49. Falle

 

Karl Wiegner

 

Als sich die Schleusentür zur Krankenstation öffnete, sah Wiegner in die matten Augen einer jungen Frau. Ohne Zögern schlug er ihr mit aller Gewalt ins Gesicht. Der Kopf der Frau flog nach hinten, sie taumelte rückwärts. Bevor sie sich fangen konnte, setzte er nach, schlug ein zweites und ein drittes Mal zu. Mit der linken Hand griff er ihr in die Haare, zerrte ihren Kopf in den Nacken. Seine Rechte packte sie am Kinn. Mit einer schnellen Drehbewegung brach er ihr das Genick. Der leblose Körper sank zu Boden.

Wie viele waren noch hier? Mit einem würde er fertig werden. Griffen sie zu zweit an, hatte er sicher keine Chance. Sein Blick durchmusterte den Raum, suchte einen Gegenstand, den er als Waffe benutzen könnte. Er entdeckte einen Glasschrank mit medizinischem Besteck. Da lag bestimmt ein Skalpell. Aber das war eine unbrauchbare Waffe für ihn. Eine Schnittverletzung hielt diese Irren nicht auf. Es musste etwas sein, womit er einen ultimativen Treffer landen konnte. Er fand nichts.

Wiegner zog den Gürtel straffer um die Hand. Die Tür zum nächsten Raum stand offen. Bis jetzt hatte sich niemand auf ihn gestürzt. Wenn hier noch jemand war, musste er ihn gehört haben. Auf der Stelle stehen zu bleiben löste die Situation nicht. Er gab sich einen Ruck und trat in den vor ihm liegenden Raum ein. Er war leer. Erleichtert stellte er fest, dass der medizinische Bereich sich durch den Kontaminierungsalarm zweigeteilt hatte. Er selbst hatte zwei Räume und ein Büro zur Verfügung. Der Durchgang zu dem anderen, weitaus größeren Bereich, in dem sich die eigentliche Krankenstation mit Betten, einem Chirurgiesaal und weiteren Räumen befand, war abgetrennt. Wiegner war alleine. Er löste den Gürtel von seiner Hand und ließ sich auf einen Bürostuhl sinken. War das jetzt besser?

Sein neues Zuhause gab nicht viel her. An den Wänden standen Regale mit Fachbüchern, Behältern mit Plastikkanülen und medizinischem Material. In einer Ecke summte ein Kühlschrank. Wiegner seufzte und stand auf. Erstaunlich, dass seine Klaustrophobie nicht durchschlug. Das Adrenalin des Kampfes überlagerte die Angst. Im Kühlschrank fand er einige Urinproben und eine halb volle Flasche Wasser. Angewidert verzog er das Gesicht. Medizinisches Personal war, was solche Dinge anging, völlig schmerzfrei. Er griff nach der Flasche und trank sie in einem Zug leer. Er hatte eine sinnlose Schlacht gewonnen, seinen Tod ein wenig hinausgezögert. Gedankenverloren schraubte er die Flasche wieder zu. Vielleicht war es doch nicht so sinnlos. Er ging hinüber in den anderen Raum und stellte sich vor den Schrank mit den medizinischen Instrumenten. Nach kurzem Suchen wurde er fündig. Da lag ein Skalpell. Hatte es sich doch gelohnt. Besser schnell verbluten als jämmerlich verdursten. Wiegner öffnete die Schranktür und nahm das Skalpell in die Hand.

Er spürte eine Bewegung hinter sich, wirbelte herum und stolperte zurück. Mit dem Rücken prallte er gegen den Instrumentenschrank, dass es schepperte. Vor ihm stand ein Mann in einem Kittel. Blut lief ihm aus Nase und Mund, tropfte von seinem Kinn und zog lange dunkle Bahnen über den weißen Stoff. Er sah Wiegner an, bewegte sich nicht. Woher war der hergekommen? Er musste sich im Büro versteckt haben. »Was ist passiert?«, fragte Wiegner. Er hatte keine Hoffnung, dass der Mann auf seine Worte reagierte. Der leere Blick seines Gegenübers erinnerte ihn deutlich an Dr. Hort.

»Hilfe«, presste der Mann hervor und brach zusammen. Langsam näherte Wiegner sich dem am Boden Liegenden, hörte seinen schweren Atem, der langsam zu einem Knurren anschwoll. Wiegner zögerte, umklammerte das Skalpell fester. Dann kniete er sich hin und schnitt dem Mann mit einer schnellen kräftigen Bewegung die Kehle durch. Hastig sprang er zurück. Ein Schwall Blut blubberte aus der Wunde. Sofort bildete sich eine große Blutlache auf dem Boden. Der Mann verdrehte die Augen, versuchte nach Luft zu schnappen, bis er plötzlich still wurde.

Eine ganze Weile stand Wiegner regungslos da. Sein Puls beruhigte sich. Was machte er hier eigentlich? Statt dem armen Schwein den Hals durchzuschneiden, hätte er sich auch gleich selber die Pulsadern aufschneiden können. Praktisch machte das keinen Unterschied. Trotzdem durchsuchte er das kleine angrenzende Büro. Da war niemand mehr. Mit dem Skalpell in der Hand setzte er sich auf den Boden, lehnte sich mit dem Rücken an die Wand. Er setzte die Klinge an seinem Handgelenk an, ließ sie wenige Millimeter über der Haut schweben. Längs schneiden, nicht quer. Klang ganz einfach. Vor allem mit einem chirurgischen Instrument. Sein Verstand versuchte, die Hand zu zwingen, die nötige Bewegung durchzuführen, aber sein Arm verhielt sich wie eine verrostete Stahlkonstruktion. Nichts rührte sich. Er ließ das Skalpell zu Boden fallen. Eine unrealistische Hoffnung hielt ihn zurück. Es war wie damals, als er in der irakischen Wüste unter den Trümmern eines Hubschraubers begraben lag. Aber es gab einen großen Unterschied. Damals war die Hoffnung nicht unberechtigt gewesen. Eine vermisste Maschine, deren Flugroute bekannt war, konnte gefunden werden. Jetzt war sie unberechtigt. Die Forschungsabteilung war isoliert worden. Eine Versiegelung, die kaum zu brechen war. Selbst wenn er voraussetzte, dass es in der Anlage die technischen Möglichkeiten gab, so durfte es an dem Willen dazu fehlen. Schließlich hatte es einen triftigen Grund gegeben, sie alle lebendig zu begraben. Die Seuche war in der Anlage ausgebrochen. Handelte es sich um einen lokalen Ausbruch, der nur die Forschungsabteilung betraf? Oder war die gesamte Anlage kontaminiert?

Wiegner stand auf und ging zu einem der ComSys-Stationen. Er versuchte eine Verbindung mit dem Leitstand herzustellen. Das System gab nach jedem Kontaktversuch eine kleine Meldung auf dem Bildschirm aus. Verbindung derzeit nicht möglich. Schließlich gab er es auf. Lebte da überhaupt noch jemand? Er verdrängte den Gedanken. Die Vorstellung, nur noch von Toten und Irren umgeben zu sein, multiplizierte seine Angst. Wiegners Schulter schmerzte fürchterlich. Er legte sich auf den Rücken auf eine Liege und schloss die Augen.