24. Schuldfrage

 

Demir Kara

 

»Wir müssen hier weg«, schrie Katta von der Rückbank.

»Was? Was?« Bilal fuhr im Slalom um verlassene Autos herum, kurbelte an dem Lenkrad wie auf einem ADAC-Schleuderkurs.

»Fahr langsamer.« Demir stemmte instinktiv die Beine gegen das Bodenblech. »Wir müssen aus der Stadt raus. Das geht nur, wenn du die Kiste nicht zu Schrott fährst. Schnallt euch an.«

»Was soll ich?«, rief Katta.

»Du sollst dich anschnallen.« Demir schaffte es, seinen Gurtclip einrasten zu lassen. Der Audi holperte über den Bürgersteig. Das war zu eng. Metall auf Metall. Ein Geräusch, das wehtat. Der Lack wurde abgeschliffen. Sie bogen in die Neue Mainzerstraße ein, schlängelten sich zwischen den Hochhäusern hindurch. Demir drehte sich zu Katta um, die durch die Heckscheibe nach hinten sah. »Wie sieht es aus?«

»Nichts.« Sie schrie auf. »Doch. Sie rennen hinter uns her.«

Sofort trat Bilal auf das Gaspedal. Der Wagen sprang nach vorne. »Du sollst nicht so schnell fahren. Da ist alles dicht. Versuch es links.« Bilal lenkte den Audi in die Junghofstraße. Sie passierten die Grünanlage. »Rechts geht nicht«, brüllte Bilal an der nächsten Kreuzung.

»Dann eben links.« Demir sah seinen ehemaligen Mittäter an. »Warum lebst du eigentlich?«

Bilal war so weiß im Gesicht, als wollte er bei einem Barocktheater anheuern. »Wer sagt, dass ich lebe?« Zweihundert Meter vor ihnen stand ein Lkw quer auf der Fahrbahn.

»Da links rein.«

Bilals Blick folgte Demirs ausgestrecktem Zeigefinger. »Das ist eine Einbahnstraße.«

»Bist du dumm? Fahr da rein!«

Sie schlingerten in die Karlsstraße. Sie waren jetzt im Bahnhofsgebiet. Der Hauptbahnhof war Luftlinie keine fünfhundert Meter entfernt.

»Du sollst langsam machen.« Demir drehte sich um. »Wie sieht es aus?«

»Kann keinen mehr sehen.«

Vielleicht verloren sie die Spur. Die rannten zwar wie die Hölle, aber schneller als ein Auto waren sie nicht. Aber was hieß die Spur verlieren? Es gab ganz sicher noch viel mehr von denen. Sie fuhren durch die Moselstraße, vorbei an dem Druckraum, vor dem an besseren Tagen die Junkies herumlungerten. »Hier sind eine Menge Leichen«, sagte Bilal.

»Solange sie liegen bleiben.« Demir war alles egal. Er wollte aus diesem dreckigen Frankfurt heraus. An der Kreuzung Moselstraße Ecke Taunusstraße blieben sie stehen. »Was jetzt?« Demir sah sich um. Sich nach links in Richtung Innenstadt zu wenden, ergab wenig Sinn, da würden sie wieder dahin zurückfahren, wo sie herkamen und das wollte keiner von ihnen. Geradeaus ging es nicht. Verlassene Autos verstopften die Straße wie ein Blechkorken. Rechts Richtung Hauptbahnhof sah auch nicht verlockend aus, schien aber die einzige Alternative zu sein. Die Straße sah passierbar aus, jedenfalls bis zur nächsten Ecke. »Rechts«, sagte Demir.

»Da geht es zum Bahnhof. Da sind die Straßen sicher auch verstopft.«

»Fahr rechts oder flieg über die Autos vor uns. Oder willst du wieder zurück?«

»Scheiße.« Bilal lenkte den Wagen nach rechts in die Taunusstraße. Nach hundertfünfzig Metern war sie zu Ende.

»Scharf links.« Sie fuhren jetzt Richtung Baslerplatz. Der Bahnhof befand sich zu ihrer Rechten. Auf dem Bahnhofsvorplatz lag eine unüberschaubare Anzahl von Körpern herum.

»Sieht scheiße aus«, sagte Bilal.

»Dafür sieht die Straße gut aus«, meldete sich Katta von hinten.

»Ja.« Bilal gab Gas. Sie flogen am Bahnhof vorbei, schossen auf den Basler Platz zu.

»Du sollst nicht so... »

Von links kam ein Auto. Nein, es waren drei. Sie kamen über den Bürgersteig geholpert. Wer machte denn so etwas?

Nicht abstützen. Locker lassen.

Dann kam der Aufschlag.

Der gepanzerte Audi schob den X5 wie ein Spielzeug von der Straße. Sie hatten ihn am hinteren Kotflügel erwischt und in einen Kreisel verwandelt. Während der BMW über den Asphalt Pirouetten zog, flog Demir der Airbag um die Ohren. Ihm wurde schwarz vor Augen.

Als es wieder hell wurde, flog die Beifahrertür auf. Vor Demir stand ein Mann in Uniform, so wie er sie aus Actionfilmen kannte. Blut lief dem Actionmann in das Gesicht. Er war wütend und gestikulierte wild. »Ich lege euch alle um!« Dann sah Demir in den Lauf einer Maschinenpistole.