36. Quarantäne

 

Karl Wiegner

 

Nachdem der Konvoi Fenris erreicht hatte, wurde als Erstes der Infizierte in das Hochsicherheitslabor überführt. Dazu verpackten die Wissenschaftler die Trage in eine Art mobiles Zelt und verfrachteten den Unglücklichen in die Schleuse. Wiegner fühlte eine unglaubliche Erleichterung. Der Berg drückte nicht länger auf seinen Schultern. Möglicherweise hatte ihn diese Schocktherapie von seiner Klaustrophobie geheilt. Er setzte sich neben einen der Boxer auf den Boden. Jetzt musste er nicht mehr den Unbesiegbaren spielen, der auf jede Frage eine Antwort liefern konnte. Acht Mann hatte er verloren. Das war fast ein Zehntel der Fallschirmjägerkompanie. In dem Dorf war alles zu schnell gegangen. Keine Zeit zum Denken. Ein Soldat kam auf ihn zu und reichte ihm ein NanoCom. »Die Kommandantin möchte Sie sprechen, Herr Oberst.« Er kam auf die Beine, nahm das Gerät und entfernte sich von den anderen.

»Karl?«

»Ja.«

»Wie geht es dir?«

»Geht so.«

»Du bist verletzt?«

»Ja. Ein Messerstich in die Schulter. Einige Prellungen am Rücken.«

»Ein Messerstich?«

Wiegner erklärte es ihr.

»Mein Gott, Karl. Warum hast du das getan?«

»Was meinst du?«

»Ihr seid mitten hineingefahren. Das war unverantwortlich. Du musstest mit so etwas rechnen.«

Wiegner sagte nichts.

»Karl?«

»Ja.«

»Gibst du mir eine Antwort?«

»Weil wir im Krieg sind.«

»Was meinst du damit?«

»Warst du schon mal im Krieg?«
»Nein.«

»Dann wirst du die Antwort nicht verstehen.« Er beendete das Gespräch. Was für einen Mist er gefaselt hatte. Aber was hätte er Aila sagen sollen? Dass er eine mehr als 12 Stunden lange Panikattacke hinter sich hatte? Dass er davon überzeugt gewesen war, dass ihn die Kaninchen fressen wollten?

Die Wahrheit war, dass er einen Nervenzusammenbruch gehabt und die Lage völlig falsch eingeschätzt hatte. Warum nur? Er hatte die Bilder selbst gesehen. Er hatte gesehen, wie Hunderte von Infizierten durch die Straßen hetzten und über jeden herfielen, der nicht schnell genug war, um ihnen zu entkommen. Vielleicht lag es auch daran, dass man Bilder nicht ernst nahm. Sie drangen nicht wirklich in das Unterbewusstsein ein. Erst wenn die Wirklichkeit einem in den Arsch zu biss, wachte man auf und begriff das wahre Ausmaß. Jetzt hatte die Realität sich gemeldet.

Die Quarantänestation erinnerte Wiegner an eine Jugendherberge. Stockbetten, Gemeinschaftstoiletten, Großraumdusche. Er hatte gegen die Vorschriften durchgesetzt, dass sie ihre Waffen behalten durften. Hier drinnen ließ sich mit ihnen kein Schaden anrichten. Wie im übrigen Bunker bestanden die Wände aus ultrahochfestem Beton. Durch die Beimischung von Mikrostahlfasern und nanofeinem Silikatstaub hatte der Baustoff die Festigkeit von Stahl. Sie könnten die Schießerei am O. K. Corral nachspielen und die Wände würden keinen Kratzer davontragen. Aber sollte der Virus bei dem einen oder anderen durchschlagen, so war der Rest in der Lage sich zu behelfen.

Die Männer richteten sich ein. Wiegner ging zur Krankenstation und betätigte das ComSys an der Tür. Auf dem Bildschirm erschien ein Frauengesicht. »Oberst Wiegner?«

»Ja.«

»Die Tür wird geöffnet. Medizinische Hilfe ist auf dem Weg.« Lautlos glitt die Tür zur Seite. Wiegner trat in den wohnzimmergroßen Raum und legte sich auf eine Liege. Nach wenigen Minuten öffnete sich eine weitere Tür und ein Mann in einem Schutzanzug kam herein. »Mein Name ist Dr. Hort. Ich flicke Sie wieder zusammen«, begrüßte ihn der Arzt. Wiegner nickte ihm zu. Der Doktor griff sich einen Rollwagen, auf dem medizinische Geräte lagen, und stellte sich neben den Oberst. »Ich werde Ihnen zuerst die Uniform aufschneiden und mir die Wunde ansehen. Das wird wehtun.«

»Ich habe mir Morphium gespritzt. Momentan tut mir gar nichts weh.«

Durch das Visier des Schutzanzuges sah Wiegner den Arzt lächeln. »Mein guter Freund Morphium.« Der Arzt schnitt geübt ein Rechteck in den Stoff. »Der hat Sie aber gut erwischt. Man hat mir gesagt, dass es ein Messerangriff war. Stimmt das?«

»Ja.«

»Ich dachte, die Infizierten benutzen keine Waffen. Nach meinem Kenntnisstand sind sie nicht mehr in der Lage gezielt zu handeln.«

»Der Mann war nicht infiziert. Aus einer Kampfsituation heraus kam es zu einem Zwischenfall.«

Hort sah ihn kurz an, verzichtete auf weitere Fragen. Vermutlich wollte er die Details lieber nicht wissen. Der Kerl, der Wiegner das Messer in die Schulter gesteckt hatte, war nicht infiziert gewesen, genauso wenig wie der Junge. Wiegner hatte die Angst in den Augen des Kindes gesehen, aber da war es bereits zu spät gewesen. Der Mann wollte sein Kind verteidigen. Das war alles. Da trafen sie tatsächlich auf Überlebende und dann das. Der Soldat, der den Jungen erschossen hatte, lag derweilen, mit mehreren Kugeln im Leib, neben dem verunglückten Boxer draußen im Wald. Der hatte es hinter sich. »Wie sieht es aus?«

»Ernst, aber nicht hoffnungslos.« Der Arzt steckte ihm eine Kanüle in die Armbeuge und schloss einen Tropf an. »Das ist ein Plasmaexpander. Sie haben recht viel Blut verloren. Ich werde die Wunde jetzt schließen. Es wird eine Zeit lang dauern, bis Sie wieder beschwerdefrei sind. Wir müssen hoffen, dass die Schulterknochen nicht zu sehr in Mitleidenschaft gezogen wurden.«

»Zeit habe ich genug. Wir sitzen hier erst mal fest.« Er sah den Arzt an. »Haben Sie keine Angst, dass ich infiziert sein könnte?«

»Nein. Sollte ich?«

»Ich hatte Kontakt mit Infizierten und habe dabei meine Atemmaske verloren. Mir wäre an Ihrer Stelle unwohl.«

»Wir alle tragen ein hohes Risiko.«

»Professor Danielsen behauptet, dass in wenigen Tagen ein Test zur Verfügung stehen wird, mit dem man feststellen kann, ob der Virus bei uns aktiviert wurde.«

»Das halte ich für sehr optimistisch.«

»Wie bitte?«

Der Arzt, der sich über Wiegners Schulter gebeugt hatte, trat einen Schritt zurück. »Hat Danielsen Ihnen das tatsächlich so erklärt?«

»Das hat er.«
Hort schüttelte den Kopf. »Das Problem ist etwas komplexer. Die aktive Form des Virus können Sie sich auf zwei Arten einfangen. Die erste ist, dass Sie mit einem bereits aktiven Virus infiziert werden. Zum Beispiel durch einen Biss.«

»Das ist mir klar.«

»Unter normalen Umständen sollten Sie dann spätestens nach einigen Minuten die bekannten Krankheitssymptome zeigen. Allerdings bekommen Sie, wie alle anderen im Bunker auch, seit einiger Zeit antivirale Mittel verabreicht. Das wissen Sie. Hierdurch kann sich der Ausbruch hinauszögern. Diese Art der Infektion können wir tatsächlich recht schnell nachweisen oder ausschließen. Falls Professor Danielsen dies meinte, dann hat er mit seiner Aussage recht.«

»Ich sehe das Problem nicht.«

»Das Problem ist die zweite Art und Weise, durch die sie erkranken können. Sie tragen möglicherweise einen funktionierenden Zellcluster in sich.«

»Wie möglicherweise viele von uns.«

»Genau. Nur mit dem Unterschied, dass Sie draußen waren. Wir wissen nicht, wie der Cluster aktiviert wurde. Wir kennen den Auslöser nicht. Ist es ein Bakterium? Ein Gas? Eine Strahlung? Grießpudding? Wie gesagt, Sie waren draußen. Es ist denkbar, dass Sie mit dem Auslöser in Berührung gekommen sind. Falls das so ist, kann es noch Tage dauern, bis sich Ihr Virus scharf schaltet. Verstehen Sie? Das Risiko können wir nicht eingehen.«

»Das Problem ist also nicht der Virus, sondern der Auslöser.«

»Richtig. Solange der Auslöser nicht identifiziert ist, kann es keinen Test geben, der nachweisen kann, ob Sie mit ihm in Berührung gekommen sind.«

»Wie lange?«

»Das kann ich nicht sagen.«

»Wie lange?«

»Das kann Wochen dauern, eher aber Monate. Vielleicht gelingt es überhaupt nicht.«

Wiegner bäumte sich auf. »Wollen Sie mich verarschen. Nach einigen Tagen müsste doch klar sein, ob der Cluster aktiviert wurde.«

Der Arzt drückte ihn sanft zurück. »Nicht zwingend. Vergessen Sie die Medikamente nicht. Möglicherweise verzögern sie die Aktivierung auf unbestimmte Zeit.«

»Sollen wir den Rest unseres Lebens in Quarantäne verbringen?«

»Ich denke nicht, dass es so weit kommen wird. Jetzt hören Sie auf herumzuzappeln.«

Wiegner fragte sich, wie er entscheiden würde, wenn er müsste. Würde er das Risiko eingehen und Soldaten, die möglicherweise Kontakt mit dem Auslöser hatten, zurück in den Bunker lassen? Wenn er ehrlich war, musste er sagen: Nein, würde er nicht. Auf keinen Fall. Das Risiko war einfach zu groß. Seine Klaustrophobie kletterte zurück in ihr Wohnzimmer und machte es sich gemütlich.