16. Fensterputzer

 

 

Demir Kara

 

Niemand redete. Die Gruppe stand im Halbkreis um die Dachtür verteilt. Nur Demir und das Mädchen nicht. Sie hielten Abstand vom Rest. Die Stille riss heftiger an den Nerven, als es der schlimmste Lärm gekonnt hätte. Nachdem das Hämmern an der Tür aufgehört hatte, quälte Demir derselbe Gedanke. Jeden Moment würde die Hölle losbrechen, die Tür auffliegen und die Verrückten würden sie in Stücke reißen. Bisher war das nicht geschehen. Wie lange warteten sie schon? Zwanzig Minuten? Die Frau in Rot brach das Schweigen als Erste: »Was machen wir jetzt?«

»Wir sollten nachsehen«, kam es aus der Gruppe. »Er hat recht.« »Ich will hier runter.« »Wir brauchen sowieso etwas zu essen.« »Ich habe solchen Durst.« »Ja.« »Genau.« »Los, mach die Tür auf.«

Alle sahen Demir an. »Was?« Er begriff nicht, was sie von ihm wollten. Dann fiel es ihm ein. Er trug die Chipkarte des Wachmanns in der Hosentasche. Das Mädchen aus dem Fahrstuhl sah ihn besorgt an. »Tu das nicht.«

Ein unnötiger Hinweis. »Ich schließe die Tür nicht auf.«

»Warum nicht?« »Hast du Schiss vor der Kleinen?« »Lass dir nichts einreden.«

»Die Tür bleibt zu. Wir haben keine Ahnung, ob die noch da sind. Das Risiko gehe ich nicht ein«, stellte Demir fest.

Die Bankerin bewegte sich in seine Richtung. »Vielleicht wollen wir das Risiko eingehen. Was ist die Alternative? Hier zu verdursten? Wer hat dich zum Anführer gewählt?«

Der alte Mann mit den weißen Haaren stellte sich neben sie. »Wer hat dich Bengel zum Chef gemacht?«

»Die Waffe macht mich zum Anführer«, antwortete Demir ruhig. »Das Thema hatten wir schon. Aber ich kann euch versichern, dass ich keinen Wert auf diese Rolle lege. Allerdings werde ich nicht wegen irgendeinem Bekloppten ins Gras beißen.«

»Scheißkanake.«

Demir wich zwei Schritte zurück, das Mädchen folgte ihm. Aber niemand versuchte, sich ihnen weiter zu nähern. Die Leiche des Wachmanns lag wie eine Mahnung zwischen ihnen und dem Rest der Gruppe auf dem Boden, schien abschreckend genug. Auf dem Dach kehrte Ruhe ein. Demir bemerkte, wie ihn das Mädchen von der Seite ansah. Er reagierte nicht. »Wie heißt du?«, wollte sie schließlich wissen.

»Demir.«

»Bist du Türke?«

»Nein. Isländer.«

»Arschloch.« Sie trat demonstrativ einen Schritt zur Seite.

Das war blöd gewesen. »Es tut mir leid. Ja, ich bin Türke. Wie ist dein Name?«

»Katta.«

»Ungewöhnlich.«

»Ich bin auch nicht gewöhnlich.«

»Warum hast du den Wachmann erschossen?« Eigentlich lag es auf der Hand. Demir zweifelte keine Sekunde daran, dass es sein Wunsch gewesen war. Trotzdem war er auf die Antwort gespannt. Einen Menschen aus Mitleid zu töten war eine der schwierigsten Handlungen, zu denen man sich durchringen konnte. Ein Gewaltakt, der die eigenen Gefühle ad absurdum führte.

»Wir konnten nichts für ihn tun. Es stellte sich nur die Frage, wie lange sein Leiden andauern würde.«

»Willst du damit sagen, dass du über sein Leben entschieden hast? Ich dachte, er hatte es so gewollt.« Demir sah sie erstaunt an. »Er hat gar nicht mit dir geredet.«

Katta legte die Hand vor den Mund. Ihre Augen glitzerten vor Feuchtigkeit. »Er war nicht mehr fähig zu sprechen. Aber es war die richtige Entscheidung. Es ist mir nicht leicht gefallen. Das musst du mir glauben.«

Demir fehlten die Worte. Mein Gott. Katta war wirklich nicht gewöhnlich. Das galt es erst einmal zu verdauen. Er beobachtete seine Füße, die im Kies scharrten. Auch wenn er gedankenverloren wirkte, hielt er mit einem Auge die Bande, die ihnen gegenüberstand, unter Beobachtung. Die restlichen Überlebenden standen dicht gedrängt zusammen und flüsterten. »Warum bist du bei mir geblieben?«, fragte er.

Sie sah ihn mit zusammengekniffenen Augenlidern an.

»Du weißt, wie ich das meine. Warum bist du nicht auch die Treppen nach unten gerannt?«

»Das wollte ich. Aber dann habe ich gesehen, wie du dem Wachmann geholfen hast. Du warst bemüht, jemandem zu helfen, den du selber verletzt hattest. In diesem Moment war ich davon überzeugt, dass das, was du sagtest, die Wahrheit war. Auch wenn ich es nicht wirklich glauben konnte. Außerdem warst du der Einzige, der nicht völlig die Kontrolle verloren hatte. Darum erschien es mir vernünftig, bei dir zu bleiben. Was nicht bedeutet, dass ich dich leiden kann.«

Demir nickte.

»Und?«, fragte Katta. »Warum hast du mir geholfen?«

»Nachdem du den Wachmann erschossen hast?«

»Ja.«

»Ich habe nicht die geringste Ahnung.« Mehr gab es erst einmal nicht zu sagen. Demir beobachtete weiter die anderen. Sie brauchten dringend eine Lösung.

Nach langen Minuten brach Katta das Schweigen. »Karl, ein Freund meiner Mutter, hat mir einmal gesagt, dass er eine schwere Entscheidung erst als solche erkennt, wenn er danach Angst vor dem Einschlafen hat. Ich habe das für wichtigtuerisches Gerede gehalten. Jetzt weiß ich, was er damit meinte. Ich glaube, ich werde lange nicht mehr schlafen können.«

Hatte sie Mutter gesagt? Er hatte selbst eine Mutter. Zum ersten Mal seit Ausbruch des Weltuntergangs dachte er an sie. Katta sah den Schrecken in seinem Gesicht. »Du hast sie vergessen.«

»Was?«

»Du hast deine Familie vergessen.« Bevor er etwas entgegnen konnte, fuhr sie fort. »Mir ging es genauso. Das ist der Schock.«

Pause.

»Wer ist dir eingefallen?«, fragte sie nach einer Weile.

»Meine Mutter.«

»Du kannst ihr nicht helfen. Hier und jetzt darfst du nur an dich selber denken. Alles andere schadet.«

Er musste nach Hause. Nachsehen, ob es ihr gut ging, ob sie lebte. Er durfte sie nicht im Stich lassen. Aber was konnte er unternehmen? Er fand ja noch nicht einmal eine Möglichkeit, dieses blöde Dach zu verlassen.

»Was wolltest du hier?«, fragte Katta nach einer Weile. »Ich meine, gestern Abend. Du warst wohl kaum auf die Party eingeladen.«

Demir war dankbar für die Ablenkung und antwortete spontan. »Wir haben einen Kurier überfallen.«

Sie zog die Augenbrauen hoch. »Du bist ein Gangster?«

»Ich bin ein Idiot.«

Katta lachte leise. In Anbetracht der Situation ein ungewöhnliches Geräusch. »Du sagtest wir. Wo sind die anderen?«

»Mein Kumpel hat es nicht geschafft.« Er sah sie an. »Was hast du hier gemacht? Arbeitest du bei der Bank?«

»Nein. Ich habe eine Freundin begleitet. Sie studiert BWL und hat über ihren Professor eine Einladung bekommen. Ich glaube, der Typ wollte was von ihr. Sie ist zum Auto gegangen, weil sie etwas vergessen hatte. Als du den...« Sie stockte. »Als du in den Fahrstuhl kamst, wollte ich sie suchen gehen.«

»Sie war draußen? Dann ist sie tot.«

Katta verzog das Gesicht zu einer Grimasse.

»Es tut mir leid, dass ich die Frau erschossen habe. Ich ha...« Sie schüttelte den Kopf und Demir verstummte.

Die Stille an der Tür hielt an. Nach einigen Minuten des Schweigens trat Katta näher an ihn heran und flüsterte: »Mit einer Sache haben die anderen recht. Momentan besteht unsere Idee darin, hier zu hocken und auf ein Wunder zu warten. Wir brauchen eine Alternative. Meine Mutter sagt immer: Ein schlechter Befehl ist besser als kein Befehl. Wenn du willst, dass die Leute ruhig bleiben, benötigst du einen Plan. Einen Plan, der sie beschäftigt.«

»Das sagt deine Mutter?«

»Ja.«

»Warum machst du das nicht?«

»Ich glaube, die mögen mich nicht. Außerdem folgt man bei Gefahr eher einem Mann.« Sie zuckte mit den Schultern. »Küchenpsychologie, erstes Semester.«

Erkannte Katta, in welcher Lage sie sich befanden? Sie beide waren jetzt Außenseiter. Demir fühlte den steigenden Hass der Gruppe. Er spürte regelrecht, wie sich die allgemeine Angst und Panik auf sie beide fokussierte. Wenn es den anderen gelang sie zu überwältigen, dann würden sie alles abbekommen. Die würden ihre gesamte Verzweiflung an ihnen auslassen. Er musste wachsam sein. »Sie werden uns umbringen«, flüsterte Demir.

»Was? Warum?«

Er erklärte es ihr.

»Das macht doch keinen Sinn. Wir sind nicht schuld an der Situation.«

»Du machst einen typischen Denkfehler. Es ist der gleiche Fehler, den die Leute machen, kurz bevor sie in der U-Bahn oder vor der Disco verprügelt werden. Sie denken, dass die Aggression keinen Sinn macht, und hoffen bis zur letzten Sekunde, dass die Schläger das einsehen. Statt sich zu wehren oder abzuhauen, fangen sie an zu diskutieren. Der Fehler liegt darin, dass die Aggression für den Schläger sehr wohl Sinn macht. Es ist einfach eine Form der Triebabfuhr. Nichts weiter als Druckablassen.«

»Und warum pöbeln die Schläger dann immer erst herum? Warum schlagen sie nicht gleich zu?«

»Weil auch das größte Arschloch eine Rechtfertigung braucht. Ohne Rechtfertigung keine böse Tat. Also wird so lange herumgemacht, bis man sich plötzlich beleidigt fühlt. Dann schalten sie in den Notwehrmodus. Oder was auch immer sie dafürhalten.«

»Und du meinst, dass die jetzt auch ein Ventil brauchen.« Sie deutete mit dem Kinn in Richtung der anderen Überlebenden.

»So ist es. Eine moralische Rechtfertigung haben sie schon.«

»Den Wachmann.«

»Ja.«

»Und wie geht es weiter?«

»Sie haben zwei Möglichkeiten. Die Erste ist, sie versuchen uns von verschiedenen Seiten gleichzeitig anzugreifen. Das wird klappen, aber ich werde einige von ihnen dabei erschießen. Die Zweite ist schlauer. Sie ruhen sich abwechselnd aus, halten uns gleichzeitig unter Stress und warten, bis wir zusammenbrechen. So würde ich das machen. Funktioniert auf jeden Fall.«

»Wenn wir nicht vorher verdursten.«

»Wir sind also so oder so im Arsch.«

»Woher weißt du, was sie vorhaben?«

»Ich kann in ihren Gesichtern lesen.«

»Du solltest Psychologie studieren.«

»Im nächsten Leben.« Demir musste an seine Schulzeit denken. Im Wesentlichen hatte er damals nur Schulverweigerer als Freunde gehabt. In solchen Kreisen war es üblich, schlechte Noten abzufeiern und um das eigene Versagen einen Kult aufzubauen. Demir hatte diesbezüglich keine Ausnahme gebildet. Außer einmal. Das war in der neunten Klasse gewesen. Damals hatten sie sich im Sozialkundeunterricht mit Psychologie beschäftigt. Sein Interesse war erwacht. Das Thema faszinierte ihn und er begann sich zu engagieren. Seine Freunde begannen, sich über ihn lustig zu machen und schimpften ihn einen Streber. Also ließ er es bleiben.

»Was machen wir jetzt?«, fragte Katta. Demir antwortete nicht. Sie öffnete den Mund, überlegte es sich anders und schwieg ebenfalls. Nach einiger Zeit sagte Demir: »Du behauptest, ein schlechter Befehl ist besser als gar kein Befehl.«

»Eine Aufgabe beschäftigt die Menschen. Dann kommen sie nicht so leicht auf dumme Ideen.«

»Ich habe vielleicht einen Plan.«

»Dann ist jetzt der richtige Moment, ihn mitzuteilen.«

Da hatte sie recht. Er musste die Gruppe ablenken. Irgendwie deren bösartige Gedankengänge durchbrechen. Demir trat einen Schritt vor. »Hört mal her.« Die anderen sahen ihn an.

Er erklärte seine Idee und ließ die Worte wirken. Die ersten Reaktionen ließen nicht lange auf sich warten. »Das ist nicht dein Ernst.« Der Mann vom Cateringservice schüttelte den Kopf. Auch der Rest der Gruppe schien nicht begeistert. Nur Katta lächelte. »Ich finde den Plan gut.«

»Die Mörderin findet den Plan gut.« »Dann soll sie ihn auch ausführen.« »Genau. Soll sie es machen.«

Demirs Idee war simpel. Am Dachrand stand, auf Schienen befestigt, eine Art Kran. Das Gebilde erinnerte an die Vorrichtung, mit der Rettungsboote zu Wasser gelassen wurden. Nur hing an den Seilen kein Rettungsboot, sondern eine Gondel für Fensterputzer. Mit der konnte man an der Fassade auf und ab fahren. Das Schienensystem erlaubte es zusätzlich, sich in der Waagerechten um das gesamte Gebäude zu bewegen. Demir würde mit dem Ding einige Stockwerke hinunterfahren. Genau gesagt bis zu der Etage, in der die Feier stattgefunden hatte. Dort würde er sich Zugang zum Toilettenbereich verschaffen. In der Gondel standen Eimer, die er mit Wasser füllen wollte. Demir hatte sich geärgert, als er die Eimer entdeckte. In der Nacht, als er nach einem Behälter gesucht hatte, um hineinzupinkeln, hatte er die von einer Plane umhüllte Gondel übersehen. Demir war sich ziemlich sicher, dass sein Plan trotz der spöttischen Kommentare auf Interesse stoßen würde. Durst quälte ihn und das sollte bei den anderen ebenso sein.

Eine Welle von Fragen schlug ihm entgegen. »Was ist, wenn der Strom ausfällt?«

»Dann muss ich kurbeln. Das Ding fährt auch mit Handarbeit.«

»Warum fahren wir nicht alle nach unten? Ich meine ganz hinunter?«

»Weil wir keine Ahnung haben, was dort unten auf uns wartet. Hier sind wir sicher. Wenn morgen immer noch alles ruhig ist, können wir darüber nachdenken.«

»Wenn wir Wasser haben, dann haben wir aber immer noch nichts zu essen.«

Das ließ sich nicht von der Hand weisen. »Verdursten geht schneller als verhungern«, mischte Katta sich ein.

»Aber wir verlieren an Kraft.«

»Vielleicht haben wir Glück und ich kann mich zum Büffet schleichen. Dann besorgen wir Essen und gewinnen vielleicht einen Eindruck, ob die Irren noch da sind«, sagte Demir.

»Die Idee ist bescheuert«, kam es aus der Gruppe.

Ob sie bescheuert war, konnte er nicht sagen. Aber als er sie ausgesprochen hatte, verdrehte es ihm im selben Augenblick vor Angst den Magen. »Das Risiko gehe ich ein«, sagte er.

»Ich nicht«, sagte einer der Bankangestellten.

»Bist du besorgt um mich?«

»Ich sorge mich um die Chipkarte.«

Gutes Argument. Daran hatte er nicht gedacht.

»Was machen wir, wenn die dich fressen und deine kleine Freundin es nicht schafft, mit dem Ding nach oben zu fahren? Dann sitzen wir für ewig auf dem Dach fest. Vielleicht hat das junge Paar auch keine Lust mehr zurückzukommen.« Die Worte des Bankers ernteten Zustimmung.

Was sollte er tun? Seine Waffe ziehen und die Karte mitnehmen? Das durfte er nicht. Schließlich konnte es tatsächlich sein, dass sie es nicht schaffen würden. »Gut«, sagte Demir, »dann lasse ich die Karte hier.« Damit gab man sich zufrieden. So wie es aussah, dachten die anderen nicht mehr daran sie zu schlachten. Die Hoffnung, ohne eigenes Risiko an Wasser zu kommen, war Anreiz genug. Das konnte Demir als Teilerfolg verbuchen. Sollte er tatsächlich mit Wasser zurückkommen, würde er mit den Leuten keine Probleme mehr haben. Er wandte sich an Katta. »Wollen wir?«

»Ich wusste nicht, dass ich mich freiwillig gemeldet hatte.«

»Möchtest du lieber bei denen bleiben?«

Sie blickte in die Runde. Wortlos kletterte sie vor Demir in die Gondel. Demir zog die Chipkarte aus der Hosentasche und überreichte sie Tamara. »Warum gibst du mir die Karte?«, fragte sie.

»Weil es am Ende egal ist. Wenn die Mehrheit die Karte will, spielt es keine Rolle, wer sie hat.«

Er wandte sich an die Gruppe. »Wir sind uns einig?«

»Die Tür bleibt geschlossen«, sagte einer der Banker. »Wir warten, bis ihr zurück seid. Dann entscheiden wir neu.«

»Gebt uns zwei Stunden.«

»In Ordnung.«.

Demir stieg in die Gondel und sah sich die Bedienelemente an. Sollte nicht schwierig sein. Er zog an einem Hebel. Ihr Gefährt ruckte und gewann Abstand zur Mauer. Katta quietschte. Demir hielt sich instinktiv an dem Geländer fest, schloss die Augen. Das Ding schaukelte wie eine Riesenradgondel im Sturm. Er musste sich zusammenreißen. Was sollte das? Die Fensterputzer fuhren ständig mit dem Teil herum und er machte sich gleich in die Hose. Er zwang sich die Augen zu öffnen, zog einen weiteren Hebel. Die Gondel bewegte sich langsam nach unten.