31. Gambit

 

Aila Torbeck

 

»Flugsicherungsradar meldet Kontakt.«

»Ich komme.« Torbeck sprang auf und verließ den Kommandantenraum. Sekunden später stand sie im Leitstand. »Meldung.« Seit sie in der Nacht den Hubschrauber abgeschossen hatten, hatte es nur noch einen Radarkontakt gegeben. Um 03:11 Uhr hatte eine Linienmaschine Fenris einhundertvierzig Kilometer nördlich aus westlicher Richtung kommend in Richtung Osten passiert. Torbeck hatte sich die Radaraufklärung auf einen der Hauptbildschirme legen lassen. In andächtiger Stille hatte sie gemeinsam mit dem Wachpersonal den blinkenden Punkt verfolgt. Sie hatte an die Menschen an Bord denken müssen. Die Maschine kam aus dem Nichts und verschwand im Nichts. Als der Kontakt den Radarbereich von Fenris verlassen hatte, überkam sie ein Gefühl der Trostlosigkeit. Seitdem war der Himmel im Umkreis von dreihundert Kilometern wie leer gefegt gewesen. Bis jetzt.

»Acht Flugkörper. Entfernung zweihundertneunzig Kilo. Geschwindigkeit eintausendvierhundertfünfzig Kilo. Aus Richtung Süd-Süd-West. In Richtung Zero.«

Überschallgeschwindigkeit. Das konnten nur Militärmaschinen sein und ihr Kurs führte sie direkt zu Fenris. Wie lange war das her, dass sie solche Dinge gelernt hatte? Viel zu lange. Sie war zwar Angehörige der Luftwaffe, hatte aber nie ein taktisches Kommando geführt. Der richtige Zeitpunkt, um schnell und tief in ihrem Gedächtnis zu kramen. Ausgerechnet jetzt war Karl nicht hier. Sie hätte ihm niemals erlauben dürfen, die Außenmission zu begleiten. Der Konvoi hatte um 13:00 Uhr die Anlage verlassen und vor wenigen Minuten gemeldet, dass sie den Aussiedlerhof erreicht hätten. Torbeck hatte die ganze Zeit bei der Einsatzkontrolle für die Außenmission gestanden, sich die Aufklärungsbilder der Drohne angesehen und den Funksprüchen gelauscht. Dann wurde es ihr zu viel. Sie konnte sich das nicht länger anschauen, das machten ihre Nerven nicht mit. Darum hatte sie sich in ihren Raum zurückgezogen. Jetzt stand sie wieder auf dem Leitstand. Alleine. Sie verschränkte die Hände auf dem Rücken. Ihre Finger verfingen sich in einen stillen Ringkampf, der ihre Knöchel knacken ließ. »Fragen Sie IFF-Code ab«, forderte sie.

»Verstanden. Frage IFF-Code ab.«

Der IFF-Code war Teil der elektronischen Freund-Feind-Kennung. Jede NATO-Maschine verfügte über einen Transponder, der auf Anfrage einen verschlüsselten Code sendete.

»Code ist positiv. Wiederhole: Freund, Freund, Freund.« Der Unteroffizier am Radarterminal wirkte erleichtert.

NATO-Maschinen. Der Gedanke, dass es dort draußen noch jemanden gab, der in der Lage war Strahlenflugzeuge durch die Welt zu schicken, brachte Torbeck zum Lächeln. Vielleicht ist nicht alles hoffnungslos. Sie wendete sich an den Funkarbeitsplatz. »Rufen Sie die Maschinen. Standardfrequenz.«

»Verstanden. Rufe Kontakte auf Standardfrequenz.« Der Funker rückte sein Headset gerade, bog sich das Mikrofon zurecht.

Der Soldat vom Radarterminal meldete: »Acht Kontakte. Entfernung zweihundertfünfundsiebzig Kilo. Geschwindigkeit konstant. Richtung konstant.«

Torbeck sah dem Funker zu, wie er die immer gleichen Wortketten in sein Mikrofon nuschelte. Schließlich stoppte er. »Keine Reaktion.« Der Funker sah sie fragend an.

Was sollte das? Ein ungutes Gefühl meldete sich.

»Acht Kontakte. Entfernung zweihundertsechzig Kilo. Geschwindigkeit konstant. Richtung konstant.«

»Versuchen Sie es weiter.«

Der Funker nickte und begann seinen Singsang erneut.

Sie wendete sich an die Radarstation. »NCIT.«

»Verstanden. Radar geht in NCIT-Betriebsmodus.«

NCIT stand für Non-cooperative target identification. Der hochauflösende Modus erlaubte es, Flugzeuge zu identifizieren, die nicht auf eine IFF- oder Funkanfrage antworteten. Das Radar arbeitete kurzzeitig mit einer Anzahl hoher Impulse, welche die Triebwerksverdichterschaufeln zum Ziel hatten. Deren Anzahl und Drehgeschwindigkeit ermöglichte es, das verwendete Triebwerk zu bestimmen, was wiederum Rückschlüsse auf den Flugzeugtyp zuließ.

»Acht Kontakte. Entfernung zweihundertfünfunddreißig Kilo. Geschwindigkeit konstant. Richtung konstant. NCIT läuft.«

Der Funker wendete sich erneut an Torbeck. »Nichts. Sie antworten nicht.«

Torbeck nickte.

»Soll ich es weiter versuchen?«, fragte der Soldat.

»Warten Sie.« Was wollten die? Im Geist ging sie verschiedene Hypothesen durch.

»Acht Kontakte. Entfernung zweihundert Kilo. Geschwindigkeit konstant. Richtung konstant.«

Ihre Gedanken hängten sich auf wie bei einer verkratzten Schallplatte. Die Zeit rannte. Sie schloss die Augen. Karl. Was würdest du tun? Als sie die Augen öffnete, bemerkte sie, dass sie von einigen Soldaten angestarrt wurde. Die hielten sie für unfähig und damit hatten sie recht. Wie lange hatte sie sich nicht gerührt?

»Acht Kontakte. Entfernung einhundertsechzig Kilo. Geschwindigkeit konstant. Richtung konstant.«

Was war logisch? Am Ende blieb nur eine vernünftige Erklärung übrig. Es handelte sich um einen Angriff. Oder machte sie sich jetzt gerade lächerlich? Tu was! Sie wendete sich an den Ersten Wachoffizier, Hauptmann Gärtner. »Gefechtsalarm.«

»Verstanden.« Der I. WO drehte sich um, gab Kommandos. Der Leitstand wurde in Rotlicht getaucht.

»Acht Kontakte. Entfernung einhundertfünfundvierzig Kilo. Geschwindigkeit konstant. Richtung konstant. NCIT ...« Der Unteroffizier am Radar stockte kurz. »Moment ... Wir haben eine Identifizierung über NCIT. Wahrscheinlich handelt es sich um zwei F-16 und sechs F-18 Super Hornet.«

Amerikaner? Ihr Bauch sagte ihr, dass es Amerikaner waren. Die F-16 und F-18 wurden von vielen Streitkräften als Jäger verwendet. Aber sie fühlte, dass es Amerikaner waren. Die Maschinen kamen aus Richtung Süd-Süd-West. Möglicherweise von einem Flugzeugträger aus dem Mittelmeer.

»Ich brauche Daten. Wie groß ist die taktische Reichweite beider Maschinentypen?«

»Moment«, sagte Gärtner. Er trat an einen der Arbeitsplätze, wies den Soldaten an. Auf dem Bildschirm erschienen Tabellen. Er drehte sich zu Torbeck um. »F-16 neunhundert Kilometer. F-18 Super Hornet eintausendeinhundert Kilometer. Bei regulärer Betankung.«

Die F-16 konnte also maximal neunhundert Kilometer bis zum Zielgebiet zurücklegen, kurzzeitig im Einsatzraum operieren und den gleichen Weg aus eigener Kraft zurückfliegen. Bei der Super Hornet waren es entsprechend mehr. Wenn sie tatsächlich vom Mittelmeer kamen, dann war die Einsatzzeit, die ihnen blieb, ziemlich begrenzt. Möglicherweise hatten sie zusätzliche Tanks an Bord. Das erhöhte die Reichweite, ging aber zulasten der Bewaffnung. Thema Bewaffnung. Was für Waffen hatten die? Weder die F-16 noch die F-18 konnten der Anlage gefährlich werden. Bei den Maschinen handelte es sich um Luftüberlegenheitsjäger. Für den Angriff auf ein Bodenziel wurden sie mit lasergelenkten Präzisionsbomben und Luft-Boden-Raketen ausgerüstet. Aber das waren für Fenris nur Knallfrösche. Torbeck verfiel ins Nachdenken. Die Zeit nicht, die raste weiter.

»Acht Kontakte. Entfernung einhundert Kilo. Geschwindigkeit konstant. Richtung konstant.«

Der Feind kommt auf dich zu, wenn er sich davon einen Vorteil erhofft. So hatte sie es gelernt. Wo lag der Vorteil? Die einzigen sinnvollen Angriffsziele für die Jäger waren die Radaranlagen. Aber zu welchem Zweck sollten sie zerstört werden? Eine weitere Minute verstrich, ohne dass sie eine Lösung fand.

»Acht Kontakte. Entfernung neunzig Kilo. Geschwindigkeit konstant. Richtung konstant.«

Der Zweck konnte nur sein, einen nachfolgenden Angriff zu ermöglichen. Einen Angriff, bei dem man das Flugsicherungsradar nicht fürchten wollte. Sie...

»Achtung, Achtung. Neunter Kontakt. Achtung, weiterer Kontakt. Hundertfünf Kilo. Aus Richtung Südost. In Richtung Zer... . Kontakt negativ. Haben Kontakt verloren.«

»Was war das?« Torbeck schreckte aus ihren Gedanken auf.

»Wir hatten kurz einen... Da ist er wieder. Kontakt. Einhundert Kilo. Negativ. Kontakt verloren.«

Dann verstand sie es. Die acht Jäger waren Bauernopfer, die Verwirrung stiften sollten. Aber sie würde das Gambit ablehnen.

»Schalten Sie den Flugsicherungsradar aus.«

»Was?«

»Ausschalten. Sofort!«

»Verstanden. Fahre Anlage herunter.«

Sie wendete sich an den Funker. »Rufen Sie auf allen Frequenzen. Inhalt: Wir sind keine Bedrohung. Wir ergeben uns.«

Der Soldat machte große Augen.

»Tun Sie es«, bellte Torbeck.

Vorgetäuschte Unordnung erfordert perfekte Disziplin; vorgetäuschte Furcht erfordert Mut; vorgetäuschte Schwäche erfordert Stärke. So hatte man es schon vor Jahrtausenden geschrieben. In den Cockpits der Kampfmaschinen würde die Radarwarnung aufhören zu blinken. Das fesselte mentale Kapazitäten. Die Piloten mussten sich mit Fragen beschäftigen: Was bedeutete das? Wie sollten sie darauf reagieren? Der Funkspruch würde weitere Verwirrung stiften. Wer abgelenkt war, hatte es schwerer, vernünftige Entscheidungen zu treffen.

»Waffenleitstand!«

»Ja.«

»Feuerbereitschaft für alle Patriot-Raketen herstellen. IFF-Kennung deaktivieren. Aufschaltung nach dem Start.« Mit aktivierter IFF-Kennung würden sich die Luftabwehrraketen weigern, eine NATO-Maschine anzugreifen. Bei der Aufschaltung nach dem Start, starten die Raketen ohne Zielführung, steuerten ihre Ziele mit dem eigenen Infrarotsystem an, bis sie vom wieder eingeschalteten Radar geleitet wurden. Die aufsteigenden Patriots würden für viel Hektik am Himmel sorgen. Ihren wahren Trumpf würde sie zuletzt ausspielen.

»Aktivierung EMRG.«

»Bestätige. EMRG wird geladen.«

»Legen Sie einen Countdown auf den Hauptschirm. Zwei Minuten.« Radaranlagen schaltete man mit Anti-Radarwaffen aus. Die HARM-Raketen nutzten die Signale des feindlichen Radars als Zielführungsleitstrahl. Mit ausgeschaltetem Radar ging das nicht. Wenn die Jäger die Radaranlagen treffen wollten, mussten sie jetzt näher herankommen. Viel näher. Die eigentliche Bedrohung für Fenris kam von dem kurzzeitig aufblitzenden neunten Kontakt. Das war die Kavallerie. Höchstwahrscheinlich ein B-2-Tarnkappenbomber. Stealth Bomber waren nicht unsichtbar für Radaranlagen, sie verringerten aber deren Reichweite um bis zu siebzig Prozent.

Der Angriff war nervös vorgetragen. Die Jäger hatten zu wenig Vorsprung vor dem Tarnkappenbomber. Das Ziel der Attacke war sicher gewesen, mit den Jägern Unruhe zu stiften, während die B-2 aus dem Nichts auftauchte. Wenn sich dir der Zufall im Laufe einer Schlacht gewogen zeigt, staune nicht und wundere dich nicht, ergreife die Gelegenheit mit beiden Händen.

Die B-2 war eines der wenigen Kampfflugzeuge auf der Welt, das eine für Fenris gefährliche Waffe transportieren konnte. Bei der BN-62 Deep Impact handelte es sich um eine zwanzig Tonnen schwere, bunkerbrechende taktische Nuklearwaffe mit fünfhundert Kilotonnen Sprengkraft. Eine Gleit- und Sturzwaffe. Sie musste nah am Ziel abgeworfen werden. Nach der Gleitphase wurde sie mit Hilfe von Fallschirmen und dem beweglichen Leitsystem ausgerichtet. Die Zielerkennung erfolgte über ein SAR-Bodenradarsystem. Dann begann der freie Fall. Die Bombe würde sich bis zu dreißig Meter in den Stein fressen, zünden und den gesamten Berg in handliche Kieselsteine zerlegen. Bei gemeinsamen Grillabenden hatte ihr Wiegner immer gerne solche Dinge erklärt. Aus Höflichkeit hatte sie zugehört. Sie hätte nie gedacht, dass das mal wichtig werden könnte.

Die wollten sie töten und wenn sie starb, starb Katta. Die wollten ihr Kind töten. Niemand vergriff sich an ihrer Tochter.

»EMRG auf achtzig Prozent. Einsatzbereit in dreißig Sekunden.«

Torbeck starrte auf den Hauptschirm, sah zu, wie die Digitalanzeige langsam herunterzählte.

Eine Minute und fünfzehn Sekunden.

Ohne Radar waren sie so blind wie ein Maulwurf mit verbundenen Augen. Man sah nichts, man hörte nichts, aber man wusste, dass das Unheil mit mehr als eintausend Stundenkilometern auf einen zuraste. Ihr Herz schlug schwer gegen ihre Rippen. Sie hatte Mühe ihre Stimme zu kontrollieren. »Bei Ablauf des Countdowns werden alle Patriot-Raketen gestartet. Auf mein Kommando Aktivierung des Flugsicherungsradars.« Torbeck wendete sich an die Waffenkontrolle. »Sie bekämpfen die Ziele mit den EMRG. Es wird ein oder zwei neue Radarkontakte geben, die sich in der Signatur von den F-16 und F-18 unterscheiden. Der größere Kontakt ist ein B-2-Bomber. Vielleicht gibt es noch einen kleineren Kontakt in unmittelbarer Nähe des Bombers. Das ist ein Waffensystem. Das Waffensystem hat Priorität Eins. Der Bomber hat Priorität Zwei. Danach Feuer nach eigenem Ermessen.«

Der Chef der Waffenkontrolle, ein Hauptfeldwebel mit einem aufwendigen Kaiser Wilhelm-Bart trug Zweifel in seinen Augen.

»Vertrauen Sie mir.«

Er nickte.

Fünfundvierzig Sekunden.

Was, wenn sie die Zeit falsch berechnet hatte? Was, wenn die Jäger beschleunigt hatten? Sie hatte noch nie gekämpft. Konnte sie einen solche Schlacht überhaupt gewinnen? Hatte sie die richtigen Schlüsse gezogen?

Dreißig Sekunden.

Warum nahmen die Amerikaner keine Interkontinentalrakete? Die Antwort konnte sie sich selber geben. Weil es keinen Sinn machte. Der Bunker würde unter dem nuklearen Sturm hindurchtauchen wie ein U-Boot unter einem Orkan. Warum griffen die sie überhaupt an? Was sollte das? Wie ging es Katta?

Zehn Sekunden.

Sie musste sich konzentrieren. Ob Karl das Gleiche getan hätte?

Fünf Sekunden. Vier, drei, zwei, eins.