44. Dunkelheit

 

Markus Steller

 

Hatte man den Kern einer Sache erfasst, erschien sie einem plötzlich lächerlich simpel. Fieber musste ihn loswerden, bevor sie den Bunker erreichten. Waren sie erst einmal dort, endete seine Macht und er musste befürchten, dass Steller von den Zivilisten berichtete, die Fieber als Köder benutzt hatte. In der Konsequenz war es möglich, dass man ihn vor ein Militärgericht stellte. Es war natürlich überhaupt nicht klar, ob die im Bunker an solchen Dingen ein Interesse hatten, aber das Risiko würde Fieber nicht eingehen. Was die Sache für Fieber weiter verkomplizierte war, dass Katta auf keinen Fall dabei sein durfte, wenn der Kommandoführer ihn aus dem Weg räumte. Das Mädchen war für Fieber die Eintrittskarte in den Bunker, aber sie hatte philanthropische Züge und einen ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit. Das waren keine Eigenschaften, die bei Fieber hoch im Kurs standen. Wäre Katta nicht plötzlich aufgetaucht, dann hätte Fieber sie alle drei erschossen. Die Frau. Ihn. Und vor allem Anna. Das Dreckschwein hätte das Kind erschossen. Zeugen konnte er nicht gebrauchen. Danach hätte er sich damit gerechtfertigt, dass er geglaubt habe, auf Infizierte gestoßen zu sein. Ein grauenvolles Missverständnis.

Stellers persönliche Lage wurde langsam komplex. Er musste gegen die Infizierten kämpfen, dabei Anna beschützen und sich zeitgleich Fieber vom Hals halten. Dabei durfte er nicht vergessen, dass der einen Mittäter gehabt hatte. Steller konnte sich immer noch nicht daran erinnern, wer das gewesen war. Eigentlich genug Gründe einen allumfassenden Nervenzusammenbruch zu erleiden. Seltsamerweise fühlte er sich gut. Geradezu euphorisch. Was hatte sein erster Ausbilder damals zu ihm gesagt? Ein alter Trapper lässt sich nicht so leicht in die Flinte pissen. So leicht nicht, mein Freund.

»Darf ich erfahren, was du hier gemacht hast?«, fragte Fieber. Der Rest der Gruppe war mittlerweile die Treppen hinuntergekommen. »Und wer ist das?«, setzte Fieber hinzu, bevor Steller ihm antworten konnte.

Steller legte den Arm um Annas Schultern. Sie hatte sich an seine Beine gedrückt. Die Putzfrau stand hinter ihm. »Das erkläre ich dir gleich. Wir sollten in die Station gehen. Dort gibt es etwas zu essen und zu trinken.«

»Ihr habt den Mann gehört.«

Während sich die anderen versorgten, sprach Steller mit Fieber unter vier Augen. Er berichtete ihm von seinem letzten Polizeieinsatz. Wie sie in die Wohnung eingedrungen waren, wie er Sarah mit aufgeschnittenem Hals aufgefunden und die kleine Anna sich zwischen den Möbeln versteckt hatte. Auch erzählte er Fieber, wie er dem Vater die Zähne ausgeschlagen hatte, sprach von seinen Schuldgefühlen und darüber, wie er sich eine Kugel in den Kopf jagen wollte. Steller wurde nicht ein einziges Mal unterbrochen. Am Ende nickte Fieber und sagte: »Du hast die Nachhut gebildet und uns im Stich gelassen. Das ist unverzeihlich. Wir hätten draufgehen können.« Fieber ließ Steller stehen und verließ den Raum. War das alles, was das Arschloch zu sagen hatte? Nach kurzem Zögern folgte Steller ihm. Als sie wieder bei den anderen waren, sprach Fieber die Putzfrau an: »Was ist Ihre Aufgabe in der Station?«

Sie sah kurz zu Steller hinüber. Fieber folgte ihrem Blick. »Ich bin Krankenschwester«, sagte sie.

Fieber lächelte. »Okay.« Er richtete sich an Steller. »Das ist eine Fähigkeit, die man gebrauchen kann. Schön, dass der Zufall mal auf unserer Seite ist.«

Steller reagierte nicht.

»Was machen wir jetzt?«, fragte Demir. Katta saß neben ihm. Sie sah etwas besser aus.

»Wir nutzen das Tageslicht und verschwinden aus der Stadt«, sagte Fieber.

»Laufen wir?« Demir zeigte keine Begeisterung.

»Fliegen wäre mir auch lieber.«

»Wie verpflegen wir uns?«

Fieber zuckte mit den Schultern. »Das werden wir sehen. Wie ihr wisst, hat Kattas Mutter uns einen möglichen Weg aufgezeigt. Der basiert aber auf der Annahme, dass wir es mit einem Fahrzeug versuchen. Das werden wir nicht tun. Wir verlassen die Stadt zu Fuß auf dem kürzesten Weg. Wenn wir leise sind, dann halte ich das für sicherer, als wenn wir Motorenlärm produzieren. Wir sind praktisch schon am Stadtrand. Das schaffen wir. Am liebsten wäre mir die Kanalisation, aber nach den Geräuschen, die wir da gehört haben, halte ich das Risiko für zu groß.«

Zustimmendes Nicken aller Anwesenden. Die Gruppe nutzte die Zeit, um sich aus der Stationsküche zu versorgen. Fliege riss mit den Zähnen die Verpackung eines eingeschweißten Sandwiches auf und stopfte sich das Weißbrot in den Mund. Dann versuchte er, es ohne zu kauen mit dem Inhalt einer Dose Cola hinunterzuspülen. »Du sollst diesen Mist nicht saufen.« Fieber schlug Fliege die Dose aus der Hand.

Steller beobachtete die Szene. Anscheinend lagen die Nerven stärker blank, als es der erste Eindruck erahnen ließ. Aber das war ihm egal. Steller machte sich alleine Sorgen um Anna. Vor weniger als einer Stunde war er alleine gewesen. Einsam, aber ohne Sorgen. Jetzt hatte sich sein Herz geöffnet, nur damit die Angst ihm einen Zentner Steine hineinschmeißen konnte. Wie lange konnte sie laufen? Was sollten sie tun, wenn sie entdeckt wurden? Anna war viel zu langsam. »Bist du schon mal lange gelaufen?« Steller kniete sich hin und kontrollierte ihre Schnürsenkel.

»Das kann ich selber machen.«

»Was? Ja, klar. Sie müssen ganz fest sein, damit sie nicht von selber aufgehen.« Er sah ihr zu, wie sie an ihren Schuhen herumwerkelte.

»Zur Schule«, sagte Anna. »Früher bin ich zur Schule gelaufen.«

»Früher?«

»Ich darf nicht mehr zur Schule gehen. Der böse Mann hat es verboten.«

»Welcher böse Mann?«

»Papa.«

Steller schluckte. »Ich befürchte, wir müssen heute länger laufen.«

Anna nickte. »Läufst du mit mir?«

»Ich weiche nicht von deiner Seite.«

»Ich kann aber nicht so schnell rennen wie die Erwachsenen. Wenn die Monster kommen, lässt du mich dann alleine?« Die Frage war nüchtern gestellt. Er fasste sie an beiden Schultern. »Auf keinen Fall. Ich werde dich nie alleine lassen. Völlig egal, was geschieht.«

»Schwörst du das?«

»Ich schwöre es.« Steller war selber überrascht, wie überzeugt seine Stimme klang. Wenn es sein musste, würde er sie tragen. Wenn sie nicht fliehen konnten, würde er ihr den letzten Dienst erweisen und sich selber auch. Aber dazu durfte es nicht kommen.

»Dann ist es gut. Ist mir egal, wie lange wir laufen.«

Die Gruppe war abmarschbereit. Fieber sprach gerade mit Dallas, um die Marschordnung festzulegen. Steller beobachtete die beiden. Was sollte er gegen Fieber unternehmen? Den einzigen Trumpf, den er hatte, war, dass er wusste, dass der Kerl ihn umbringen wollte. Stellers Lage wurde mit jeder Minute schlechter. Mittlerweile war sein Wert für die Gruppe gesunken. Aus der Stadt herauszufinden war nicht weiter schwer. Allerspätestens am Stadtrand waren seine Ortskenntnisse bedeutungslos. Sein Zurückbleiben würde niemanden interessieren.

Sie verließen das Gebäude. Fieber und Schwede übernahmen die Spitze. Ihr Plan sah vor, sich südöstlich zwischen den Klinikgebäuden hindurchzuschleichen. Wenn alles gut ging, würden sie auf die Kennedyallee treffen, dann in den Stadtwald abtauchen und grob der A5 in Richtung Süden folgen. Nach Möglichkeit würden sie allen Ortschaften ausweichen.

Sie hatten hundert Meter zurückgelegt, als Steller bemerkte, dass es kühler wurde. Der Trupp blieb stehen. Er sah, dass Wolf und Schippe in den Himmel starrten. Steller legte seinen Kopf in den Nacken. Zunächst fiel ihm nichts Ungewöhnliches auf. Der Himmel war strahlend blau und das Licht der Sonne trieb ihm Tränen in die Augen. Das blieb nicht so. Mit jeder Sekunde wurde es dunkler. Etwas schob sich vor die Sonne, ließ bald nur eine grelle Sichel übrig. »Wir müssen umkehren«, sagte Steller. Vorne an der Spitze kamen sie zur gleichen Entscheidung. Fieber und Schwede drehten um und liefen zurück. Dann wurde es Nacht. Wo eben noch der blaue Himmel zu sehen gewesen war, standen jetzt Sterne am Firmament. »Seht euch das an«, sagte Bilal, der neben Steller stand.

Steller sah wieder nach oben und erkannte die Streifen, die sie in der letzten Nacht gesehen hatten. Aber jetzt waren sie erheblich länger. Bevor er sich über das Phänomen weitere Gedanken machen konnte, setzte ein Heulen an. Wie bei einem Martinshorn im Berufsverkehr konnte man unmöglich sagen, woher es kam. Fliege winkte, gab mit Handzeichen zu verstehen, dass sie sich ducken sollten. Alle gingen in die Hocke. Das war Mist. Der falsche Ort, um ein Picknick zu veranstalten. Steller unterdrückte den Impuls, auf die Beine zu springen. Vielleicht war jetzt der Moment gekommen, sich auf eigene Faust durchzuschlagen. Ganz in der Nähe hörte er einen Schrei. Die hatten sie entdeckt. Drei SEK-Männer sprangen auf. Dann begann es.

Tack, tack, tack.

»Es schießen nur die Schalldämpfer.« Fieber versuchte das Unmögliche. Leise zu schreien.

Steller hielt Annas Hand. Sein Griff wurde fester. »Du tust mir weh.«

»Bleib bei mir«, sagte er.

Die Angreifer kamen von vorne. Zwanzig oder dreißig. Ohne ein Kommando abzuwarten, rannte die Gruppe geschlossen den Weg zurück.

»Ich kann aber nicht so schnell rennen wie die Erwachsenen. Wenn die Monster kommen, lässt du mich dann alleine?« Das ging ja schneller als gedacht. Steller ließ die MP am Gurt baumeln und zog die Pistole. Die war handlicher.

»Die kommen von vorne«, schrie Dallas. Als sie sich auf den Weg gemacht hatten, war Dallas am Ende der Kolonne gelaufen. Nach ihrem hastigen Rückzug bildete er plötzlich die Spitze.

Sie wurden in die Zange genommen. Absicht oder nicht, die Jagdmethode der Infizierten war äußerst effizient. »Da lang«, schrie Bilal und rannte nach rechts, nahm einen schmalen Weg zwischen zwei Gebäuden hindurch. Die anderen folgten ihm. Steller versuchte, die Nerven zu behalten. Nicht so schnell. Er durfte nicht zu schnell rennen.

»Lauf schneller«, schrie ihn Anna an. Das musste sie ihm nicht zweimal sagen.