18. Black Hawk

 

 

Karl Wiegner

 

Der Black Hawk flog im Nirgendwo. Das Safran der Wüste ging ohne sichtbaren Horizont in der Ferne in einen gelblichen Himmel über. In der Nähe der Stadt Nasiriya folgten sie dem schwarzen Teerband einer Straße. Endlich fanden Wiegners Augen einen Fixpunkt. Das bekämpfte die aufkommende Übelkeit. In der Ferne sah er, wie der Wüstensand abrupt seine Farbe ins Tiefschwarze änderte. Stimmen in seinem Kopfhörer. Die Besatzung unterhielt sich aufgeregt. Der Lärm der Rotoren verhinderte, dass er ein Wort davon verstand. Der Hubschrauber flog eine Linkskurve, begleitete die Straße zwischen einer Kette von Hügeln hindurch. Der Hauptmann neben ihm tippte auf seine Schulter, kam ihm nahe, schrie gegen den Maschinenlärm an. »Rosborfomen.«

Wiegner schüttelte den Kopf. »Was?«

Der Hauptmann hob Wiegners Kopfhörer an. »Phosphorbomben.« Sein Arm deutete nach draußen. Wiegners Blick folgte dem ausgestreckten Zeigefinger. Da sah er es.

Auf der Straße gab es einen Stau. Hunderte von Fahrzeugen reihten sich aneinander. Einige Laster, viele Pkw. Der Hubschrauber flog tiefer, der Pilot drosselte die Geschwindigkeit. Die Fahrzeuge waren rußschwarz. Wieder brüllte sein Sitznachbar ihm ins Ohr. Die Stimme schmerzte in seinem Kopf, war trotzdem kaum zu verstehen. »Siehst du die Motorhauben? Sind alle offen. Durch die Hitze. Kühler explodiert. Keine Scheiben mehr. Siehst du? Geschmolzen. Weißer Phosphor. Heißer als die Hölle.«

Überall auf dem Boden lagen dunkle Steine verteilt. Der Black Hawk stoppte, schwebte in der Luft. Die Männer vorne im Cockpit hatten etwas bemerkt. Der Hubschrauber sank. Wiegner konnte den Blick nicht von den Steinen wenden. Sie sanken weiter, hingen nun zehn Meter über dem Sand. Langsam nahmen die Steine Konturen an. Das waren keine Steine. Wiegner erschrak, als er die Leichen erkannte.

Die Menschen hatten versucht zu fliehen. Aber das Bombardement war so großflächig angelegt gewesen, dass es kein Entkommen gegeben hatte.

Wiegner beugte sich aus der geöffneten Bordtür. Durch das Feuer waren die Menschen geschrumpft, aber die Proportionen stimmten noch. Er sah einen größeren Körper, der halb auf einem kleineren lag. Mann und Frau? Frau und Kind?

Wiegners Mund war trocken. Die Wüste knirschte zwischen seinen Zähnen. Der Hubschrauber sackte ein weiteres Stück nach unten, während es seine Eingeweide nach oben hob. Der Wind der Rotoren kräuselte den Sand. Dann starteten die Motoren durch. Es gab einen Ruck wie in einem alten Fahrstuhl und die Maschine begann zu steigen. Eine der Leichen direkt unter ihnen drehte sich auf den Rücken, öffnete die Augen. Ihr steifer Arm zeigte nach oben, deutete auf den Hubschrauber. Das war keine Leiche. Das war kein Arm. »Angriff!« Wiegner schrie, so laut er konnte. Die Amis verstanden kein Deutsch. Er suchte nach englischen Worten hatte, alle vergessen.

Ein Feuerstrahl griff nach dem Hubschrauber. Wiegner wurde nach rechts geworfen. Die Maschine legte sich auf die Seite. Aus einem Seitenfenster sah er einen Strahl aus weißen Abgasen in den Himmel steigen. Die Rakete hatte den Hubschrauber verfehlt. Es klang, als ob der Black Hawk mit Kieselsteinen beworfen wurde. Ein lautes prasselndes Geräusch. In der Cockpitscheibe entstanden unzählige kleine Löcher. Etwas zerplatzte und spritzte alles mit roter Farbe voll. Der Helikopter drehte sich wie ein Kinderkreisel. Wiegner hatte keine Angst mehr, wollte nur noch, dass das Drehen aufhörte.

 

Als er die Augen öffnete, sah er einen Warnaufkleber vor sich schweben. Don't pull while airborne, stand darauf. Da sie nicht mehr flogen, rüttelte er an dem Hebel, der sich unterhalb befand. Nichts rührte sich. Wiegner drehte seinen Kopf nach rechts und wunderte sich, dass er Wüstensand sah. Die Seitenverkleidung fehlte, war beim Aufschlag weggeplatzt. Langsam begriff er, dass sie abgestürzt waren. Seine Beine waren eingeklemmt. Er versuchte sich zu befreien, merkte schnell, dass es sinnlos war. Schließlich gab er auf. Unter dem zerbeulten Blech war es unglaublich heiß. Seine Lippen platzten auf. Er schloss die Augen.

Als er sie wieder öffnete, sah er einen Araber neben sich knien. Der Mann hielt ein Gewehr und lächelte ihn an. Sein Gesicht war ein Totenkopf, überspannt mit dunkel gegerbtem Leder. Er richtete das Gewehr auf ihn. Sein Grinsen wurde breiter. »Bum.«

Wiegner zuckte zusammen.

Der Mann wiederholte das Spiel.

»Bum.« Zucken. »Bum.« Zucken. Wiegner konnte nicht anders. Dann sagte er: »Hör auf damit.«

Der Witzbold legte die Stirn in Falten, sprach auf Arabisch. »Ich kann dich nicht verstehen.« Der Lederkopf stand auf und ging weg. Wiegner schloss die Augen. Als er sie erneut öffnete, beugten sich drei Männer über ihn. Einer sprach ihn auf Englisch an: »Where do you come from?«

»Ich bin Deutscher.«

»What?«

»German.«

Die Männer diskutierten miteinander. Am Ende wurde ihm eine kleine Flasche Wasser zugeworfen. »Deutsch gut. Macht viel Juden tot.« Dann standen die Männer auf und ließen ihn alleine.

Wiegner schraubte die Flasche auf und trank sie in einem Zug leer.

Er machte die Augen zu. Er machte sie wieder auf.

Wenn er überlebte, würde er ein Buch schreiben. Titel. Wie Hitler mein Leben rettete.

Er machte die Augen zu. Er machte sie wieder auf.

Es war dunkel. Da waren Geräusche. Ein Kaninchen hoppelte heran. Gab es Kaninchen in der Wüste? Da waren noch mehr. Sie kamen näher. Einige öffneten das Mäulchen, zeigten ihre winzigen messerscharfen Zähne. Was war das? Er musste sich zusammenreißen. Das waren Halluzinationen. Die Halluzinationen hoppelten in Richtung seiner Beine, verschwanden unter den verbogenen Blechen. Die fraßen ihn auf. Die fraßen an seinen Beinen herum.

Er schrie.

Und fiel aus dem Bett.

Er hatte einen Albtraum gehabt. Langsam kam er zu sich und kletterte zurück auf die Matratze. Stückweise kehrte die Erinnerung an den Traum zurück. Die Überraschung blieb aus. Es war der gleiche Traum, der ihn schon Hunderte Male aus dem Schlaf gerissen hatte. Das Erlebnis lag über zwanzig Jahre zurück. Blutjung war er gewesen, als er einen Verbindungsoffizier in den Irak begleitet hatte. Zusammen mit dem Hauptmann hatte er von einem amerikanischen Offizier die Einladung zu einem Erkundungsflug erhalten. Da Deutschland an dem Krieg nicht beteiligt war, waren der Hauptmann und er offiziell nicht anwesend. Sie trugen zivil. Wiegner hatte als Einziger den Absturz des Hubschraubers überlebt. Als die Rettungsmannschaft ihn fand, war er völlig dehydriert. Im Krankenhaus erkundigte er sich als Erstes danach, ob es in der Wüste Kaninchen gab. Das wurde verneint. Die Antwort konnte ihn nicht wirklich zufriedenstellen. Drei Dinge waren ihm von damals geblieben. Der immer wiederkehrende Albtraum, seine Klaustrophobie und ein Unbehagen, wenn er Kaninchen sah.

Er hatte gelernt, den Raummangel im Bunker zu ertragen. Allerdings galt das für den normalen Betrieb von Fenris. Einen Betrieb, bei dem er jederzeit die Anlage verlassen konnte, bei dem er in aller Regel in seinem eigenen Bett aufwachte. Jetzt war er gefangen. Niemand würde ihm die Tür öffnen, nicht einmal, wenn er Aila die Kündigung auf den Tisch legte. Der Berg lastete auf ihm, als wolle er aus seinem Ich einen Diamanten pressen. Er hätte diesen Job niemals annehmen dürfen. Er war gesundheitlich völlig ungeeignet. Das war verantwortungslos von ihm gewesen, das musste er sich eingestehen. Wiegners Quartier bestand aus einem zehn Quadratmeter großen Wohnbereich und einem winzigen Bad mit Dusche. In dem Wohnbereich befanden sich ein Bett, ein Schreibtisch und ein Kleiderschrank. Aus einer der kahlen Wände hingen Drähte heraus. Hier sollte in einigen Tagen ein Flachbildschirm installiert werden. Das konnte er sich wohl abschminken.

Er zwang sich aufzustehen und machte drei Schritte. Nun stand er direkt vor einer der Wände. Mit der flachen Hand drückte er gegen den Beton. Wiegner wusste, dass hinter der fünfzig Zentimeter dicken Betonschicht mindestens einhundert Meter Granitgestein folgten. Wenn er die Augen schloss, dann konnte er es fühlen. Abertausende Tonnen Gestein drückten aus allen Richtungen in das Zentrum seines Quartiers, nur aufgehalten von ein wenig Beton und einem dünnen Anstrich mit Wandfarbe. Seinem Verstand war klar, dass das nicht stimmte. Aber was nützte ihm das, wenn er die Massen fühlen konnte, die in jeder Sekunde versuchten, ihn zu erschlagen.

Als sich das ComSys bemerkbar machte, löste er die Hand von der Wand. In Zeitlupe ging er zum Schreibtisch, tippte den Bildschirm an. Torbecks Gesicht erschien auf dem Bildschirm. »Karl. Wie siehst du denn aus?«

»Was?«

»Du bist kreidebleich.«

»Ich glaube, ich hatte einen Albtraum.«

»Vielleicht auch mehrere.«

»Was gibt es?«

»In fünfzehn Minuten haben wir eine Besprechung.«

»Ja. Okay.«

»Ebene Zwei. Besprechungsraum.«

»In Ordnung. Wie spät ist es?«

»Acht Uhr morgens.«

»Morgens«, wiederholte er. Das Beleuchtungssystem der Anlage simulierte die Tageszeiten, aber ihm half das nicht. Er hatte bereits jetzt jedes Gefühl für Tag und Nacht verloren. »Wie geht es dir?«, fragte er. Er musste sie ablenken, wollte auf keinen Fall über seinen Gemütszustand diskutieren.

»Wie soll es mir gehen?«

»Du hast gestern einen Hubschrauber abgeschossen.«

Torbeck zögerte einen Moment. »Mir geht es gut.« Sie räusperte sich. »Karl?«

»Ja.«

»Meinst du, ich habe richtig gehandelt?«

»Das hast du.«

»Bist du sicher?«

»Hundertprozentig.«

»Wir sehen uns bei der Besprechung.« Der Bildschirm wurde schwarz. Wiegner stand auf. Seine Uniform klebte ihm am Körper. Als er sich gegen 4:00 Uhr in voller Montur auf sein Bett gelegt hatte, war er sofort eingeschlafen. Der Albtraum hatte ihm den Schweiß aus dem Körper gedrückt. Er ging zum Wandschrank und zog sich eine neue an. Im Bad drehte er den Wasserhahn auf, schaufelte sich mit den Händen Wasser ins Gesicht und sah kurz in den Spiegel. Dann griff er in eine Tasche mit Rasiersachen, brachte ein orangefarbenes Röhrchen zum Vorschein, auf dem ein Etikett aufgeklebt war. Trizyklisches Antidepressivum. Er öffnete das Röhrchen, schüttete vorsichtig zwei Pillen in die Handfläche und warf sie sich mit einer schnellen Bewegung in den Mund.