12. Gruppendynamik

 

Demir Kara

 

Auf dem Dach des Commerzbank-Towers wurde geschwiegen. Die Menschen saßen mit leeren Gesichtern stumm in den Ecken herum oder zogen wie Tiere im Zoo endlose Schleifen im Kies. Das dumpfe Poltern an der Tür hielt unvermindert an. Demir rauchte und sah auf seine Armbanduhr. Es war 23:56 Uhr. Seit mehr als zwanzig Minuten ging das so. Niemand konnte noch ernsthaft annehmen, dass auf der anderen Seite der Tür Hilfsbedürftige standen. Demir schmiss die Zigarette auf den Boden und trat sie aus. Jetzt lagen drei Stummel zu seinen Füßen. Es war empfindlich kühl geworden. Der sternenklare Himmel übergoss alles mit kaltem Licht. Er zitterte. Sein Blick wanderte umher. Demir zählte dreizehn Personen.

In einer Ecke hockte das Mädchen, dem er im Fahrstuhl begegnet war. Sie hatte die Knie angezogen und hielt sie eng an den Körper gedrückt. Bevor sie sich zurückgezogen hatte, war sie so freundlich gewesen und hatte den anderen erklärt, was mit dem Wachmann und der Frau in der Lobby geschehen war. Nun hielt die Gruppe Abstand von Demir.

An einem Lüftungsschacht standen vier uniformierte Angestellte einer Cateringfirma. Ein Mann und drei Frauen.

Von den Partygästen hatten es sieben auf das Dach geschafft. Da war der alte Mann mit den weißen Haaren, der seine Frau verloren hatte. Er sah Demir immer wieder böse an. Auf ihn musste er aufpassen. Einen Faustkampf galt es nicht fürchten. Aber wenn er nicht achtgab, dann zog ihm der Kerl vielleicht von hinten eins über den Schädel. Der Mann brauchte dringend ein Ventil für seinen Verlust. So waren die Menschen. Sie konnten ihr Leid besser ertragen, wenn sie jemandem die Schuld dafür in die Schuhe schieben konnten. Wenn Oma an ihren morgendlichen Cornflakes erstickte, dann galt es, einen unglücklichen Ingenieur für Lebensmitteltechnik vor Gericht zu schleifen. Völlig egal, wie abwegig die Anschuldigungen auch waren.

Demir musterte die restlichen sechs der Gruppe. Sie waren zwischen fünfundzwanzig und fünfundvierzig Jahren alt. Zwei Frauen in Kleid und Kostüm. Vier Männer im Anzug. Der Mann aus dem Fahrstuhl war nicht dabei. Selbst schuld. Die Typen im Anzug sahen aus wie geklont. Tiefgraue Stoffe, dunkle Krawatten und schwarze Lackschuhe. Kurze gepflegte Frisuren, Haare dunkelbraun, alle in den Vierzigern. Man sollte sie bitten, sich Namensschilder anzustecken. Nur einer stach heraus, der hatte aufgeblasene Wangen und eine beachtliche Wampe. Das war der Typ, den Demir in letzter Sekunde durch die Tür gezerrt hatte.

Die Frauen hingegen bestachen durch Individualität. Die Brünette, Mitte dreißig, trug ein elegantes Kostüm. So wie sie sich benahm, gehörte sie ebenfalls zur gehobenen Mittelschicht. Die Schwarzhaarige war Mitte zwanzig. Jemand hatte sie in ein rotes Kleid vakuumverpackt. Aber sie konnte das tragen. Demir bemerkte ihre außergewöhnliche Attraktivität. Sie war ganz sicher keine Managerin, eher ein Callgirl, oder eine Geliebte, die es vorzog, ihr Geld damit zu verdienen, dass sie einem wohlhabenden Trottel Zuneigung vorspielte. Demir fiel auf, dass eine Anzugjacke auf ihren Schultern lag. Einer der Herren hatte sich geopfert. Die Bankerin ließen sie frieren.

Und dann gab es noch den Wachmann. Er lag auf dem Boden, hatte sich auf der Seite liegend zusammengerollt, wie ein Kind mit Bauchschmerzen. Niemand kümmerte sich um ihn. Demir schluckte. Er hatte auf den Mann geschossen. Und zum Dank dafür hatte dieser ihm das Leben gerettet.

Demir verdrängte den Gedanken, stand auf und ging zum Rand des Daches. »Wann hört das endlich auf?«, rief eine der Frauen. Er drehte sich nicht um. Das irrsinnige Trommeln an der Tür zerrte auch an seinen Nerven. Demir sah auf das Lichtermeer der Stadt hinaus. Es schien wie immer. Was in aller Welt war geschehen? Einer der Manager hatte etwas von Seuche gefaselt. Eine Seuche? Demir kannte sich mit Medizin nicht aus. Aber er konnte sich nicht vorstellen, dass der Großteil der Menschen deswegen im gleichen Moment den Verstand verlor. Wie die sich verhielten. Die Menschen hatten sich vor dem Eingang der Bank regelrecht gestapelt. Allein durch ihr Eigengewicht hatten sie das Panoramaglas gesprengt. Unglaublich.

Bilal. Der Name seines Kumpels schoss ihm durch den Kopf. Zuletzt hatte er ihn am Kurierfahrzeug gesehen, wo er den Fahrer ablenken sollte. Demir beugte sich über die Brüstung. Die Dunkelheit der dreihundert Meter unter ihm liegenden Straße wurde nur von den in regelmäßigen Abständen gepflanzten Straßenlaternen ins Graue aufgeweicht. Er meinte das Kurierfahrzeug zu erkennen. Ein kleines Rechteck in der Nähe der Treppe. Bilal würde es nicht geschafft haben. Irgendwo dort lag eine Tasche mit Diamanten. Vier Millionen Euro. Jedenfalls waren es mal vier Millionen gewesen. Jetzt waren sie nicht mehr wert als Flusskieselsteine.

Der Wachmann fing an zu schreien, krümmte sich vor Schmerzen. Demir versuchte ihn zu ignorieren. Er ließ seinen Blick weiter über das Häusermeer gleiten. Die Lichter der Stadt funkelten immer noch ungerührt. Von den Straßen konnte er nicht viel erkennen. Die umgebenden Hochhäuser nahmen ihm die Sicht. Wenn dort unten Menschen umherliefen, dann konnte er sie ohnehin nicht sehen. Dazu waren sie zu winzig und die Beleuchtung zu schwach. Aber bei dem Verkehr sah es anders aus. Zumindest müsste er die Bewegung von Scheinwerfern beobachten können.

Er erinnerte sich an eine Schießerei in der Hanauer Landstraße. Nach wenigen Minuten hatten dort zwanzig Streifenwagen gestanden. Die Blaulichter hatten geflackert, dass man einen epileptischen Anfall bekommen konnte. Aber jetzt? Keine Blaulichter. Wohin er auch schaute. Nur das eine, das er bereits aus dem Fenster gesehen hatte. Es blitzte immer noch zwischen den Bäumen der Taunusanlage auf. War es schwächer geworden?

Plötzlich bemerkte er die Autoscheinwerfer. Sie waren ihm zunächst nicht aufgefallen, weil sie sich nicht bewegten. Auf dem Reuterweg, der westlich haarscharf an der Innenstadt vorbeiführte, hatte sich ein Stau gebildet. Demir schluckte. Als die Menschen mit ihren Fahrzeugen nicht weiterkamen, waren sie zu Fuß geflohen und hatten die Autos stehen gelassen. Demir zog sein Handy aus der Hosentasche. Kein Empfang. Er steckte es weg. Das Funkgerät fiel ihm ein. Aber es hing nicht mehr an seinem Gürtel. Er hatte es verloren. Egal. Damit hätte er sowieso nur Bilal ansprechen können.

Der Wachmann stöhnte. Demir stieß sich von der Brüstung ab, ging zu dem Verletzten hinüber und kniete sich vor ihm hin. »Wie fühlst du dich?« Was für eine sinnentleerte Frage. Er drückte seine Lippen zu einem dünnen Strich zusammen.

Die Augen des Wachmanns flackerten. »Durst.«

Auch Demirs Mund fühlte sich pappig an. »Es tut mir leid. Ich weiß, dass es dir nichts hilft. Aber es tut mir wirklich leid, dass ich auf dich geschossen habe.«

Der Mann nickte. »Ich habe Durst.« Er hob den linken Arm, versuchte nach Demir zu greifen. Demir zuckte zurück, besann sich und nahm die Hand des Wachmanns. »Es kommt keine Hilfe. Oder?« Sollte man einen Sterbenden anlügen? Selbst wenn Hilfe kam, dann nicht mehr für ihn. »Es kommt keiner«, wiederholte der Wachmann.

»Nein.«

Der Mann nickte. »Ich habe Durst. Bring mir was zu trinken.«

»Ich versuche es.«

Demir stand auf. »Hat jemand was zu trinken?«

Die nächste blöde Frage. In der Gruppe wurde gelacht.

»Trinken? Das hätte ich auch gerne.«

»Ich nehme einen Schnaps.«

»Eine Cola wäre toll.«

Einer der Manager wandte sich an das Cateringpersonal: »Geht doch mal runter und bringt uns was hoch. Wofür werdet ihr denn bezahlt?«

Der Mann vom Cateringservice hatte seine langen braunen Haare zu einem Zopf gebunden und trug eine Nickelbrille. Er ging auf den Banker zu. »Halt deine blöde Fresse, sonst schmeiß ich dich vom Dach.« So viel Aggressivität hatte Demir dem Typ kaum zugetraut.

»Habe ich mir gedacht. Nichts zu trinken«, konstatierte der Manager. Das vermeintliche Callgirl meldete sich. »Ich habe auch Durst. Hat sich mal jemand überlegt, was wir jetzt machen? Ich meine ohne Wasser. Wie lange halten wir das aus?«

Neben Demir begann der Wachmann zu schreien. Das Durcheinander an Stimmen wurde lauter.

»Kann den nicht jemand zum Schweigen bringen?« »Ich bringe dich gleich zum Schweigen.« »Warum kommt niemand?« »Wer soll denn kommen?« »Wir werden alle sterben.«

Demir hob die Arme. »Jetzt beruhigt euch mal.«

Keine Reaktion. Das Gezeter hielt ungebrochen an. Das Callgirl verkrallte sich in den Arm von einem der Banker. »David, bring mich hier weg.« Der stieß sie von sich.

Demir reichte es. »Haltet die Fresse!« Das Geplapper erstarb. »Wir haben nichts zu trinken. Das ist ein ernstes Problem. Aber dadurch, dass sich alle gegenseitig anschreien, bekommen wir auch kein Wasser.«

»Wer redet von Wasser?«, kam es aus der Gruppe.

»Wer hat dich zum Anführer ernannt?«, wollte einer der Banker wissen.

Demir legte die Hand auf das Griffstück der Pistole, schaute dem Banker unverwandt in die Augen. »Die Firma Sig Sauer.«

Der Wachmann stöhnte wieder. Das Mädchen aus dem Fahrstuhl ging zu dem Verletzten und setzte sich neben ihn auf den Boden, strich ihm das nass geschwitzte Haar aus der Stirn.

»Wie lange schaffen wir das ohne Wasser?«, fragte das Callgirl erneut.

»Zwei oder drei Tage«, kam die Antwort aus der Gruppe.

»Aber bis dahin muss uns doch jemand hier heruntergeholt haben.«

»Wer soll denn kommen? Da gibt es niemanden mehr.« Das war der Langhaarige vom Catering.

»Das kann ich nicht glauben.«

»Wie heißen Sie?«, fragte Demir das Mädchen im roten Kleid.

»Tamara.«

»Ich heiße Demir.«

Die Frau nickte.

»Tamara. Gehen wir davon aus, dass keiner kommt.« Demir sah die entsetzten Augen der Frau. »Jedenfalls nicht jetzt.« Er wandte sich an die Gruppe. »Ich denke, es kann kein Fehler sein darüber nachzudenken, wie wir Wasser bekommen.«

Allgemeine widerwillige Zustimmung.

»Aber wie?«, fragte einer der geklonten Banker.

»Wir brauchen etwas, das wir als Gefäß benutzen können. Da machen wir rein und trinken unseren Urin«, sagte Demir.

»Bist du völlig bescheuert?« »Ich saufe doch nicht meine Pisse.« »Da verdurste ich lieber.« »Macht man das so? Ich meine, dort, wo du herkommst.«

Demir zuckte mit den Schultern. Morgen würde es wieder weit über dreißig Grad heiß werden. Keine Wolken, kein Schatten. Die Meinungen und Geschmäcker würden sich bald ändern. Da war er sich sicher.