39. Sonnenschirm

 

Aila Torbeck

 

Die ganze Nacht hatte Torbeck über den Aufnahmen der Drohne gebrütet. Mittlerweile war es 8 Uhr morgens. Die einzig gute Nachricht war, dass der Mond seine Bahnen wie gewöhnlich gezogen hatte. Sie hatte Angst davor gehabt, dass dem nicht so sein könnte. Immer wieder hatte sie versucht, eine befahrbare Route aus der Stadt zu finden. Es funktionierte nicht. Alle Hauptstraßen waren mit Fahrzeugen verstopft. Bei den Nebenstraßen sah es auch nicht besser aus. Ein aufs andere Mal folgte ihr Finger den dunklen Linien der Straßen. Aber jedes Mal traf sie auf Stellen, die nicht passierbar waren. Das Beste, was sie fand, war eine Strecke über die Friedensbrücke. Dann nach rechts über den Theodor-Stern-Kai am Main entlang. Schließlich quer durch den Ortsteil Niederrad bis zur Pferderennbahn. Dann ging nichts mehr. Das Gute war, dass sie sich dann bereits am Stadtrand befanden. Ab da würden sie sich querfeldein durchschlagen müssen. Was sollte sie tun, wenn die Gruppe es bis nach Fenris schaffte? Torbeck durfte sie niemals in den Bunker lassen. Sie schob den Gedanken beiseite. So weit war es noch lange nicht. In der Nacht hatte sie per SysCom mit Karl gesprochen. Der hatte ziemlich gewütet. Nein, das war eine schwere Untertreibung. Er hatte getobt. So sehr, dass sie fast gedacht hatte, er hätte sich infiziert. Aber die Sorge erwies sich als unbegründet. Sein Zorn richtete sich gegen Danielsen. Die Sache mit dem Virus Auslöser hatte der Professor verschwiegen. Das hatte in der Besprechung anders geklungen. Wie lange sollte man die Soldaten in Quarantäne halten? Bis zu ihrem natürlichen Tod? Sie hatte Karl versprochen, die Frage zu klären. Fürchtete sich vor der Antwort.

Ihr Satellitentelefon klingelte. Hektisch nahm sie das Gespräch an. Seit gestern Abend hatte sie dutzendfach versucht, ihre Tochter zu erreichen. Aber Kattas Telefon war ausgeschaltet gewesen. Sie hatte sich große Sorgen gemacht. »Katta?«

»Nein. Hier ist Fieber.«

»Wa...«

»Ihre Tochter sagt, dass sie unter Anämie leidet und ihre Medikamente nicht dabei hat.«

»Was? War...« Fieber unterbrach sie und wiederholte den Satz. Torbeck sortierte ihre Gedanken. Daran hatte sie überhaupt nicht mehr gedacht. Kattas Medikamenteneinnahme war im Laufe der Jahre zur Routine geworden. Ihre Tochter litt an einer seltenen Form der Anämie. Glücklicherweise gab es ein Medikament, dass ihr bei regelmäßiger Einnahme ein beschwerdefreies Leben ermöglichte. Ferrotramadol. Aber das wuchs nicht auf Bäumen. Torbeck war davon überzeugt, dass sie es auch nicht im Bunker vorrätig hatten. Dafür war es zu speziell. Vor einigen Wochen hatte sie darüber nachgedacht, sich einen Vorrat zu besorgen. Denn was sollte sie machen, wenn das Undenkbare geschah und sie mit ihrer Tochter in den Bunker musste? Jetzt war das Undenkbare geschehen. Katta saß in Frankfurt fest, sie selber hockte in Fenris und Ferrotramadol gab es weit und breit nicht. Sie lehnte sich zurück und massierte sich die Schläfe.

»Sind Sie noch dran?«

»Ja«, antwortete Torbeck. Mehr fiel ihr nicht ein.

»Ihre Tochter sagt, dass es das Medikament nicht in der Apotheke gibt. Stimmt das?«

»Ja. Ferrotramadol ist ein seltenes Medikament. Das muss bestellt werden.«

»Hören Sie. Ich habe versprochen, Ihre Tochter lebend zu Ihnen zu bringen. Aber so geht es nicht. Sie müssen mir einen Lösungsweg anbieten.«

Torbeck dachte nach. Seit ihrem sechsten Lebensjahr nahm Katta morgens und abends eine dieser kleinen roten Pillen.

»Ich warte.«

Torbeck hatte eine Idee. »Ich kenne einen Ort, an dem es das Medikament gibt.«

»Wo?«

Sie zögerte. Torbeck war sich sicher, dass Fieber das nicht hören wollte. »In der Uniklinik. Die haben eine gut sortierte Krankenhausapotheke, die zum Teil sogar andere Krankenhäuser mitversorgt. Von dort bezogen wir früher das Medikament.« Pause. Sie stellte sich vor, was in Fieber vorging. Ein gewaltiges Krankenhaus aufzusuchen und dort nach einem Medikament zu suchen, war eine Horrorvorstellung.

»Gut. Dann machen wir das.« Fiebers Stimme klang unbewegt. »Wie heißt das Medikament noch mal?«

»Ferrotramadol. Katta kennt den Namen.«

»Aber vielleicht kann sie nicht mehr sprechen, wenn wir im Krankenhaus ankommen.« Torbeck sagte nichts. »Wir werden den gesamten Vorrat sichern.« Das klang so bestimmt, dass Torbeck ihm glaubte.

»Danke.«

»Uns läuft die Zeit davon. Haben Sie noch etwas für mich?«

»Ich habe einen befahrbaren Weg aus der Stadt gefunden. Jedenfalls bis zum Stadion. Ich schicke Ihnen den Streckenverlauf als Textnachricht auf Kattas Satellitentelefon.«

»In Ordnung. Ein Aufklärungsergebnis für den Weg bis zur Klinik wäre hilfreich.«

Torbeck atmete aus. »Ich werde es versuchen.«

»Warum versuchen? Haben Sie Probleme mit der Drohne?«

Mist, jetzt hatte sie sich verplappert. Torbeck überlegte, ob sie Fieber die Wahrheit sagen sollte. Nämlich, dass sie das, was sie tat, nicht tun durfte. Eine Kommandantin, die eigennützig handelte. Sie entschied sich dagegen. Es war schlecht, wenn Fieber wusste, dass sie aus einer schwachen Position heraus agierte. »Wir haben Probleme mit der Optik.«

»Verstehe.« Pause. »Was sagen Sie zu der Himmelserscheinung? Eine Sonnenfinsternis war das nicht.«

»Das stimmt. Ehrlich gesagt haben wir keine Ahnung, was es war.« Sie wollte Nachfragen verhindern, darum fügte sie an: »Überhaupt keine Ahnung. Uns fehlen die Möglichkeiten für astronomische Beobachtungen.«

»Was ist mit den Streifen?«

»Wir halten sie für Meteoroide.«

»Seuche, merkwürdige Sonnenfinsternis, Meteoroide. Und das alles in einem Überraschungsei. Im Mittelalter wäre man aus dem Häuschen gewesen. Vielleicht ist es das Jüngste Gericht.«

»Ich weiß es wirklich nicht. Glauben Sie mir. Ich...«

»Ist okay. Um 10 Uhr werde ich das Handy ausstellen. Ich möchte ungerne, dass es auf unserem Weg anfängt zu klingeln. Außerdem ist der Strom weg. Wir können den Akku nicht mehr aufladen. Wenn Sie uns noch etwas mitteilen wollen, sollte es vor 10 Uhr sein. Vielleicht bekommen Sie die Optik der Drohne noch in den Griff.«

»Bis 10 Uhr. Verstanden.«

»Ich nehme an, dass Sie mit Ihrer Tochter reden wollen.«

»Das ist richtig.«

Es raschelte im Hörer, dann hörte sie Kattas Stimme. »Hallo Mama.«

Torbeck wusste, wie sich Katta fühlte. Kopfschmerzen, Übelkeit und das Gefühl, keine Luft zu bekommen. »Wie geht es dir?«

»Es geht. Tut mir leid, dass ich die Medizin vergessen habe.«

Torbeck sah das Bild der zehn Jahre alten Katta vor sich. »Schatz. Das muss dir nicht leidtun. Das konntest du nicht vorausahnen. Darüber m...«

Ein Summen unterbrach sie. Jemand stand an der Tür zum Komandantenraum. »Ich muss auflegen.« Sie drückte das Gespräch weg, legte das Telefon in eine Schublade und betätigte den Türöffner. Theißen kam herein. Torbeck fiel auf, dass der Oberstabsfeldwebel verlegen wirkte. »Was ist los?«

»Darf ich mich setzen?«

»Natürlich.«

Theißen nahm sich einen Stuhl und ließ sich mit einem leisen Stöhnen nieder. Er sah Torbeck an. »Es geht mich nichts an, aber ich halte es für meine Pflicht, Sie zu warnen.«

»Bitte.« Torbeck ahnte Übles. Sie saß da wie versteinert. Theißen war die Situation sichtlich unangenehm. Er zögerte kurz und sprach weiter. »Hauptmann Gärtner hat mich angesprochen.« Der Stab sah sie an, als erwartete er, dass alleine dieser Satz ihr die Augen öffnen müsste. Als sie keine Reaktion zeigte, fuhr er fort. »Er fragte mich, ob ich wüsste, mit wem Sie über die Satellitenverbindung kommunizieren.«

Torbeck ohrfeigte sich in Gedanken selber. Wie dumm sie war. »Gärtner weiß, dass ich telefoniere?« Es machte wohl keinen Sinn mehr, irgendein Theaterstück aufzuführen.

Theißen zeigte sich erstaunt. »Die gesamte Kommunikation wird mitgeschnitten. Wussten Sie das nicht?«

Torbeck antwortete nicht. Natürlich wusste sie das. Sie selber hatte die Anlage versiegeln lassen und damit in die höchste Alarmbereitschaft versetzt. Damit hatte sie gleichzeitig die Privatsphäre jedes Einzelnen auf praktisch null reduziert. Das Problem war, dass sie mögliche Auswirkungen völlig ausgeblendet hatte.

»Der Hauptmann ist sich bewusst, dass es ihn nichts angeht, mit wem Sie kommunizieren.«

»Aber?«

»Mit einer Ausnahme. Nämlich dann, wenn Sie mit Ihren Handlungen die Anlage gefährden.«

»Wie kommt er darauf?« Torbeck fühlte, wie sich ihr Magen langsam umdrehte.

»Hauptmann Gärtner hat sich keine Gesprächsinhalte angehört. Aber er weiß, wann und wie lange Sie telefoniert haben. Außerdem hat er den Standort der Teilnehmer festgestellt.«

»Woher wissen Sie, dass er sich die Gespräche nicht angehört hat?«

»Ich habe es überprüft.«

Torbeck wollte lieber nicht nachfragen, wie Theißen das geschafft hatte. Freigaben solcher Art besaß er nicht. »Und er hat bemerkt, dass ich mit jemandem in Frankfurt telefoniere«, stellte Torbeck fest. Theißen nickte. »Er fragte mich, ob ich es in diesem Zusammenhang nicht seltsam finden würde, dass die Drohne über Frankfurt kreist.«

»Finden Sie das seltsam?«

»Am Anfang tat ich das nicht. Aber jetzt habe ich Zweifel.«

Torbeck spielte mit einem Kugelschreiber herum. Jedes Mal, wenn die Mine rein- oder rausschnellte, klickte es leise. Eine Minute lang schwiegen sie sich an. Dann öffnete sie die Schublade eines Rollcontainers, stellte ein Glas und eine Flasche Whisky auf den Schreibtisch. »Wollen Sie auch?« Theißen verneinte. Sie schüttete sich das Glas fast bis zum Rand voll und kippte es hinunter. Es fühlte sich an, als hätte sie Batteriesäure geschluckt. Wenn das so weiterging, dann könnte sie bald eine Ortsgruppe der Anonymen Alkoholiker aufmachen. »Es stimmt, ich habe mit meiner Tochter gesprochen. Sie ist in Frankfurt.«

Theißen schien das nicht zu überraschen. »Sie haben die Drohne nach Frankfurt geschickt, um ihr zu helfen.«

»Ich habe versucht, einen Fluchtweg zu finden.«

Er schüttelte den Kopf. »Ich hätte doch gerne ein Glas.«

Torbeck nahm ein zweites Glas und schenkte ihm ein. »Dass Sie mit Ihrer Tochter telefonieren ist absolut nachvollziehbar. Ich selber habe eine Frau und einen Sohn. Die beiden wohnen noch in Lübeck. Sie sollen... . Sie sollten mir bald folgen.« Pause. »Glauben Sie, dass meine Familie mir gleichgültig ist?«

Torbeck schluckte. »Nein«, krächzte sie. »Ich konnte nicht anders. Was soll ich jetzt tun?«

»Ihnen das zu sagen steht mir nicht zu. Ich kann Ihnen nur einen Rat geben.« Torbeck sah Theißen erwartungsvoll an. »Ich weiß, dass man als Führungsoffizier oft keinen direkten Draht zu seinen Untergebenen hat. Aber ich kann Ihnen sagen, dass sie derzeit hoch im Kurs stehen. Die Art, wie Sie den Angriff abgewehrt haben, hat Ihnen Respekt verschafft. Aber man sagt: Gute Taten werden in den Sand geschrieben, schlechte Taten in Stein gehauen. Ruhm ist oft nur von kurzer Dauer. Der Rat, den ich Ihnen gebe, wird Ihnen nicht gefallen.«

»Ich höre.«

»Holen Sie die Drohne zurück«, sagte Theißen. Torbecks Blutdruck sackte ab. »Ansonsten besteht die Gefahr, dass man Sie früher oder später absetzen wird. Wiegner kann Ihnen nicht helfen. Und was dann? Dann können Sie nichts mehr für Ihre Tochter tun. Nicht einmal mehr mit ihr telefonieren.« Theißen hielt kurz inne. »Wie geht es Ihrer Tochter?«

Torbeck erklärte Theißen den Stand der Dinge. Dass Katta nicht allein war und dass die Gruppe in die Uniklinik gehen musste, um Medikamente für ihre Tochter zu besorgen. Schließlich sollten sie alle die Stadt verlassen. Dass Torbeck Katta im Bunker haben wollte, behielt sie für sich. Theißen nickte. »Und? Wie entscheiden Sie sich?«

Torbecks Blick richtete sich auf die Schreibtischplatte. »Wo ist Gärtner jetzt?«

»In seinem Quartier. Seine Schicht war zu Ende.« Theißen stand auf und ging in Richtung Tür. Er drehte sich herum. »Ich kann Sie verstehen. Aber ich kann es nicht gutheißen. Der Grund, warum ich mich bedeckt halte, ist, dass ich Sie für eine gute Kommandantin halte. Außerdem ist Oberst Wiegner aus dem Spiel und Hauptmann Gärtner ist mir nicht geheuer.« Mit den Worten verabschiedete sich Theißen und verließ Torbecks Raum. Mit dieser Wendung hatte sie nicht gerechnet. Der Stress hatte sie kurzsichtig gemacht. Sie hatte nur noch sich selbst gesehen und dabei außer Acht gelassen, dass es noch andere gab, die sich ihre Gedanken machten und Pläne verfolgten. Was sollte sie jetzt tun? Nach kurzem Zögern ließ sie sich mit Wiegner in der Quarantänestation verbinden. Dabei hatte sie das unangenehme Gefühl überwacht zu werden. »Wann holst du mich hier heraus?«, eröffnete Wiegner das Gespräch.

»Ich arbeite daran.«

Wiegner grunzte.

»Karl. Ich habe einen Fehler gemacht.«

»Was ist passiert?« Sie zögerte. »Aila. Spuck es aus.« Torbeck holte Luft und erzählte ihm von den Telefonaten mit Katta, der Drohne, und endete mit Theißens Warnung. Zunächst sagte Wiegner nichts. Sie bekam Angst. Hatte sie den Bogen überspannt? Schließlich begann er zu lachen und schüttelte den Kopf. »Darum hast du mich auf die Mission gelassen. Du hast befürchtet, dass ich dir dazwischen funke.«

»Ja.«

»Aila. Du hast Scheiße gebaut.«

»Was soll ich tun?«

»Das, was der Stab gesagt hat. Gib der Drohne einen nachvollziehbaren Auftrag. Ich weiß, dass das wehtut. Aber du hast keine Wahl.«

»Theißen sagt, dass Gärtner sich die Gespräche nicht angehört hat. Angeblich hat er das überprüft. Kann das sein?«

»Du meinst, ob Theißen das kann?« Wiegner lachte auf. »Wenn er das sagt, dann wird es so sein. Er kennt die Technik von Fenris besser als alle anderen.«

»Warum hat Gärtner das überprüft? Natürlich hat er die nötigen Freigaben, aber ich verstehe den Grund nicht.«

»Das kann ich dir auch nicht sagen. Er schnüffelt anscheinend gerne herum.«

»Vielleicht sollte ich ihn einfach fragen.«

»Davon würde ich abraten. Wie du selber festgestellt hast, kennst du seine Motivation nicht. Du kennst die Direktive. Unter den momentanen Bedingungen stellt die mutwillige Fehlnutzung von taktisch relevanten Ressourcen ein schweres dienstliches Vergehen dar. Das könnte dich den Kopf kosten. Vielleicht will er dich schützen und sich selbst nicht in Zugzwang bringen. Er hat Theißen als Überbringer der Botschaft genutzt. Du kannst dein Verhalten anpassen und alle haben ihr Gesicht gewahrt.«

»Oder?«
»Stell dir vor, dass wir auf einem Schiff sind. Hast du schon mal die Meuterei auf der Bounty gelesen?«

»Ich habe den Film gesehen.«

»Du bist der Kapitän auf der Bounty. Du hast einen Fehler gemacht. Aber wie schwerwiegend der ist, dass entscheiden auf hoher See nicht die Vorschriften, sondern deine Crew. Möglicherweise kann er dich mit der Sache loswerden. Auf der anderen Seite muss Gärtner aber auch damit rechnen, selber in der Zelle zu landen. Momentan stehst du hoch im Kurs. Die Mannschaft hat Respekt vor dir. Unter dem Eindruck deiner Leistungen könnte man sein Vorgehen als Hochverrat auslegen. Er muss vorsichtig sein. Vielleicht wollte er in Theißen einen Verbündeten finden und hat schlichtweg nicht damit gerechnet, dass der sich dir anvertraut.«

»Theißen hat ähnlich geredet.«

»Natürlich. Ist ein fähiger Mann.«

»Gut. Ich mache es.« Pause. »Kann man Theißen vertrauen?«

»Ich kenne ihn seit Jahren. Wenn er wollte, dass du aufläufst, hätten sie dich längst in die Brigg gesperrt. Und bevor du fragst, was ich von Gärtner halte. Mein Bauch sagt mir, dass mit dem Typen etwas nicht stimmt. Dass er ohne ersichtlichen Grund in den Datenbanken der Telekommunikation herumschnüffelt, bestätigt diesen Eindruck.«

»Wie soll ich mich ihm gegenüber verhalten?«

»Gib Gärtner den Befehl, der Drohne einen neuen Auftrag zuzuweisen.«

»Er hat im Moment keine Schicht.«
»Na und? Er soll sich darum kümmern. Dann hat er nicht das Gefühl, dass du mauschelst. Gib ihm ein paar grobe Anweisungen, die er nach eigenem Ermessen ausführen soll. Du musst ihn mehr einbinden. Dann kannst du ihn besser kontrollieren. Manchmal ist es schlauer den Feind in seiner Nähe zu haben. Außerdem ist das die beste Waffe gegen Argwohn.«

»Okay. Was noch?«
»Hol mich hier heraus.«

Torbeck beendete das Gespräch. Ihr war übel. Sie konnte nicht sagen, warum. Aufregung, Alkohol am Morgen, Schlafmangel, Hunger? Vermutlich handelte es sich um eine Gemengelage. Sie entschied sich in die Messe zu gehen und sich eine Kleinigkeit zu Essen zu besorgen, auch wenn sie sich bei dem Gedanken schütteln musste. Auf dem Weg durch die Gänge kontaktierte sie Gärtner. »Tut mir leid, dass ich Sie wecke.«
»Ich habe noch nicht geschlafen.«

Sie erteilte ihm den Auftrag, sich um die Drohne zu kümmern. »Vorrang hat die Aufklärung von Flughäfen und militärischen Anlagen in der Region. Wenn Sie diesbezüglich keine Feststellungen haben, beordern Sie die Drohne zurück und klären die Flugzeugwracks auf. Möglicherweise haben wir noch irgendwo einen versprengten Piloten in der Nähe.«

»Verstanden. Ich mache mich auf den Weg.«

Das sollte ihm ein wenig den Wind aus den Segeln nehmen. Blieb zu hoffen, dass das als Beschäftigungstherapie reichte.

Die Messe sah im Wesentlichen nicht anders aus als andere Kantinen auf der Welt. Allerdings hingen an den Wänden riesige Flachbildschirme, die eine Fensterfront simulierten und den Eindruck erwecken sollten, man befände sich auf einer Berghütte. Es schien, als würde man auf einen endlosen Wald hinabblicken, der sich bis an den fernen Horizont erstreckte. In der Messe befanden sich an die fünfzig Männer und Frauen, die mit frühstücken beschäftigt waren. Torbeck sah niemanden, den sie kannte. Sechshundertvierunddreißig Menschen arbeiteten und lebten in dem Bunker. Jeder von ihnen schleppte seine eigenen Gedanken und Ängste mit sich herum. Jeder von ihnen schmiedete Pläne. Wie wenig sie von dem Leben der anderen wusste. Die Stimmung im Raum glich der einer Totenwache. Nur hin und wieder drang leises Getuschel an ihr Ohr. Sie stellte sich an die Essensausgabe, packte sich lustlos ein Sandwich auf ihr Tablett und füllte sich einen Becher mit Kaffee. An der Wand hing eine Uhr. Es war 09:43 Uhr. Noch siebzehn Minuten, dann würde sich das Zeitfenster schließen und Fieber Kattas Telefon ausschalten. Sollte sie anrufen? Was sollte sie sagen? Sie konnte nichts mehr tun, als ihnen Glück zu wünschen. Das strapazierte den Akku und brachte nichts ein. Aber die Versuchung mit Katta zu reden war fast unwiderstehlich. Nach kurzem Suchen fand sie einen leeren Tisch und setzte sich. Dann klappte sie das Sandwich auf und stellte fest, dass es mit Thunfisch belegt war. Sie hasste Fisch. Torbeck lehnte sich zurück, nahm ihr NanoCom vom Gürtel und rief Danielsen an. Als der Professor sich meldete, legte sie ohne Begrüßung los. »Wie steht es mit dem Infizierten? Haben Sie da Neuigkeiten für mich?«

»Wir wissen jetzt, dass Infizierte unfähig sind, die einfachsten kausalen Zusammenhänge zu erkennen. Das Gehirn ist dermaßen angegriffen, dass sie sich nicht einmal Wasser zu sich nehmen. Das ist eine gute Nachricht. Ihre Lebenserwartung ist gering. Allerdings hat der Virus umfangreiche Veränderungen des Stoffwechsels bewirkt, sodass ich nicht sagen kann, wie lange sie in diesem Zustand existieren können.«

»Wie sieht es mit dem versprochenen Test aus? Ich habe Leute in der Quarantäne, die mich fragen, wie lange sie noch da drin bleiben müssen.«

»Geben Sie mir noch mehr Zeit.«

»Wie viel mehr?«

»Wir bemühen uns.«

Torbecks Gesichtszüge verhärteten sich. »Ich will meine Männer wieder haben.«

»War das alles?«, fragte Danielsen.

»Ja.«

»Und deswegen stören Sie mich bei der Arbeit?«

Torbeck schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. Einige der anderen Gäste in der Messe blickten auf. »Genau deswegen. Ich will meine Männer zurück. Soll ich Ihnen das buchstabieren?«

»Ich tue, was ich kann.«

Torbeck fuhr wieder runter. »Da wäre noch etwas. Wie sieht es mit der Zusammenstellung der Forschungsergebnisse aus? Ich hatte Sie darum gebeten.«

»Das ist fertig«, sagte der Professor.

»Ist es möglich, die Daten über das Internet zu senden?«

»Das kann ich nicht sagen. Vom Internet ist nicht mehr viel übrig. Außerdem können wir das Exposé nur an die jeweiligen Postfächer verschicken. Ob da jemand reinschaut, ist ungewiss.«

»Versuchen Sie es.«

»Verstanden.« Der Professor beendete das Gespräch.

Aus den Augenwinkeln sah sie, dass sich jemand an ihren Tisch gestellt hatte. Torbeck blickte hoch.

»Darf ich mich zu Ihnen setzen?«, fragte Dr. Keim.

Eigentlich wollte sie das nicht, scheute sich aber den Mathematiker vor den Kopf zu stoßen. Außerdem war sie neugierig. Vielleicht hatte er etwas über die außergewöhnliche Sonnenfinsternis herausgefunden. »Natürlich. Bitte.«

Keim setzte sich ihr gegenüber. Torbeck fiel auf, dass er sich nichts zu essen geholt hatte. »Haben Sie keinen Hunger?«

»Dafür habe ich keine Zeit.«

»Niemals?«

Er lachte. »Derzeit bin ich noch gezwungen hin und wieder meine Arbeit zwecks Nahrungsaufnahme zu unterbrechen. Aber ich arbeite an dem Problem.«

Torbeck würgte einen Bissen ihres Thunfischsandwichs herunter und verzog angewidert das Gesicht. »Wenn Sie eine Lösung gefunden haben, sagen Sie mir bitte Bescheid.« Sie schmiss das Sandwich zurück auf den Teller. »Haben Sie etwas über diese Sonnenfinsternis herausgefunden?«

»Deswegen wollte ich mit Ihnen reden.« Er zögerte kurz. »Außerdem habe ich ein Anliegen an Sie.«

Torbeck nahm einen Schluck Kaffee. Der war eindeutig besser als das Essen. »Ich höre.«

»Sie erinnern sich an unsere Besprechung?«

»Ich bin nicht debil.«

Keim zuckte zusammen. »So meinte ich das nicht. Entschuldigen Sie.«

»Vergessen Sie es. Ich muss mich entschuldigen. Mein Nervenkostüm ist derzeit etwas angespannt.«

Keim nickte. »Eine wichtige Frage wurde nicht angesprochen. Es schien auch niemanden zu interessieren.«

»Was meinen Sie?«

»Die Frage, wie der Virus entstanden ist.«

»Ist das wichtig? Ich meine, was hilft es uns, wenn wir das wissen?«

»Das können Sie nur sagen, weil Sie das Offensichtliche nicht erkennen.«

Arrogantes Arschloch. Torbeck bemühte sich, nicht wütend zu werden. »Was ist denn das Offensichtliche?«

»Dass der Virus künstlich ist. Das liegt auf der Hand.«

»Künstlich. Ich dachte, der Virus sei Millionen von Jahren alt.«

»Ist er auch.«

»Aber warum glauben Sie dann, dass er künstlich ist.« Sie stand wirklich auf dem Schlauch.

»MCHI ist ein artangepasster Virus, der jede Spezies auf der Welt infiziert hat. Er wird durch einen unbekannten Auslöser aktiviert und ist dann in der Lage, innerhalb kürzester Zeit eine ganze Art auszulöschen. Dabei nimmt er keinerlei Rücksicht auf seine eigene Erhaltung. Warum denken Sie, dass er nicht künstlich ist?«

Torbeck dachte nach. Wenn Keim das so zusammenfasste, dann klang das wirklich nicht nach Mutter Natur. »Aber der Mensch kann den Virus nicht erschaffen haben.«

»Das habe ich auch nicht behauptet.«

»Wer dann?«

»Wissen Sie, warum ich Mathematiker geworden bin?«

»Keine Ahnung. Weil Sie dafür ein Talent besitzen?«

»Ich bin Mathematiker geworden, weil die Mathematik eindeutig ist. Hat man eine ausreichende Menge an Informationen zu einem Problem und wendet auf diese Informationen die richtigen Regeln an, dann ist das Ergebnis die Wahrheit. Keine verfälschenden Gefühle, keine verzerrenden Lügen. Nur Wahrheit. Nur leider ist es schwer, andere von der Wahrheit zu überzeugen. Sie erkennen die Logik nicht. Für viele Menschen sind mathematische Beweise im besten Falle eine Art von Zauberei. Im schlimmsten Falle nichts weiter als Taschenspielertricks.«

»Spannen Sie mich nicht auf die Folter. Woher kommt der Virus?«

Keim seufzte wie ein Mann, dem klar war, dass sein Vortrag keinen Sinn hatte. »Vielleicht sollte ich Ihnen etwas über die Sonnenfinsternis erzählen. Es ist Teil meiner Beweisführung.«

»Nur zu.«

»Eigentlich kommt nur ein fremder Planet infrage. Aber zwei Dinge sprechen gegen einen interstellaren Irrläufer. Erstens hätte man ihn längst entdecken müssen. Selbst wenn man davon ausgeht, dass er mit einer hohen Geschwindigkeit in unser Sonnensystem eingedrungen ist, so verbleiben doch Jahre oder wenigstens Monate, um auf ihn aufmerksam zu werden. Zum einen, weil er sichtbar ist. Zum anderen, weil das Eindringen einer so großen Masse Auswirkungen auf die Bahnen der anderen Planeten hätte. Der Himmel wird stark durchmustert und beobachtet. Sternwarten, Satelliten, Amateurastronomen. Irgendjemand hätte etwas bemerkt.«

»Und zweitens?«

»Ein Planet, der in über einen so langen Zeitraum in der Lage ist, die Sonne zu verdunkeln, müsste bei der Erde schwerwiegende Bahnstörungen verursachen.«

»Was wiederum das Wetter beeinflusst.«

»Richtig. Die Auswirkungen wären so gewaltig, dass wir sie bemerken müssten.«

»Das sagten Sie bereits alles, als Sie im Leitstand waren.«

»Es bleibt nur eine vernünftige Erklärung. Der Körper muss einen sehr großen Durchmesser haben und darf dabei nur eine geringe Masse besitzen.«

»Was soll das sein?«

»Eine Scheibe.«

»Eine Scheibe? Eine Art Sonnenschirm?«

»Kann man so nennen.«

»Und wie hat sich diese gewaltige Scheibe angenähert?«

»Entweder mit der Kante in unsere Richtung. Dann wäre sie kaum zu erkennen. Oder sie besteht aus einem Material, dass keine Lichtwellen reflektiert.« Keim zog die Stirn kraus. »Allerdings würde die Scheibe dann bei der Passage den Sternenhintergrund verdunkeln. Das hätte man möglicherweise feststellen können. Es sei denn sie verfügt über eine Lichtbeugungstechnologie, die...«

»Halt. Wer verfügt über was und warum?«

»Eine solche Scheibe muss künstlichen Ursprungs sein.«

»Außerirdische?«

»Natürlich.«

»Wie kommen Sie darauf?«

Keim schaute irritiert, als hätte sie eine besonders dumme Frage gestellt. »Weil Menschen nicht in der Lage sind, so etwas zu bauen.«

»Gibt es keine andere Alternative?«

»Doch. Ich zweifle aber daran, dass sie Ihnen gefallen wird.«

»Die wäre?«

»Gott.« Torbeck sagte nichts. »Sehen Sie. Der Virus wurde aktiviert und jetzt kommen die Schöpfer auf den Plan. Oder halten Sie beide Ereignisse für einen Zufall? Erst der Ausbruch der Seuche und dann das plötzliche Auftauchen eines gigantischen Objektes, das die Sonne verdunkelt.«

»Das kann nicht sein.«

»Warum nicht?«

»Weil...« Warum eigentlich nicht? Weil sie Atheistin war und weder an Gott noch an Außerirdische glaubte? Das war den Außerirdischen und Gott womöglich völlig schnuppe. Sie musste an die Psychologin denken. Hatte sie nicht das ein oder andere Male auf Gott verwiesen? »Denken Sie das wirklich?«

»Natürlich. Das ist der Vorteil, wenn man Mathematiker ist. Ich nehme Lösungen an, wenn sie auf korrekten Annahmen beruhen.«

»Gott?«

»Nun, Gott möchte ich eigentlich aus der Betrachtung ausschließen.«

»Warum?«

»Wenn Gott die Ursache ist, dann spielt es überhaupt keine Rolle, wie wir uns verhalten. Dann sind wir völlig seinem Willen ausgeliefert.«

»Und bei Außerirdischen?«

»Außerirdische sind Lebewesen wie wir. Sie unterliegen den Naturgesetzen. Zumindest sollten wir das hoffen.«

»Sie wollen damit sagen, dass wir etwas gegen sie ausrichten könnten.«

»Im direkten Vergleich zu Gott ist die Antwort ein eindeutiges Ja.«

Torbeck wusste nicht mehr, was sie sagen sollte. Ihr Schweigen nutzte Keim aus und überflutete sie mit einer unüberschaubaren Anzahl von mündlich vorgetragenen mathematischen und philosophischen Beweisen. Sie verstand nur Bahnhof. Schließlich hob sie die Hände und versuchte Keim zum Schweigen zu bringen. »Hören Sie damit auf. Ich glaube Ihnen, dass Sie davon überzeugt sind.«

»Sie aber nicht.«

»Sie verlangen eine Menge. Was sagt Danielsen dazu? Sie haben doch sicher mit ihm darüber geredet.«

Keim lachte. »Natürlich habe ich das. Viele Male.«

»Und?«

»Er drohte damit, mich aus dem Team zu schmeißen.«

»Also glaubt er Ihnen nicht. Was ist denn seine Theorie über die Herkunft des Virus?«

»Er hat keine. Die Frage blendet er als irrelevant aus. Ich denke, er hat Angst davor, dass ich recht habe.«

»Angenommen Sie haben recht. Wie hilft uns das weiter?«

»Die Frage bringt mich zu dem Anliegen, das ich an Sie habe. Wenn wir auch nur eine kleine Chance haben wollen, dann müssen wir versuchen, mit den Außerirdischen Kontakt aufzunehmen, um sie von ihrem Vorhaben abzubringen. Dazu benötige ich einen Großteil von ZERBERUS‘ Rechenleistung.«

»Warum kommen Sie damit zu mir? ZERBERUS ist Teil der Forschungsabteilung und damit hat Danielsen das Sagen.«

»Aber Ihnen untersteht die Gesamtanlage und damit auch die Forschung.«

»Das ist formal richtig, aber ich werde einen Teufel tun und mich als Laie da einmischen.«

»Das müssen Sie. Ich bin fest davon überzeugt, dass es unsere einzige Chance ist.«

»Darüber muss ich mit Danielsen reden.«

Keim wurde lauter. »Das können Sie sich sparen. Er wird Sie auslachen. Ich habe es schon oft genug versucht. Eher bringen Sie einen Esel dazu Klavier zu spielen.«

»Beruhigen Sie sich. Geben Sie mir Zeit über die Sache nachzudenken. Wie wollen Sie diese Kontaktaufnahme überhaupt bewerkstelligen? Was hat ZERBERUS damit zu tun?«

»Wenn Sie meiner Argumentation nicht folgen wollen und ich die Rechenleistung nicht bekomme, dann spielt das Wie der Kontaktaufnahme keine Rolle. Ich kann Sie nur auffordern möglichst schnell und gründlich nachzudenken. Die Zeit wird knapp.« Keim stand auf und verließ zügig die Messe. Torbeck sah ihm nach. Was sollte sie davon halten? Sie trank gerade den letzten Schluck von ihrem kalt gewordenen Kaffee, als ihr NanoCom zu piepen anfing. Ohne auf den Bildschirm zu schauen, nahm sie das Gespräch an und war überrascht mit Dr. Hartmann zu sprechen. »Wir haben ein Problem«, sagte der Chefarzt. »Wo sind Sie?«

»In der Messe.«

»Bitte bleiben Sie da. Ich hole Sie ab.«

Ein Problem. Was auch sonst. Sie kam sich vor wie in einem billigen Videospiel, wo man von einem Endgegner zum nächsten durch die Level jagte. Die Frage war, ob sie dieses Spiel auf Dauer durchhalten konnte.