartphone. Auch da nahm sie nicht ab. Torbeck legte das Telefon beiseite, drehte ihren Sitz zurück und schloss die Augen.

 

Geräusche weckten sie aus ihrem Dämmerschlaf. Ein Blick auf die Uhr zeigte ihr, dass fast eine Stunde vergangen war. Auf der Gegenfahrbahn gab es Betrieb. Zwei Krankenwagen rauschten heran, gefolgt von einem Notarzt- und einem Streifenwagen. Der Konvoi schoss mit aberwitzigem Tempo an ihr vorbei. Da musste es richtig gekracht haben. Fünf Minuten später folgten die ersten Privatfahrzeuge. Die Straße war frei, das gab Hoffnung. Es dauerte noch einige Minuten, bevor sich die Autoschlange vor ihr in Bewegung setzte. Zunächst ging es stockend voran. Endlich konnte sie in den zweiten Gang schalten. Nach einigen Kurven erreichte sie die vermeintliche Unfallstelle. Ein dunkler Kleintransporter stand von der Straße geschoben halb im Wald. Einen Unfallschaden konnte sie an dem Fahrzeug nicht erkennen. Auf dem Boden lagen drei weiße Tücher. Es dauerte, bis Torbeck realisierte, dass sie Menschen verdeckten. An einem Streifenwagen lehnte ein Polizist, die Hände auf die Knie gestützt. Torbeck passierte die Stelle, froh, dass sie sich nicht weiter mit der Szene auseinandersetzen musste.

Die Verkehrslage beruhigte sich nicht wirklich, führte sie aber ohne erneute Zwischenfälle nach Hause. Als sie Winterburg durchquerte, bemerkte sie, ungewöhnlich viele Menschen auf den Straßen. Heute sollte ein neues Gemeindezentrum eröffnet werden. Wahrscheinlich würde sich das Ganze zu einem kleinen Volksfest entwickeln. Sie als Außenseiterin brauchte sich dort gar nicht erst blicken lassen. Die Eingeborenen musterten sie bereits mit besorgten Blicken, wenn sie beim Bäcker Brötchen kaufte. Nicht auszuschließen, dass sich die Leute bekreuzigten, wenn sie den Laden verließ.

Sie stellte den Audi in ihrer Auffahrt ab, ging ins Haus, betrat die Küche und goss sich einen Tee auf. Kurz dachte sie daran, den Fernseher einzuschalten, nahm Abstand davon. Sie fühlte sich unruhig, hektische bunte Bilder schienen da schädlich. Stattdessen stellte sie sich vor das Bücherregal, überlegte gerade, was sie lesen könnte, als das Haustelefon klingelte.

»Hallo Mama.«

Ein Lichtblick. »Hallo Katta, wie geht‘s dir? Alles in Ordnung?«

»Mir geht es gut. Ich bin bei Laura und wir gehen gleich in die Stadt. Ein bisschen feiern.«

»Na, dann viel Spaß. Wie bist du angekommen?«

»Gut. Der Zug hatte Verspätung. Tut mir leid, dass ich mich gestern nicht mehr gemeldet habe.«

»Ist nicht schlimm. Hauptsache, es ist alles in Ordnung. Wie ist dein Plan? Ich meine, außer feiern zu gehen.«

»Morgen treffen wir uns mit Freunden von Laura. Die studieren Jura. Mal sehen, was die so sagen. Am Montag setze ich mich mal probeweise in eine Vorlesung rein.«

»Okay.«

»Mama?«

»Ja.«

»Hast du nicht heute deine Anhörung?«

»Die ist ausgefallen.«

»Ist das gut oder schlecht?«

»Weder noch. Mach dir keine Gedanken.«

Im Hintergrund rief eine Mädchenstimme. »Tut mir leid, Mama. Laura will jetzt los.«

»Kein Problem. Pass auf dich auf.«

Es hatte Torbeck beruhigt, mit ihrer Tochter gesprochen zu haben. Sie ging zurück zum Bücherregal, nahm sich ein Buch und legte sich im Wohnzimmer auf die Couch. Schon nach wenigen Seiten begannen die Buchstaben zu tanzen. Sie legte das aufgeschlagene Buch auf ihrer Brust ab. Nur für einen Augenblick. Dann schlief sie ein.

 

Sie hatte einen angenehmen Traum. Zusammen mit Katta picknickte sie in ihrem Garten. Das Einzige, was die Idylle störte, war eine nervtötende Wespe, die summend um ihren Kopf flog und nicht zu vertreiben war.

Als sie die Augen wieder öffnete, war es dunkel. Der Mond glänzte silbern durch das Fenster, überzog alles mit einem grafitfarbenen Schleier. Hatte sie nicht das Licht angelassen? Das Satellitentelefon wanderte vibrierend über den Tisch. Sie griff danach und nahm das Gespräch an. »Torbeck?« Ihre Stimme schlief noch.

 

»Achtung! ... Achtung! ...

Dies ist eine automatische Ansage für ...

Generalmajor Aila Torbeck.

Legitimieren Sie sich.

 

Achtung ! Achtung! ...

Dies ist eine automatische Ansage für ...

Generalmajor Aila Torbeck.

Legitimieren Sie sich.«

 

»Torbeck«, meldete sie sich erneut. Wo war sie? Unbewusst gab sie ihren Code in das Telefon ein, kniff die Augen gegen die Beleuchtung des Displays zusammen.

 

»Es ist Alarm ausgelöst. Es ist Alarm ausgelöst.

...

Grün ... Grün ... Alpha.

Es ist Alarm ausgelöst. ...

Grün ... Grün ... Alpha.

Handeln Sie nach Direktive. ...

Die Ansage wird wiederholt. ...

 

Es ist Alarm ausgelöst ...

Grün ...«

 

Was sollte das? Torbeck richtete sich auf. Das Buch rutschte von ihrer Brust, blieb mit verknickten Seiten auf dem Teppich liegen. Sie ließ das Telefon sinken, rieb sich die Augen. Sie hatte geschlafen. Wie spät war es? Aus dem Handy quäkte eine Frauenstimme. Langsam hob sie das Telefon zurück ans Ohr.

 

»Grün ... Grün ... Alpha.

Handeln Sie nach Direktive. ...

Die Ansage wird wiederholt.«

 

Herr im Himmel! Torbeck sprang auf. Grün: biologische Gefahr. Grün: Zugang für Angehörige ersten Grades. Alpha: keine Übung. Herr im Himmel!

Katta. Sie stolperte durch das dunkle Wohnzimmer zur Treppe, rief nach ihrer Tochter. Torbeck suchte im Flur nach dem Lichtschalter, fand ihn. Nichts. In schneller Folge drückte sie die Taste hin und her. Es blieb Nacht. War das die Sicherung?

Ihre Augen gewöhnten sich an die Dunkelheit. Mit kleinen schnellen Schritten nahm sie die Stufen. Im Obergeschoss riss sie die Tür zu Kattas Zimmer auf. Versuchte wieder ihr Glück mit dem Lichtschalter. Ohne Erfolg. »Katta! Du musst aufstehen. Wir ...« Das Bett war leer. Ihr Verstand stoppte kurz. Sie war nicht zu Hause. Katta war in Frankfurt. Torbeck stolperte zurück ins Wohnzimmer. Zwang sich zur Ruhe. Es musste sich um einen Fehlalarm handeln, diese gottverdammte Anlage spielte ihr einen Streich. Wenn es kein Fehlalarm war, dann sollte in wenigen Minuten ein Fallschirmjägerkommando auftauchen und sie abholen. Sie versuchte, sich zu konzentrieren. Der Alarm wurde nicht von Fenris ausgelöst, sondern durch das Lagezentrum des Bundesamtes für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe. Das hatte mit Fenris nichts zu tun. Sie hatte in den letzten Monaten Stapel von Aktenordnern gefüllt mit Dienstanweisungen, Richtlinien und technischen Anleitungen gelesen. Den ganzen Krempel konnte sich kein gewöhnlicher Mensch merken. Aber man sollte wissen, wo man es nachlesen konnte. Sie stand auf und ging zum Bücherregal. Nach kurzer Suche fand sie den richtigen Ordner. Das Mondlicht war hell genug, um die großzügig bedruckten Seiten entziffern zu können. Schließlich hatte sie die richtige Stelle gefunden und überflog den Abschnitt.

Für die Koordinierung der Katastrophenhilfe (Krisenmanagement) wurde in der Abteilung 1 des BBK das GMLZ (Gemeinsames Melde- und Lagezentrum) eingerichtet und das deutsche Notfallvorsorge-Informationssystem (deNIS) entwickelt. Auch die Betreibung und Weiterentwicklung des Satellitengestützten Warnsystems (SatWaS) ist eine Aufgabe der Abteilung 1.

SatWaS hatte sie angerufen. Das Satellitensystem hatte Anfang des Jahrhunderts die Sirenenanlagen abgelöst, die die Bevölkerung vor Katastrophen warnen sollten. SatWas konnte sich unter anderem in das laufende Fernsehprogramm einschalten und Warnhinweise einblenden. Na gut, dann hatte beim BBK irgendwer auf den falschen Knopf gedrückt. Oder gehörte das Ganze zu der Vollübung? Nein, was für ein Unfug. Erstens musste man annehmen, dass sie sich bereits im Bunker befand, zweitens hatte der Zusatz, dass es sich um eine Übung handelte, gefehlt.

Der Alarm hätte Grün, Grün, Gamma lauten müssen.

Eine Übung musste als solche zu erkennen sein, alles andere wäre zu gefährlich, könnte im schlimmsten Fall Menschenleben fordern.

Torbeck setzte sich an den Esstisch und sah zur Wanduhr. Sie zeigte 22:55 Uhr. Ihre Gedanken drehten sich im Kreis. Mein Gott, war sie dämlich. Warum hatte sie Katta noch nicht angerufen? Torbeck rannte zum Wohnzimmertisch, griff nach ihrem Satellitentelefon, tippte Kattas Nummer ein. Als sie das Telefon ans Ohr führte, hörte sie die gleiche Frauenstimme wie zuvor.

 

»Achtung! ... Dies ist eine automatische Ansage

für ... Generalmajor ...«

 

Das konnte nicht wahr sein. Sie drückte die Wahlwiederholung. Wieder die Stimme vom Band. »Was soll der Mist? Ihr löst Alarm aus und ich kann mein Telefon nicht mehr benutzen. Hauptsache alles läuft automatisch.« Sie stolperte in den Flur, wo ihre Handtasche auf der Garderobe lag, stülpte sie um, dass der Inhalt auf dem Teppich landete. Zwischen Lippenstift und Pfefferminzbonbons lag ihr Smartphone. Ein kurzer Blick auf das Display. Kein Netz.

Sie rannte zurück ins Wohnzimmer, setzte sich an den Esstisch, sprang sofort wieder auf, versuchte es mit dem Haustelefon. Die Leitung war tot. Das zweite Grün in der Alarmmeldung machte ihr am meisten Angst. Es bedeutete, dass Angehörige in den Bunker durften. Man brauchte kein Psychologiestudium, um zu wissen, dass Eltern bereit waren für ihre Kinder zu sterben. Niemand hockte sich mit der Gewissheit in einen Bunker, dass sich seine Kinder draußen in Gefahr befanden. Man musste dem Personal gestatten, Ehepartner und Kinder in die Anlage mitzubringen. Das funktionierte im Ernstfall nur, wenn sich dieser Personenkreis in der Nähe von Fenris aufhielt. Daher bestand für alle Mitarbeiter Residenzpflicht. Sie durften nicht weiter als fünfzig Kilometer von der Anlage entfernt wohnen. Das Führungspersonal war gezwungen, den Wohnsitz noch näher an der Anlage zu nehmen. Eine absolute Sicherheit gab es trotzdem nicht. Befanden sich die Kinder zur Zeit der Alarmauslösung auf Klassenfahrt in Kanada, dann wurde es eng. Aber in der Regel kündigte sich das Übel an. Es blieb Zeit, um zu reagieren. In der Regel.

Was sollte sie jetzt tun? Fernseher. Schalte den Fernseher ein! Kein Strom. Sie musste sich um die Sicherungen kümmern.

Ein Brummen versetzte das Haus in Schwingung, Gläser klirrten. Torbeck vergaß Fernseher und Sicherungen, rannte in den Flur und riss die Wohnungstür auf. Die Hunde im Dorf bellten. Das Geräusch steigerte sich zu einem Dröhnen. Ein Boxer-Radpanzer bog um die Ecke, beschleunigte kurz und blieb vor ihrem Haus stehen. Die Heckklappe schwang auf. Fallschirmjäger sprangen auf die Straße, bildeten einen Halbkreis und sicherten das Fahrzeug. Ein Unteroffizier lief auf Torbeck zu. »Frau Generalmajor?«

Torbeck sagte nichts. Sah ihn ausdruckslos an. Der Soldat war noch ein Junge. Kaum fünfundzwanzig Jahre alt, das Gesicht kalkweiß. »Frau Generalmajor?«

Sie schüttelte sich. »Ich bin so weit. Gehen wir.« Sie schritt an den Fallschirmjägern vorbei. Der Unteroffizier wirkte erleichtert. »Frau Generalmajor. Mein Befehl lautet, Ihre Tochter mitzunehmen.«

Torbeck stieg in den Panzer und ließ sich in einen der ergonomisch geformten Sitze fallen. »Meine Tochter ist nicht zu Hause.«

Der Unteroffizier nickte, folgte ihr in den Innenraum. Er drehte sich herum und gab den Befehl zum Aufsitzen. Sekunden später setzte sich der Schützenpanzer ruckend in Bewegung.