2. Fenris

Aila Torbeck

 

Generalmajor Aila Torbeck stand im Wohnzimmer und sah durch die Terrassentür in ihren Garten. Es sah aus wie in einem Jungle. Die Wildrosen griffen um sich, dass man ihnen ohne Machete besser nicht zu nahe kam. Während ihrer Kindheit hätte es das nicht gegeben. Das Rechteck des elterlichen Grundstückes war eine Zone gewesen, in dem die Natur nichts zu sagen hatte. Wuchs angrenzend die Pflanzenwelt, wie es ihr in den Sinn kam, so knipste ihre Mutter jeden Trieb gnadenlos ab, der dumm genug war seine Nase durch den Maschendrahtzaun zu stecken. Nein, ihre Mutter hätte ein solches Treiben niemals toleriert. Torbeck lächelte. Ihr gefiel es. Vor allem gefiel es ihr, dass sie selten im Garten arbeiten musste. Vor einem Jahr hatte sie das Häuschen am Dorfrand zusammen mit ihrer Tochter bezogen. Sie lebten nun mitten im Schwarzwald. Torbeck ging in die Küche, brühte sich einen Tee auf und schaltete den Fernseher ein. Mit beiden Händen umfasste sie den Becher und lehnte sich an die Küchenzeile. Gedankenverloren blies sie über den dampfenden Becherrand, während ihr Blick auf dem kleinen Gerät haftete.

In einer Talkshow stritten sich mehrere Experten, von denen sie keinen kannte. Gerade sprach ein als Intellektueller verkleideter Mann. Um seine Schultern hatte er einen roten Schal drapiert, auf seinem Kopf klebte eine Baskenmütze. »Vergessen wir der Diskussion zuliebe, einmal, dass biologische Waffen auf der ganzen Welt geächtet sind. Nach Artikel 87a des Grundgesetzes stellt der Bund die Streitkräfte zur Verteidigung auf. Dort ist explizit von Verteidigung die Rede. Und damit kommen wir zum Kern. Biologische Waffen sind eindeutig Angriffswaffen. Sie zielen vor allem auf die Zivilbevölkerung ab. Eine Armee, deren einziger Auftrag die Landesverteidigung ist, darf solche Waffen nicht besitzen. Es gibt keinen triftigen Grund, warum Deutschland da... .« Der Redner wurde von einem Mann im Anzug unterbrochen, der wirkte, als sei er von der Regierung gesponsort. »Offensichtlich sind Sie Verfassungsrechtler. Aber das ist nicht der Punkt. Die Frage lautet: Woher wissen wir, dass in der Bunkeranlage Fenris an biologischen Waffen geforscht werden soll? Woher nehmen wir diese Kenntnis?«

Die Baskenmütze setzte sich gerade auf, wurde lauter. »Das liegt auf der Hand. Eine Anlage für die biologische Hochrisikoforschung, die unter militärischer Leitung steht. Ich bitte Sie. Und dann diese Geheimhaltung. Wir müssen uns das mal vorstellen. Das Projekt Fenris wurde seit mehr als sechs Jahren vorangetrieben, ohne dass die Öffentlichkeit davon wusste.«

»Was durchaus Sinn einer Geheimhaltung ist«, warf der Anzugträger ein.

»Ihren Sarkasmus können Sie sich sparen. Wissen Sie, was der Name Fenris bedeutet?«

»Sie werden es mir verraten.«

»Fenris ist der Götterwolf aus der nordischen Mythologie. Sohn des Gottes Loki. Er war ein Spielgeselle der Götter in Asgard. Fenris war gutmütig, wuchs aber beständig und wurde täglich stärker. Die Götter bekamen Angst, dass seine Kraft eines Tages ihre eigene übersteigen könnte. Dann wären sie seinem Willen ausgeliefert. Sie begannen, den Wolf zu fürchten. Aus dieser Angst heraus beschlossen sie, Fenris mit einem magischen Faden zu fesseln, der ihn bis zum Ende der Zeit binden sollte.« Er holte Luft. »Ich weiß nicht, was mir mehr Angst macht. Die offensichtliche Spielerei mit völkischer Symbolik oder die Frage, was geschieht, wenn die Fesseln reißen.«

»Verschonen Sie mich mit ihren Schauermärchen. Sie reden hier von gruseligen Wölfen. Wir sind doch nicht bei den Gebrüdern Grimm.«

Der Moderator unterbrach die beiden Herren und bemühte einen anderen Gast. »Ich möchte an diesem Punkt Herrn Professor Derman eine Frage stellen. Wie konnte es gelingen, eine solch gigantische Anlage vor den Augen der Bevölkerung zu verbergen? Wir haben die politische Opposition. Wir haben die Medien. Wir haben Hunderte oder Tausende von Projektbeteiligten. Auch die besten Sicherheitsmaßnahmen können sicher nicht verhindern, dass von denen jemand reden will. Wie geht das?«

Der für sein Amt auffallend junge Professor lächelte. »Das ist in der Tat eine Meisterleistung. Eines der Stichworte lautet Projektteilung. Die eine Hand weiß nicht, was die andere tut. Sehr wichtig ist dabei das Outsourcing. Durch Outsourcing können Firmen bestimmte Produktionsprozesse auslagern, um ihre Produktivität zu steigern. Das versetzt sie in die Lage, sich auf ihr Kerngeschäft zu konzentrieren oder die Prozesskomplexität zu reduzieren. In unserem Fall kann diese Unternehmensstrategie auch genutzt werden, um zu verhindern, dass einzelne Projektteilnehmer überhaupt begreifen, woran sie arbeiten. Ein anderer wichtiger Punkt ist die Frage, wie viel Aufwand ich betreiben kann, um etwas zu verbergen. Im Fall Fenris wurde ein gigantischer Aufwand betrieben, der über die gewöhnliche Geheimhaltung weit hinausgeht. Die riesige Baustelle im Schwarzwald, zum Beispiel, wurde mit dem Bau eines Neutrinodetektors erklärt. Dafür gründete man eigens eine Unterabteilung im Deutschen Institut für ...« Torbeck hörte das kurze Hupen eines Autos. Durch das Fenster sah sie, wie der Wagen von Oberst Karl Wiegner vor ihrem Grundstück hielt. Sie schaltete den Fernseher aus, stellte den Becher auf den Küchentisch und strich sich ihren Hosenanzug glatt. Es klingelte. Sie ging zur Tür und öffnete.

»Aila. Für sechsundfünfzig Jahre siehst du verdammt gut aus«, sagte Wiegner zur Begrüßung.

»Einundfünfzig, immer noch einundfünfzig. Wenn alle Männer so charmant wären wie du, dann hätte ich niemals eine Tochter bekommen.« Sie grinste und umarmte ihren Stellvertreter.

»Dann wäre niemand von uns da und die Welt sicher ein besserer Ort«, stellte er fest.

Torbeck federte von ihm zurück. »Du bist ja klitschnass. Warst du schwimmen?«

»Gott hat den Ofen angemacht. Der ganze blöde Märchenwald verwandelt sich bald in Holzkohle. Dabei haben wir Mitte Mai, verdammt.«

»Komm rein.« Gemeinsam gingen sie in die Küche. Torbeck nahm einen Schluck von ihrem Tee und fragte Wiegner, ob sie ihm einen aufgießen sollte. Der schüttelte den Kopf. »Wie kannst du bei der Hitze Tee trinken?«

Sie zuckte mit den Achseln.

»Nervös?« Wiegner setzte ein gezwungenes Lächeln auf.

»Wie vor einem Abschlussball.«

»Standest du schon mal vor einem Untersuchungsausschuss?«

Sie lachte. »Bist du verrückt?«

»Die nehmen uns auseinander, Aila. Das ist dir klar?«

Sie nickte und sah auf den Boden.

»Hast du gestern die Nachrichten gesehen?«, fragte Wiegner.

»Du meinst die Demonstration in Berlin?« Sie kannte die Bilder. Wasserwerfer, brennende Autos und eine Menge zerschlagener Knochen.

»Das waren die bisher schwersten Ausschreitungen. Und das war erst der Anfang. Das geht jetzt richtig los. Das Ausland ist auch schwer begeistert. Die haben alle die Zielcomputer ihrer Interkontinentalraketen umprogrammiert.«

Vor genau zwei Wochen war das Projekt Fenris aufgeflogen. Warum konnte niemand sagen. Fest stand hingegen, dass die Republik seit dem auf dem Kopf stand. Im Fernsehen war das Thema ein Dauerbrenner. Jeden Tag wurden mehr Details enthüllt, die aber, das wusste Torbeck aus erster Hand, alle nicht stimmten. Am schockiertesten reagierten die Verbündeten. Allen voran die Amerikaner. Die zeigten sich regelrecht beleidigt, dass es Deutschland tatsächlich geschafft hatte, ein solch gigantisches Projekt vor ihnen zu verbergen.

»Karl.« Sie sah ihn an und lächelte. »Wir wussten, wo uns das hinführt.«

»Ja.«

»Ich hatte nie ein operatives Kommando. Du weißt, dass ich in meiner Karriere die Verwaltungsebene niemals verlassen habe. Und von einem Tag auf den anderen bietet man mir die Leitung einer strenggeheimen Multimilliarden-Euro-Anlage an. Es war mir klar, dass ich nur eine Strohpuppe bin. Jemand, dessen Kopf man ohne Bedauern opfern kann, wenn die Zeit reif ist.«

»Warum hast du den Job dann angenommen?« Wiegners Stimme klang gereizt. Er zog sich einen Küchenstuhl zurecht und setzte sich. Torbeck blieb stehen. »Im Ernst. Warum hast du dir das angetan?«

»Aus demselben Grund wie du. Ich wollte eine Aufgabe. Mögliche Konsequenzen waren mir egal.« Sie hatte die Ernennung zur Leiterin von Fenris angenommen, obwohl sie gewusst hatte, wie die Geschichte ausgehen würde. In ihrer Karriere war sie das Opfer ihres Geschlechts geworden. Die Kräfte der naiven Frauenförderung und des männlichen Abgrenzungswahns hatten sich an ihr ausgetobt. Am Ende flog sie die Beförderungsleiter förmlich hinauf. Gleichzeitig sank sie mit jedem Dienstrang weiter in die Bedeutungslosigkeit ab. Am Ende ernannte die Führung sie zum Inspektor der Wehr- und Bunkeranlagen des Bundes im Rang eines Generalmajors. Zu Zeiten der Napoleonischen Kriege wäre das sicher ein mächtiges Amt gewesen. Aber heute? Ein Witz. Nach oben wegbefördern nannte man das. Als man ihr die Leitung von Fenris anbot, wollte sie den Job. Egal, zu welchem Preis.

»Ich habe es nie verstanden«, sagte Wiegner.

»Was hast du nicht verstanden?«

»Warum sie uns die Anlage führen lassen, obwohl sie uns eigentlich gar nicht haben wollen.«

Er erinnerte sie an ihre Tochter. Als Katta in die Grundschule ging, hatte sie ihr auch immer wieder die gleichen Dinge erklären müssen, bis es beiden zu den Ohren herauskam. Allerdings lag es in seinem Fall wohl daran, dass er es nicht verstehen wollte. »Es ist ganz einfach. Die brauchen einige Strohmänner und in meinem Fall eine Strohfrau. Zu diesem Kabinett von Einwegführungskräften gehört zum Beispiel Staatssekretär Hasborn. Du bist auch dabei. Jetzt, wo die Bombe geplatzt ist, werfen sie uns der Meute vor. Wir sind ein Ablenkungsopfer. Man wird geloben, dass nach unserer Liquidation alles besser wird. Außerdem wird man natürlich ab sofort völlige Transparenz gewährleisten. Damit gewinnt man Zeit. Zeit ist ein wertvolles Gut.«

Der Oberst nickte. »Ich weiß, ich weiß. Blöde Frage. Ich kann nur nicht verstehen, wie wir so naiv sein konnten. Meinst du, dass ich auch geladen werde?«

»Ich nehme es an.« Torbeck stellte den Becher in die Spüle.

Fenris war in einem ehemaligen Felsenbunker errichtet worden. Eine in den achtziger Jahren gebaute Bunkeranlage, die der NATO als Static War Headquarter gedient hatte. Standort war ein eintausend Meter hoher Berg in der Nähe der Teufelsmühle. Irgendwo im Nirgendwo, vierzig Kilometer südwestlich von Karlsruhe. Als sie vor vier Jahren das Amt übernommen hatte, erklärte man ihr, dass sie den Zweck der Anlage aus Sicherheitsgründen erst bei der Fertigstellung erfahren würde. Aber nicht alles ließ sich verbergen. Dass in dem Berg eine gewaltige Forschungseinrichtung installiert wurde, wussten sie. Auch wenn sie zunächst keine Ahnung hatten, wozu sie dienen sollte. Dann wurde ihnen Professor Danielsen als Leiter der Forschungsabteilung vorgestellt. Dessen Namen konnte man googeln. Der Däne war eine Kapazität auf dem Gebiet der Genforschung und zu seiner Zeit einer der Hauptakteure des Genom-Projekts, der Entschlüsselung der menschlichen DNA. Nebenbei galt er als bedeutender Virologe. Diese Erkenntnis führte dazu, dass Torbeck begann sich Sorgen zu machen. Sie befürchtete, in ein unethisches Projekt verwickelt zu sein. Hatte sie sich zu sehr instrumentalisieren lassen? »Denkst du, dass sie an Biowaffen forschen wollen?« Fragte Torbeck. Wiegner schien sie nicht gehört zu haben. »Karl?«

»Was?«

»Forschen sie an Biowaffen?«

Wiegner lachte auf. »Aila. Du kennst meine Meinung. Wozu sollten sie das tun? Um Luxemburg zu entvölkern? Davon abgesehen könnte man das einfacher haben, da braucht man keine Bergfestung. Ich glaube nicht an Waffenforschung oder an ein Viertes Reich.«

»Was dann? Was wollen die dort machen?«

»Das, meine Liebe, ist geheim. Wir unterhalten uns nicht zum ersten Mal darüber.«

»Ja, aber wirklich hinterfragt haben wir es nie.«

»Wir haben geglaubt, dass sie es uns irgendwann verraten. Schließlich leiten wir die Anlage. Zumindest theoretisch. Ich meine, irgendjemand muss es doch wissen. Aber es war mir auch egal. Ich war beschäftigt. Das reichte mir. Weißt du, dass ich seit fast zwei Jahren nicht mehr trinke?«

»Letzte Woche, als du zu Besuch warst, hast du getrunken.«

»Zwei Bier zum Feierabend. Ich meine richtiges Trinken. Sich sinnlos zuschütten.«

Mit Alkohol hatte sie nie Probleme gehabt. Im Gegensatz zu Karl. Dessen übermäßigen Alkoholkonsum in der Vergangenheit hatte sie völlig verdrängt. Jetzt wo sie darüber nachdachte, erinnerte sie sich nicht, wann er das letzte Mal über die Stränge geschlagen hatte. Torbeck verstand, was Karl meinte. Es war eine spannende Zeit gewesen. Sie hatten plötzlich eine bedeutungsvolle Aufgabe und wurden im beruflichen Umfeld wahrgenommen. Ihr fiel ihre erste Besprechung im Planungsstab des Projektes Fenris ein. Die hatte nicht in einem Bunker unter dem Kanzleramt stattgefunden, sondern in einem gemieteten Saal in Bad Lauterbach im Harz. Man handelte getreu dem Motto: Mache es langweilig, dann interessiert es keinen. So wurde Torbeck zur Legendenbildung als Direktorin im Dienste des Agrarministeriums geführt. So stand es noch heute auf ihren Visitenkarten. Zum Denken blieb damals kaum Zeit. Sie waren zu sehr damit beschäftigt gewesen, Arbeitsgruppen zu leiten und die Geheimhaltung zu wahren. Es wurde wie zu Großvaters Zeiten gearbeitet. Die Rechner, auf denen das Projekt geplant wurde, waren nicht an das Internet angeschlossen. Der Informationsaustausch geschah in weiten Teilen mit Kurieren, die Datenträger durch das Land beförderten. Ein kolossaler Aufwand. Aber abhörsicher.

»Wann musst du in Berlin sein?«, fragte Wiegner.

»Ich fahre gleich nach Stuttgart. Um 16:00 Uhr geht mein Flieger, um 21:00 Uhr beginnt die Anhörung. Dann muss ich im Bundestag sein.«

»So spät?«

»Wird eine Nachtschicht.«

»Was ist mit deiner Tochter?«

»Katta besucht eine Freundin in Frankfurt. Sie will sich am Montag die Uni anschauen.«

»Tja, jetzt ist es wohl zu Ende.« Er war mit den Gedanken bereits wieder woanders.

»Sieht so aus. War aber nur eine Frage der Zeit. Was macht Professor Danielsen?«

»Dasselbe wie immer. Er versteckt sich im Berg. Der Mann ist ein verdammter Zwerg.«

»Mich erinnert er mehr an den Weihnachtsmann.« Sein runder Bauch, die weißen Haare, der lange Bart. Torbeck stellte ihn sich gerne mit einem Sack auf dem Rücken vor, wie er versuchte, durch den Schornstein zu rutschen.

»Muss er nicht vor dem Ausschuss aussagen?«

Torbeck zuckte mit den Achseln. »Ich glaube nicht.«

»Warum?«

»Vielleicht, weil er kein Strohmann ist. Kapazitäten sind nicht ohne Weiteres auszutauschen. Da muss man sich überlegen, wen man verbrennt.«

»Verstehe.«

»Wie sieht es im Bunker aus? Haben wir Probleme?«

»Spielt das eine Rolle?«

»Noch bin ich verantwortlich.«

Wiegner atmete aus. »Es gab mal wieder Schwierigkeiten mit dem Geothermalkraftwerk. Sind behoben.«

Der Bunkerkomplex lag in der sogenannten oberrheinischen Tiefebene, einem weit in die Erdkruste reichenden Grabenbruch. Das durch Vulkanismus erhitzte Tiefenwasser wurde angezapft und diente als Wärmequelle für das Geothermalkraftwerk. Die praktische Umsetzung des Kraftwerkes hatte für erhebliche Probleme gesorgt und machte den Ingenieuren immer noch zu schaffen.

Wiegner machte ein nachdenkliches Gesicht. »Ansonsten ist alles in Ordnung. Heute um Mitternacht testen wir zum hundertsten Male die biologische Versiegelung. Aber das wird nicht besonders spannend.«

Torbeck sah auf ihre Armbanduhr. »Ich muss los. Tut mir leid, Karl, den Flug sollte ich nicht verpassen.«

Wiegner stand auf und bewegte sich in Richtung Flur. »Du sagst, dass Katta sich eine Uni anschaut.« Hatte er doch zugehört. »Zieht sie dann bald aus?«

Torbeck seufzte. »Sie ist zwanzig Jahre alt. Darauf wird es hinauslaufen.«

»Ihr gefällt es hier nicht. Oder täusche ich mich da?«

»Nein, du hast recht. Aber das kann ich ihr nicht verdenken. Mitten im Schwarzwald in einem Dorf mit tausend Einwohnern. Das ist kein Leben für junge Leute. Wir haben vorher in Stuttgart gewohnt. Da war es etwas lebhafter.«

Torbeck hatte als Kommandantin Residenzpflicht. Sie wohnte zwölf Kilometer von der Anlage entfernt. Ihr Haus war offiziell Teil des Dorfes Winterburg. Allerdings lag es ziemlich abseits. Die Häuser der nächsten Nachbarn lagen zweihundert Meter weit entfernt. Katta konnte sich damit nicht anfreunden. Das war kaum verwunderlich. Sie wollte etwas erleben. Ihren eigenen Weg gehen. Torbeck unterstützte sie dabei. Wenn auch mit Wehmut. Vielleicht war das einzig Gute an ihrer baldigen Entlassung, dass sie ihr folgen konnte. Zumindest wollte sie in ihrer Nähe wohnen. Ihre Scheidung lag fünf Jahre zurück. Ihr Ex-Mann lebte mittlerweile in Chile. Was immer er da wollte. Er hatte jeden Kontakt abgebrochen. Aber nicht nur zu ihr, sondern auch zu Katta. Das nahm sie ihm mehr als übel. Möglicherweise war das der Grund, warum sie zu sehr an ihrer Tochter hing. Sie hatte das Gefühl Mutter und Vater zugleich sein zu müssen.

»Lass uns eine Wohngemeinschaft gründen. Aila, was denkst du? Arbeitslos sind wir eh bald. Wir könnten die ganze Nacht PlayStation spielen.«

Torbeck lachte. »Ja, vielleicht.«

Wiegner winkte ihr zum Abschied. Sie sah ihm zu, wie er in seinen Wagen einstieg. Sie hatte sich für ihn als Stellvertreter entschieden. Das war eine gute Wahl gewesen. Auch wenn ihr erstes Treffen das nicht hätte vermuten lassen.

Damals, eine Woche nachdem man ihr die Leitung von Fenris übertragen hatte, klopfte er an ihre Bürotür und stellte sich als Kandidat für den Stellvertreterposten vor. Er kam als Letzter von drei Bewerbern. Wobei das Wort Bewerber nicht passend erschien. General Träger hatte ihr einfach drei Personalmappen auf den Tisch gelegt. Es machte nicht den Anschein, als ob die drei sich aus freien Stücken für den Job gemeldet hätten. Eine Bestenauslese sah anders aus. Die ersten beiden waren, Torbeck musste sie so nennen, ziemliche Speichellecker gewesen. Blieb am Ende noch Oberst Karl Wiegner. Der war das genaue Gegenteil.

Bei der kämpfenden Truppe hatte er sich den Spitznamen Max erworben. Nach dem deutschen Boxer Max Schmeling. Breites Kreuz, die Nase nach einem Unfall gebrochen und eingedrückt. Er trug den Kopf leicht nach vorne gesenkt. Wie ein latent aggressiver Hirschbock. Jederzeit gewillt irgendetwas über den Haufen zu rennen. Das war nicht die Art von Männern, die sie schätzte. Weder als Partner noch als Kollege. Nachdem er sich gesetzt hatte, stieg Torbeck ohne Vorbereitung in das Gespräch ein. »Ich für meinen Teil bin eine Frau. Was haben Sie verbrochen?«

Wiegner grinste. »Ich für meinen Teil bin ein Idiot. Sie entscheiden, was schlimmer ist.«

Warum Wiegner sich für einen Idioten hielt, erklärte er so: Bis vor Kurzem war er Angehöriger einer militärischen UN-Mission in der Zentralafrikanischen Republik gewesen. Die Zentralafrikanische Republik war ein Land, das bei doppelter Größe Deutschlands nicht mehr als fünf Millionen Einwohner besaß. Das ausgegebene Ziel der Mission bestand darin, die sogenannte Regierung vor den sogenannten Rebellen zu schützen. Vielleicht auch umgekehrt. Als es zu einem Gefecht kam, verließen die verbündeten Verbände der Forces Armées Centrafricaines ungeordnet ihre Aufstellungsbereiche.

»Die machten sich aus dem Staub.« Unter Torbecks erstauntem Blick goss Wiegner eine klare Flüssigkeit aus einem Flachmann in seinen Kaffeebecher. »Grundsätzlich egal, aber leider stand eine Kompanie belgischer Infanteristen unter meinem Kommando, die von mir zuvor den Befehl bekommen hatte, ihre Stellung zu halten. Das taten sie. Sie wussten nicht, dass ihre Flanken nicht mehr besetzt waren. Ich wusste das ebenfalls nicht, wurde allerdings auch nicht zusammengeschossen. Bis es mir gelang die Belgier aus dem Kessel zu holen, verloren sie acht Männer. Von den Verletzten will ich nicht reden.« Er nahm einen kräftigen Schluck. »Haben Sie mal versucht, innerhalb einer UN-Mission militärische Hilfe anzufordern?« Torbeck schüttelte den Kopf. Wiegner grunzte. »Ich habe einen italienischen Major angefunkt. Verlangte nach Kampfhubschraubern, um die Belgier aus dem Schlamassel zu holen.« Er lachte. »Der erklärte mir, dass ich einen formellen Antrag auf dem Dienstweg stellen müsse. Da bin ich das erste Mal explodiert. Ich sagte ihm: Du blöder Pizzabote sollst in der Hölle schmoren. Das half nicht.« Er goss den Rest des Flachmanns in den leeren Kaffeebecher. »Wissen Sie, warum italienische U-Boote einen Rückwärtsgang haben?«

»Keine Ahnung.«

»Der Feind könnte von vorne kommen.« Wiegner lachte trocken und erzählte weiter. »Am Ende kamen die Amerikaner. Ich kann die Amis nicht leiden. Aber man muss ihnen lassen, dass sie kommen, wenn man sie ruft. Die wollten nur wissen, was ich bräuchte. Kampfhubschrauber, viele und schnell. Das reichte. Die haben mächtig aufgeräumt.«

»Das brach Ihnen das Genick?«

»Nein. Ich auf die Afrikaner geschimpft. Ich sagte: Die blöden Affen sind gerannt wie die Hasen. Mit denen gewinnt man nicht mal eine Kirmesschlägerei.«

Torbeck hielt sich die Hand vor den Mund. »Das haben Sie gesagt?«

»Ja, das habe ich«, seufzte der Oberst. »In einem aufgezeichneten Funkspruch.« Torbeck schüttelte den Kopf. »Alles, was ich gesagt habe, war die Wahrheit.« Er grunzte. »Das Wort Affe im Zusammenhang mit Schwarzafrikanern hat mich ins Aus geschossen.« Wut blitzte in seinen Augen. »Die blöden Italiener habe ich ebenfalls eine Affenbande geschimpft. Hat keinen interessiert.« Wiegner hob den Becher und trank ihn in einem Zug leer.

»Sind Sie ein Säufer?«

Die Frage traf Wiegner mit heruntergelassener Deckung. Er blinzelte kurz, fing sich aber rasch wieder. »Sie gehen aber ran.« Er dachte kurz nach. »Ich bin nicht weit davon entfernt. Das Leben ist manchmal leichter zu ertragen, wenn man trinkt. Das ist mein schwacher Punkt. Ich besitze auch Stärken. Ich gehöre zur alten Garde. Wenn ich Ihnen die Treue schwöre, meine ich das so. Aber wen interessiert das heute noch? Die haben mich fertiggemacht. Und dann werde ich aus heiterem Himmel angerufen und gefragt, ob ich mich dieser Auswahl stellen möchte. Ist das nicht seltsam? Klar, habe ich denen gesagt. Mach ich gerne. Gedacht habe ich: Leckt mich am Arsch. Ist doch alles Scheiße.«

 

Es war ein skurriler Auftritt gewesen. Eigentlich eine Unverschämtheit. Sie hätte ihn hochkant aus dem Büro schmeißen sollen. Darüber hinaus verkörperte er eine Art von Offizier, die es so in der Bundeswehr nicht mehr geben durfte. Sie stellte sich Wiegner vor, wie er angetrunken mit gezücktem Säbel anno 1870 gegen die Franzosen ritt. Der Mann war mit seiner Berufsauffassung aus der Zeit gefallen.

Aber seine Art hatte sie eingenommen. Sie stand nicht auf Machotypen, doch Wiegner vermittelte ihr das Gefühl, dass man sich auf ihn verlassen konnte. Kein unwesentlicher Punkt. Außerdem empfand sie die anderen beiden Herren, die sich ihr vorgestellt hatten, als unerträglich. Es blieb ihr die Entscheidung zwischen Weicheiern und diesem durchgedrehten Ritterkreuzträger. Was für eine Auswahl an Bewerbern. Alle Alarmglocken hätten klingeln müssen. Am Ende überraschte sie sich selbst ein wenig, als sie General Träger ihre Wahl bekannt gab und Wiegners Namen nannte. Ihr Vorgesetzter hatte die Nase gerümpft. »Ihre Entscheidung«, hatte er gesagt. Bereut hatte sie es nie.

 

Nachdem sie Wiegners Wagen bis zur Straßenecke nachgeschaut hatte, ging Torbeck zurück ins Haus, nahm sich ihre Handtasche und kontrollierte den Inhalt. Beinahe hätte sie das Satellitentelefon vergessen. Das war einer der Nachteile an ihrem Job. Sie war gezwungen, zwei Telefone mit sich herumzuschleppen. Zu dem privaten Handy noch das dienstliche Satellitentelefon. Sie musste jederzeit erreichbar sein.

Als sie das Haus verließ, wurde sie melancholisch. Sie hatte das Gefühl, sie würde es nie wiedersehen. Torbeck zog die Tür ins Schloss und stieg in ihren Wagen. Die Hitze war unglaublich. Sie drehte die Klimaanlage hoch und startete den Motor. Na dann, auf nach Berlin. Die Guillotine wartete.